Die kurdische Karte verliert ihre traditionelle Wirkung

Die Zeit ist reif für die kurdische Nationalkonferenz

Nilüfer Koç

Eine bessere Gegenwart ist immer abhängig von den Lektionen, die aus der Vergangenheit gelernt wurden. Geschichte ist daher kein totes Gebilde, sondern widerspiegelt sich lebendig auf die verschiedenste Art in der Gegenwart. So gesehen ist es für uns Kurden wichtig, aus unserer Vergangenheit zu lernen, und dies tagtäglich. Unsere Geschichte in uns selbst zu finden und zu begreifen ist die Grundlage, um heutige gesellschaftliche wie politische Prozesse besser zu verstehen. Eine Äußerung des Vorsitzenden der Gemeinschaft der Gesellschaften Kurdistans (KCK), Abdullah Öcalan, von 1986, als Motto über dem Eingangstor der ehemaligen Mahsum-Korkmaz-Akademie: „Hier wird in der Gegenwart die Geschichte, in der Person die Gesellschaft analysiert“, bringt es auf den Punkt. Diese wissenschaftliche Methodik, in erster Linie ein grundlegender Maßstab der Selbstanalyse für die politisch Engagierten, drang bis in die Gesellschaft vor. Die Geschichte in sich selbst zu finden und in dem Moment dieser Analyse die Geschichte zu erfassen, das war und ist immer noch von Bedeutung. Ansonsten wären die durch die Kolonialisierung entwickelten Schwächen überaus schwer zu verstehen. Andererseits war und ist es wichtig, sich auch jenseits der meist von Nichtkurden aufgegriffenen kurdischen Geschichte zu sehen. Trotz der systematischen Assimilationspolitik der Kolonialisten Kurdistans, die alles Kurdische als minderwertig und rückständig betrachteten, haben die Kurden auch ihre – meist versteckten – starken Seiten erfahren, die die Kolonialis­ten nicht erkannt hatten. Öcalans geschichtsanalytische Methodik half daher, in sich einerseits den Assimilierten, aber auch die Spuren der vergessenen kurdischen Widerstandsgeschichte zu sehen.

Ein historischer Dienst Öcalans für die Kurden sind in diesem Zusammenhang seine Schriften, die er auf der Gefängnisinsel Imralı unter unmenschlichen Isolationshaftbedingungen gefertigt hat. Tausende Jahre kurdischer Geschichte hat er mit ihren gegenwärtigen Spuren aufgegriffen. Für kaum ein anderes Volk ist es daher so lebenswichtig, die eigene Geschichte mit kurdischen Augen zu erlernen. Heute gehen ihr hunderte Werke kurdischer Intellektueller nach. Eine der grundlegendsten Fragen, auf die eine Antwort gesucht wird, dreht sich um die Teilung Kurdistans durch die Kolonialisten und die dadurch verursachte gesellschaftliche Zersplitterung. Also die Frage der kurdischen Einheit. Sie ist wesentlich bei der Ursachenforschung nach den wenigen Erfolgen in den 28 kurdischen Aufständen, obwohl heldenhaft Widerstand gegen die Unterdrückung geleistet wurde. Diese Aufstände waren meis­tens lokal begrenzt, Solidarität und gegenseitige Verantwortung rar. Auch der mangelnde Informationsfluss aufgrund nicht vorhandener Kommunikationsmittel war maßgebend dafür, dass man erst Jahre später von einem Aufstand erfuhr. Ebenso gab es keine politischen Plattformen, auf denen die meist die Aufstände anführenden kurdischen Religions- und Stammesführer zusammenkamen, um Erfahrungen auszutauschen oder gemeinsame nationale Pläne zu entwickeln.

Ein weiteres Problem für ein Zusammenkommen der kurdischen politischen Kräfte bei diesen Aufständen war die Teile-und-herrsche-Politik der Kolonialisten. Zu oft wurden kurdische politische Kräfte gegeneinander ausgespielt. Dies ist vor allem im 20. Jahrhundert von den regionalen sowie internationalen Hegemonialkräften systematisiert worden. Die Herrschenden versuchen noch immer, Profit daraus zu schlagen. So werden heute noch Kurden in „böse“ und „gute“ kategorisiert, und manche kommen auf die Liste terroristischer Organisationen und manche werden bevorzugt.

Aufbau eines kurdischen Nationalparlaments
In den letzten dreißig Jahren des kurdischen Freiheitskampfes unter der Führung der Arbeiterpartei Kurdistan (PKK) hat sich vor allem in der Frage der nationalen Einheit eine positive radikale Wende ergeben. Bis vor zehn Jahren noch sprach man vom Bruderkrieg („birakujî“). Trotz ideologischer und politischer Differenzen hat sich inzwischen auch ein Dialog zwischen den politischen Kräften entwickelt. Ferner äußern sich immer mehr kurdische politische Parteien zur Notwendigkeit einer nationalen Konferenz. Auch hierbei muss auf das unermüdliche Engagement Abdullah Öcalans hingewiesen werden, der wieder und wieder unter schwierigsten Bedingungen die nationale Einheit gefordert hat. Bereits 1992 rief er zum Aufbau eines kurdischen Nationalparlaments auf, in dem Kurden gemeinsame Angelegenheiten erörtern sollten. Im Herbst ‘92 wurde der Nationalkongress Kurdistans mit Vertretern aus den vier Teilen und der Diaspora ins Leben gerufen. Allerdings wurde dieses Parlament in den Bergen aufgebaut, da es in den Städten der Türkei, Irans, Iraks und Syriens keine Chance hatte. Als eingesehen werden musste, dass ein Nationalparlament unter den Kriegsbedingungen in den Bergen schwer zu etablieren ist, wurde es nach kurzer Zeit aufgelöst. Öcalan beharrte weiter auf einem unbedingt notwendigen eigenen Nationalparlament für die nationalen kurdischen Angelegenheiten. Er bemühte sich persönlich intensiv darum, kurdische Intellektuelle und Politiker zu ermutigen, ein kurdisches Exilparlament ins Leben zu rufen, was auch im Mai 1994 im europäischen Ausland erfolgte. Das Kurdische Parlament im Exil war vor allem im außenpolitischen diplomatischen Bereich sehr erfolgreich. Intern kümmerte es sich intensiv um den innerkurdischen politischen Dialog. Auf zahlreichen Sitzungen wurden Kurdistan-relevante Beschlüsse gefasst. Die kurdische Bevölkerung erlebte zum ersten Mal in ihrer modernen Geschichte eine neue Erfahrung, auf die sie stolz war.

Um Funktion und Inhalt des Exilparlaments noch auszuweiten und zu stärken, begannen Diskussionen um eine Reorganisierung. Infolgedessen wurde seine Auflösung beschlossen und der Aufbau eines viel weitgehenderen kurdischen Parlaments. Folge war die Gründung des Nationalkongresses Kurdistan (KNK), zwei Monate nach der Entführung Abdullah Öcalans. Denn dieser hatte, obwohl seine Zukunft in den Händen des türkischen Staates ungewiss war, die kurdischen politischen Kräfte gebeten, diesen Kongress ins Leben zu rufen. Dies erfolgte dann am 26./27. Mai 1999 in Holland, mit genau 789 Vertretern aller kurdischen Parteien, unabhängigen Persönlichkeiten, Frauen, Intellektuellen, Akademikern, geistlichen Führern. Vom Exilparlament bis zum heutigen KNK wurde stets großer Wert auf die aktive Teilnahme von Assyrern, Aleviten, Jeziden, Frauen gelegt. Alle kurdischen Dialekte (Kurmancî, Soranî, Zazakî, Hewramî), aber auch andere Sprachen wie die assyrische, wurden gleichberechtigt behandelt. Auf zahlreichen Konferenzen, Seminaren, Veranstaltungen wurde die Notwendigkeit der nationalen Einheit aufgegriffen, was sehr große Sympathien in der kurdischen Bevölkerung hervorrief. Diese sah, dass kurdische politische Parteien zusammenkommen und gemeinsam debattieren können. Im KNK haben alle politischen Kreise die Sprache des Konsenses kennengelernt. Jeder von ihnen hat bei der Berück­sichtigung der eigenen Interessen auch Freiraum für nationale Anliegen gelassen und ebenfalls auf die politischen und ideologischen Empfindsamkeiten des anderen geachtet.

Nationale Konferenz der Kurdinnen
2007 begannen kurdische Frauen jeglicher politischen Couleur unter der Führung des KNK, sich über eine nationale Konferenz der Kurdinnen zu verständigen. Nach intensiven dreijährigen Vorbereitungsarbeiten fand dann die erste nationale Frauenkonferenz Kurdistans im April 2010 in Amed (Diyarbakır) statt. Kurdische Frauen diskutierten dort gemeinsam über Frauenprobleme in allen Teilen Kurdistans sowie der Diaspora. Die erste nationale Jugendkonferenz folgte im Frühjahr 2011 in Amed.
Heute herrscht ein reger Dialog zwischen den kurdischen Intellektuellen, Akademikern, Schriftstellern, Künstlern usw. So gesehen gibt es heute jenseits der offiziellen staatlichen Grenzen in Kurdistan starke Bestrebungen zusammenzuarbeiten.

Angefangen von Med TV 1995 bis hin zum heutigen Roj TV haben kurdische Medien für das nationale Selbstbewusstsein eine sehr wichtige Rolle gespielt. Heute strahlen mehr als zwanzig kurdische Fernsehsender über Satellit weltweit Sendungen über die vier Teile Kurdistans aus. Auch das Internet hilft, schnell über die Entwicklungen in Kurdistan informiert zu sein, was zu schnellem Handeln führt. So berichteten zum Beispiel alle kurdischen Fernsehsender über das Erdbeben in Wan (Van), und umgehend eilten Kurden, egal wo, schnell zu Hilfe.
In dieser Hinsicht hat die Bevölkerung ein großes nationales Selbstbewusstsein, das längst die durch die Türkei, Iran, Irak und Syrien gebildeten Grenzen überwindet. Heute erhofft sich die Mehrheit des kurdischen Volkes die Einberufung einer nationalen kurdischen Konferenz. Immer mehr Kurden drängen darauf.

Das nationale Einheitsstreben in der Bevölkerung hat außerdem einen weiteren positiven Effekt, es setzt kurdische politische Parteien unter Druck. Noch immer gibt es, auch wenn sie heute Rarität sind, kurdische Parteien, die sich etwas von den jeweiligen Besatzerstaaten Kurdistans erhoffen. In diesem Sinne stehen zum Beispiel auf Kosten der PKK kleine Parteien hinter verschlossenen Türen mit der türkischen Partei für Gerechtigkeit und Aufschwung (AKP) im Dialog. Sie halten sich mit merkwürdigen Argumenten aus dem nationalen Einheitsprozess heraus. Diese Politik betreiben solche kleinen Parteien heimlich, da sie ansonsten in der kurdischen Bevölkerung diskreditiert sind, das heißt, sie werden mit Misstrauen betrachtet, wenn sie keine transparente Politik betreiben. Für die kurdische Zukunft ist die Kontrolle der Bevölkerung über die politischen Parteien unausweichlich. Heute kann es sich zum Beispiel keine der Parteien leisten, offen mit den Besatzerstaaten gegen die PKK zusammenzuarbeiten. Denn nach wie vor versuchen Türkei, Iran, Syrien und Irak, kurdische Parteien gegeneinander auszuspielen. So bemüht sich die AKP-Regierung darum, nachdem sie selbst im eigenen Land die Kurden nicht zum Schweigen bringen kann, in Südkurdistan die Patriotische Union Kurdistans (YNK) und die Kurdische Demokratische Partei (PDK) unter Druck zu setzen, um sie gegen die PKK auf ihre Seite zu bekommen. Mit ständigen Drohungen und Intrigen und über die wirtschaftliche Zusammenarbeit versucht die AKP sie zu zwingen. Was allerdings schwierig ist, da bei kleinsten Anzeichen dafür die kurdische Bevölkerung im Irak selbst gegen diese Parteien auf die Barrikaden gehen würde. Andererseits aber sehen PDK und YNK die PKK als stärkenden Faktor für Irakisch-Kurdistan. Die Existenz der PKK im Nordirak ist für sie selbst auch eine Garantie, ein Schutz vor der Türkei, dem Iran und Syrien.

Die Frage der kurdischen nationalen Einheit mag für die Kurden lebenswichtige Bedeutung haben, sie ist aber auch von erheblicher Relevanz für den gesamten Mittleren Osten. Der Fakt, dass Millionen Kurden in der Türkei, dem Iran, Irak und Syrien leben und heute immer näher zusammenkommen, führt dazu, dass führende kurdische politische Parteien nicht dem entgegengesetzt handeln können. So können weder die Türkei, der Iran, der Irak noch Syrien die kurdische Karte gegeneinander ausspielen. Das erschwert es auch internationalen Kräften wie einigen europäischen Staaten und den USA. Das heißt, die kurdische Karte verliert ihre traditionelle Wirkung als Instrument des Teilens und Herrschens, das den Großmächten seit dem Ersten Weltkrieg große Dienste geleistet hat. Weder können die internationalen die regionalen Hegemonialstaaten wie Türkei, Iran, Irak und Syrien gegen die Kurden aufhetzen noch Kurden gegeneinander. So wie sich heute die Kurden nicht bereitfinden, Syrien für Dritte anzugreifen, obwohl das Regime Beshar al-Assads jahrelang systematische Unterdrückungspolitik betrieben hat. Die Kurden haben auch aus Fehlern in ihrer Politik bei der Irakinvasion 2003 gelernt, und sie haben heute eigene Gründe für ihre Kritik am syrischen und am iranischen Regime. Man kann sagen, die Kurden vertreten unter Führung der PKK eine eigene politische Linie: sozusagen die dritte Linie. Eine Linie, deren Priorität die Interessen der Völker sind, sich aber weniger nach den ökonomischen und strategischen Großmachtinteressen richtet.

Prinzipiendokument für kurdische Frauen erarbeitet
Der nationale Einheitsprozess in Kurdistan wird, so wie es aussieht, in kurzer Zeit mit der Ankündigung einer nationalen Konferenz ein historisch neues Niveau erreichen. Alle Zeichen deuten darauf hin. Auch bei der letzten Beratungsrunde des KNK im September 2011 in Brüssel, mit 21 politischen Parteien, 18 zivilgesellschaftlichen Organisationen, unabhängigen Persönlichkeiten, war eine kurdische Nationalkonferenz zentrales Thema. Dabei drang interessanterweise ein neuer Aspekt im Zusammenhang mit der nationalen Einheit in den Vordergrund. Die rege Teilnahme der Frauen an den Debatten lenkt die Diskussionen in eine neue Richtung. Nämlich Frauenrechte sollten ein maßgebliches Kriterium im nationalen Einheitsprozess sein. Damit der nicht wie bei der PLO elitär, parteilich über dem Volk steht, ist es wichtig, gesellschaftliche Probleme auch aufzugreifen. Letzten Endes sind die Vorstellungen des kurdischen Patriarchats andere als diejenigen der Frauen. Deshalb hat die Frauenkommission des KNK ein Prinzipiendokument für kurdische Frauen erarbeitet, um klar und deutlich die Bedingungen der Frauen im nationalen Einheitsprozess darzulegen. Es wird bald öffentlich zur Diskussion gestellt werden. Ein freies Kurdistan heißt ein Kurdistan, in dem nicht nur kurdische Männer, sondern auch kurdische Frauen frei sind. So gesehen wird damit die Debatte über die nationale Ebene hinaustreten – aus dem Verständnis, dass nämlich dieser Einheitsprozess nicht nur ein Round Table kurdischer Parteien sein wird, sondern auch eine Runde, in der kurdische Frauen für ihre Rechte ihre Vision eines freien Kurdistan einbringen werden. Um Nationalismusideen als Ausdruck patriarchaler Politik vorzubeugen. Die Erfahrung mit der PLO in Palästina hat gezeigt, dass ein nationaler Einheitsprozess nicht nur eine Plattform gegen Kolonialis­ten sein kann. Während Israel Palästina kolonialisierte, kolonialisierten palästinensische Männer ihre Frauen. Die Erfahrungen in Kurdistan werden in Form und Inhalt andere werden, da Kurdinnen eigene Vorstellungen von Kurdistan haben. Außerdem haben sich Kurdinnen als Erste auf einer nationalen Konferenz getroffen und sind eher in der Lage zusammenzukommen als die patriarchal dominierten Strukturen.

Nicht nur innergesellschaftlich, auch außenpolitisch ist der Prozess der nationalen Einheit, der seinen nächsten Höhepunkt mit der Ersten Kurdischen Nationalkonferenz finden wird, für den Mittleren Osten unausweichlich. Denn dort wird auch die Solidarität des kurdischen Volkes mit den ebenfalls unterdrück­ten Nachbarvölkern ausgedrückt werden.