Lösungsansätze
für die kurdische Frage in der Türkei
Den Verfassungsprozess nutzen!
Öztürk Türkdoğan, IHD-Vorsitzender
Der Menschenrechtsverein
IHD hatte bereits bei seiner Gründung 1986 klar festgestellt, dass die
Türkei ein Demokratie- und Menschenrechtsproblem hat. Wir haben stets
betont, dass dabei die kurdische Frage die wichtigste zu lösende Aufgabe
ist. Die Politik der Republik Türkei in Bezug auf die Kurden war von
1924 bis 2009 durch Leugnung und Vernichtung geprägt und seit 2009 wird
sie von einer scheinbaren Anerkennung bei gleichzeitiger Liquidation
bestimmt. Diese Liquidationspolitik beinhaltet die Kriminalisierung
der legalen kurdischen Politik, die Inhaftierung kurdischer Politiker
und parallel dazu die Vernichtung der illegalen bewaffneten Strukturen.
Sie wird von den USA und einigen europäischen Staaten unterstützt, da
die Türkei sich für Nordafrika und den Nahen/Mittleren Osten als Modell
eines gemäßigt islamischen Staates präsentieren und für die Interessen
der USA und der EU in diesen Regionen einspannen lässt. Diese Politik
ist eine Politik der Stagnation und muss sich schleunigst ändern.
Die kurdische Frage ist eine politische wie auch eine Menschenrechtsfrage.
Die Kurden müssen als eine eigene Volksgruppe anerkannt werden, damit
sie ihre Rechte als gesellschaftliche Gruppe wahrnehmen und ihre Kultur
leben können, so dass es auf der Grundlage der universellen Menschenrechte
verfassungsrechtlicher Änderungen bedarf. Die Problematik wird sich
auch deutlich entschärfen, wenn der türkische Staat die international
gültigen Abkommen über die Menschenrechte bedingungslos anerkennt.
Die kurdische Frage kann nur durch eine Verfassungsänderung gelöst werden.
Damit es so weit kommen kann, brauchen wir eine neue und demokratische
Verfassung.
Die Türkei ist in ideologischer Hinsicht ein nationalistischer Staat.
Dieser Nationalstaat stützt sich auf die türkische Ethnie und ist trotz
des Laizismus-Prinzips stark islamisch geprägt, was die wesentliche
Problemquelle darstellt. Dieses Verständnis findet im Eingang der Verfassung
offen seinen militaristischen Ausdruck. Dieser Staat ist aufgrund seiner
Struktur eine Republik der Oligarchen, so dass eine Demokratisierung
auch die kurdische Frage lösen könnte. Aus diesem Grund müssen für eine
demokratische Entwicklung die Prinzipien des Pluralismus und der Transparenz
und Teilhabe in einer neuen Verfassung ihren Niederschlag finden.
Die neue und demokratische Verfassung
Die aktuelle Präambel ist abzulehnen, und in der neuen ist zu betonen,
dass es in der Türkei unterschiedliche ethnische Gruppen, Sprachen und
Glaubensgemeinschaften gibt. Sie haben die demokratische Republik zu
beleben, indem sie im Rahmen neuer konstitutioneller Bestimmungen zu
einem friedlichen Zusammenleben führen. Des Weiteren muss in der Präambel
das Recht der Menschen auf Widerstand gegen Unterdrückung, Armut und
Angst, wie es auch in den UN-Menschenrechtsabkommen definiert ist, festgehalten
werden. Hierbei muss auch klar aufgezeigt werden, dass man auf nationaler
und internationaler Ebene vor allem gegen Genozid, Verbrechen gegen
die Menschlichkeit, Kriegsverbrechen bzw. allgemein gegen Verbrechen
im Rahmen militärischer Auseinandersetzungen Maßnahmen ergreifen und
umsetzen wird.
Die ersten drei Verfassungsartikel:
Im ersten Artikel muss die Formulierung in „Die Türkei ist eine demokratische
Republik“ geändert werden. Hierbei ist die Betonung auf Demokratie zu
verstärken.
Im zweiten Artikel muss auf die verschiedenen Volksgruppen in der Türkei
hingewiesen werden, so dass ihre Unterschiedlichkeit betont wird. Es
ist hervorzuheben, dass es sich um eine demokratische Republik handelt,
in der dem nationalistischen Kemalismus kein Raum gegeben und der Begriff
des Laizismus durch den der sozialen Gerechtigkeit ersetzt wird.
Die Ausführungen im dritten Artikel, die Türkei sei „als Staat und Nation
untrennbar“, sind ein Ausdruck der offiziellen Ideologie und sollten
auf keinen Fall verwendet werden. Um die Mehrsprachigkeit zu schützen,
muss die Verfassung festhalten, dass die regionalen Verwaltungen in
der Türkei neben dem offiziellen Türkisch weitere Amtssprachen bestimmen
können. Außerdem sollten Fahne, Hauptstadt und Nationalhymne keinen
Platz finden.
Der vierte Artikel sollte auf jeden Fall entfallen.
Das Prinzip der Gewaltenteilung muss in der neuen Verfassung seinen
Niederschlag finden.
Die Gleichstellung aller vor dem Gesetz muss unter Beachtung der Merkmale
Sprache, Ethnie, Rasse, Hautfarbe, Geschlecht, Religion, politische
oder philosophische Ansichten, sexuelle Orientierung, sozialer Status,
Alter, Behinderung, Gesundheit, bürgerlicher Stand, Schwangerschaft
und ähnlichen neu definiert werden. In diesem Artikel muss der Begriff
von Hass entfallen, somit fiele dann auch die Diskriminierung aufgrund
von Abstammung, Glaubensbekenntnis, sexueller Orientierung, sozialem
Geschlecht und Alter weg.
Die grundlegenden Rechte und Freiheiten müssen ohne Differenzierung
als Ganzes, d. h. die persönlichen, politischen, ökonomischen, sozialen,
kulturellen und Solidaritätsrechte wie bei den universellen Abkommen,
aufgelistet werden. Die Meinungsfreiheit muss als ein Grundrecht unbedingt
unter Schutz gestellt werden.
Um eine Lösung der kurdischen Frage zu erleichtern, muss auch das Recht
auf muttersprachlichen Unterricht garantiert werden. Die Modalitäten
sind in die Verfassung aufzunehmen.
Isolations- und lebenslängliche Haft sind verfassungsmäßig zu verbieten
und die Rechte des türkischen Parlaments zum Erlass von Amnestiegesetzen
sind zu beschneiden. Die Vollstreckung von Urteilen darf nicht Menschenwürde
und Menschenrechte verletzen.
Der verfassungsrechtliche Begriff des Bürgers muss frei von ethnischen
Bezügen sein.
Das Recht auf Kriegsdienstverweigerung muss in der Verfassung verankert
werden.
Die Gerichtsbarkeit hat sich dem Recht unterzuordnen, so dass Militärgerichte
abzuschaffen und die Grundlagen für Sondergerichte zu beseitigen sind.
Das Recht auf einen rechtsstaatlichen Prozess muss in all seinen Facetten
garantiert werden.
Das Prinzip der lokalen oder regionalen Verwaltung muss neu definiert
werden, so dass die Beziehung zwischen Zentral- und Regionalmacht neu
geregelt wird. Die in der Türkei lebenden Kurden müssen einen eigenen
Status erhalten und ihnen müssen auch die Grundlagen geboten werden,
sich im Rahmen eines Modells der lokalen/regionalen Selbstverwaltung
selbst zu verwalten.
Die vom Kongress für eine Demokratische Gesellschaft DTK verkündete
Demokratische Autonomie ist eine Form der lokalen/regionalen Selbstverwaltung.
Die Türkei hat die UN-Abkommen über die „persönlichen und politischen
Rechte“ und die „ökonomischen, sozialen und kulturellen Rechte“ ratifiziert
und in Kraft gesetzt. Beide Abkommen beinhalten im ersten Paragraphen
das Selbstbestimmungsrecht der Völker. Die Menschenrechtskommission
der UN erklärt im Rahmen ihrer 12. allgemeinen Interpretation dieser
Abkommen, dass alle Völker das Recht auf die freie Bestimmung ihres
politischen Status und Aufbaus und die Entwicklung ihrer ökonomischen,
sozialen und kulturellen Strukturen haben. In politischer Hinsicht bedeutet
dies die Souveränität der äußeren Grenzen, und innenpolitisch auf der
Grundlage des § 25 die Teilnahme an der Mitverwaltung bzw. Mitentscheidungen,
da hier die demokratische Partizipation an der Regierung oder der Verwaltung
geregelt ist. Des Weiteren betont die Kommission auch, dass zwar alle
Völker das Selbstbestimmungsrecht haben, dies aber nicht automatisch
ein Recht auf Abtrennung bedeutet. Auch die Kurden haben als ein weiteres
Volk das Selbstbestimmungsrecht, so dass sie selbst ihren Status frei
bestimmen können. Deshalb ist die von ihnen beschlossene Demokratische
Autonomie zu akzeptieren, da sie keine Abtrennung zum Inhalt hat und
somit als Lösungsmodell als geeignet anzusehen ist. Hierbei würde ich
vorschlagen, dass die Kurden Unterschriften von fünf Millionen Menschen
sammeln, die sich zu diesem Lösungsmodell bekennen, und das Ergebnis
dem türkischen Parlament, der EU und der UNO vorlegen, um so ihre Forderung
auf die Agenda der internationalen Gemeinschaft zu bringen.
Die Demokratische Autonomie beinhaltet im Kern nichts anderes als die
Forderung nach einer Teilhabe an der Macht und nach Selbstverwaltung
einer weiteren Volksgruppe in ihrem Lebensraum, innerhalb der bestehenden
Grenzen. Kurz, sie betrifft das demokratische Prinzip der Partizipation.
Wer sich gegen die Demokratische Autonomie stemmt und nicht um die Vergangenheit
der Republik weiß, sollte sich der Verfassung von 1921 annehmen. Denn
die Republik Türkei wurde drei Jahre lang mit dieser Verfassung regiert,
ihre Gründungsphilosophie liegt darin verborgen. Denjenigen, die stur
die offizielle Ideologie der Republik und ihre Gründungsphilosophie
an der Verfassung von 1924 festmachen, scheint das Wissen über die ersten
Jahre der Republik zu fehlen oder es wurde vergessen. Wir sollten die
historischen Erinnerungen auffrischen und das seit 1924 begangene Unrecht
beenden.
In eine neue und demokratische Verfassung sollten die sogenannten „Revolutionsgesetze“
keinen Eingang finden, da sie den Nährboden für die vorherrschende offizielle
Ideologie bilden.
Ich könnte detailliertere Vorschläge zur Ausarbeitung einer neuen Verfassung
machen, aber es stellt sich hierbei die Frage, wie sie angefertigt werden
soll?
Eine neue Verfassung in Zeiten der Konfrontation zu erarbeiten halte
ich für falsch. Erst einmal müssen die militärischen Auseinandersetzungen
im Hinblick auf die kurdische Frage beendet und eine gefechtsfreie Situation
geschaffen werden. Daher müssen zuerst die betreffenden Seiten mit Verhandlungen
beginnen. Die Bedingungen für Verhandlungen müssen hergestellt und passend
sein. Damit die kurdische Seite an den Verhandlungen teilnehmen kann,
muss die Isolationshaft Abdullah Öcalans, den die Kurden ganz klar als
ihren Repräsentanten bestimmt haben, beendet und das Gefängnis auf Imralı
geschlossen werden. Damit die Verhandlungen glatt bzw. reibungslos verlaufen
können, muss es Öcalan durch die Erleichterung seiner Haftbedingungen
gewährleistet werden, sich mit seiner Bewegung in Verbindung setzen
zu können. Wird dies nicht umgesetzt, können mögliche Verhandlungen
nicht glatt verlaufen.
Die BDP muss im Parlament mit der AKP über die Verfassung und politische
Lösungsansätze verhandeln und Öcalan und die KCK mit dem Staat. Die
Gespräche sollten parallel und bei gegenseitigem Austausch geführt werden.
Wenn eine gewaltfreie Atmosphäre geschaffen wurde, muss man dazu übergehen,
allen gesellschaftlichen Gruppen eine Beteiligung am Verfassungsfindungsprozess
zu ermöglichen, so dass ihre rechtliche Repression zu beenden ist. Dazu
sind die Hindernisse vor dem „Recht auf freie Meinungsäußerung“ und
dem „Recht auf Organisierung“ zu beseitigen. Die Sondergerichte und
die Sonderermittler der Schwurgerichte müssen abgeschafft werden. Dem
grausamen Verhaftungsregime muss ein Ende bereitet werden, das die Persönlichkeits-
und Sicherheitsrechte des Individuums immens beschneidet. Alle politischen
Häftlinge müssen freigelassen werden.
Die Türkei hat sich im Zuge des Verfassungsprozesses ihrer Geschichte
zu stellen und mit deren Aufarbeitung zu beginnen. Es müsste eine Wahrheits-
und Rechtskommission installiert werden, die innerhalb eines Jahres
das Ergebnis ihrer Arbeit zusammenfassen sollte. Sie hätte die Aufgabe,
die Wahrheit aufzudecken und mit der Öffentlichkeit zu teilen, um so
dem Recht neue Geltung zu verschaffen.
Nach der Beendigung der Kämpfe müssen die Folgen des Krieges untersucht
werden.
Die Massengräber sind im Einklang mit international gültigem Recht unter
der Aufsicht zivilgesellschaftlicher Organisationen zu öffnen. Dazu
müssten auch die nötigen Untersuchungen angestellt und strafrechtliche
Verfahren angestrebt werden.
Das System der paramilitärischen Dorfschützer muss sofort aufgehoben
werden.
Eine Rückkehr in die Dörfer muss gefördert werden.
Minenfelder müssen ermittelt und bereinigt werden.
Das Schicksal der „Verschwundenen“ (der extralegal hingerichteten Personen)
muss in ernsthafter Aufklärungsarbeit geklärt und ihre Mörder müssen
ermittelt werden, so dass strafrechtliche Verfahren angestoßen werden
können.
Im Zuge der Diskussion einer neuen Verfassung muss auch eine allgemeine
politische Amnestie erörtert und in diesem Zusammenhang über einen Schadenersatz
für die zu Unrecht Betroffenen nachgedacht werden.
Die schlimmste Auswirkung, die der Krieg hervorgerufen hat, ist die
von Gewalt und Lynchjustiz geprägte Kultur. Um dem Einhalt zu gebieten,
müssen sich alle einbringen und sich bemühen, eine Kultur des Friedens
zu schaffen.
Ich wünsche mir, dass unsere Diskussionen und Bemühungen einen Beitrag
dazu leisten, die kurdische Frage in der Türkei zu lösen. Ich möchte
hierbei die Gelegenheit nutzen und darauf hinweisen, dass uns die Verhaftungspolitik
des Regimes in die Zeit des Putsches von 1980 versetzt hat. Denn es
vergeht kein Tag, an dem nicht kurdische Politiker, Aktivisten, Oppositionelle,
Menschenrechtler, Journalisten, Autoren oder Intellektuelle verhaftet
werden. Ich will hoffen, dass dem die internationale Öffentlichkeit
nicht noch länger stillschweigend zuschaut.