Die
Türkei in der sich verändernden Lage im Mittleren und Nahen Osten
Die Türkei versucht einen Anteil an den Plünderungen zu ergattern
Interview mit Haluk Gerger
Haluk
Gerger ist marxistischer Politikwissenschaftler und Nahostexperte aus
Istanbul. Er war Dozent an der Fakultät für Politikwissenschaften und
internationale Beziehungen an der Universität Ankara. Nach Inkrafttreten
der Militärputsch-Verfassung von 1982 war auch seine Tätigkeit wegen
seiner politisch-kritischen Meinung beendet. Haluk Gerger ist Mitbegründer
des Menschenrechtsvereins (IHD). Zwischen 1996 und 1999 war er Gastdozent
an der TU Darmstadt. Neben sechs auf Türkisch erschienenen Büchern publiziert
er als Kolumnist bei mehreren Zeitungen und Zeitschriften. Auf Deutsch
erschien sein Buch »Die türkische Außenpolitik nach 1945 – vom Kalten
Krieg zur Neuen Weltordnung« (isp Verlag, Karlsruhe 2008). Für den Kurdistan
Report sprach mit ihm Devriş Çimen.
Wenn wir uns die Entwicklungen im Nahen und Mittleren Osten innerhalb
des letzten Jahres anschauen, sehen wir, dass es durch den Arabischen
Frühling, den Aufstand der Völker, zu einer Reihe von Veränderungen
gekommen ist. Was muss man unter diesen Veränderungen verstehen?
Der Status quo im Nahen und Mittleren Osten wurde nach dem Ersten Weltkrieg
durch die Außenministerien der Engländer und Franzosen im Sykes-Picot-Abkommen
festgelegt.
Dadurch wurden die Gebiete des Osmanischen Reiches unter diesen zwei
Kolonialmächten aufgeteilt. Die Araber wurden geteilt, künstliche Staaten,
beherrscht von lokalen aristokratischen Dynastien wurden erschaffen.
Diese Staaten wurden per Mandat oder in anderer Weise direkt von den
Kolonialmächten abhängig gemacht. Es wurde die Republik Türkei errichtet
und Kurdistan wurde auf vier Länder (Türkei, Irak, Syrien, Iran) aufgeteilt.
Diese Kolonialpolitik hat nach dem Zweiten Weltkrieg und der Errichtung
des israelischen Staates eine zusätzliche Dimension gewonnen. Der Widerstand
Irans und der arabischen Welt gegen diesen Status quo, die starken Interventionen
der USA in die Region und die Politik des Kalten Krieges trugen dazu
bei, dass eine neue Phase für die Region begann. Infolge einer ereignisreichen
Zeit wurde die iranische Mossadeq-Regierung durch einen britisch-amerikanischen
Putsch gestürzt, der im Exil lebende Schah wieder ins Land zurückgeholt
und die SAVAK-Diktatur errichtet. Die durch Mossadeq verstaatlichte
Öl-Industrie im Land wurde wieder privatisiert und den Unternehmen der
westlichen Welt wieder zur Verfügung gestellt.
In
Ägypten, Irak und Syrien kamen linksnationale Regierungen an die Macht,
welche mit Israel und dem USA-Großbritannien-Frankreich-Block im Konflikt
standen. Später intensivierten sie ihre Beziehungen zur Sowjetunion.
Als Reaktion darauf besetzte das Bündnis USA/Großbritannien den Libanon
und Jordanien, stärkte in der Golfregion seine militärische und ökonomische
Kontrolle, sagte dem Schah größere Unterstützung zu und stattete Israel
mit Waffensystemen aus. Einer der wesentlichen Kollaborateure dieses
imperialistischen Lagers in der Region ist schließlich auch die Türkei
geworden. Und dieser Status quo, dessen Wurzeln eben bis zum Ersten
Weltkrieg zurückreichen, fällt aktuell zusammen.
Im Zusammenhang damit sieht es so aus, als ob die Türkei außenpolitisch
ein strategisches Bündnis mit den imperialistischen Mächten eingegangen
ist und von diesen eine Mission für die Region auferlegt bekommen hat.
Kann man sagen, dass die AKP-Regierung dazu benutzt wird, das Modell
des „gemäßigten Islam“ in den Nahen und Mittleren Osten sowie in die
arabische Welt zu exportieren?
Was aktuell passiert, ist ein doppelter Prozess. Auf der einen Seite
erheben sich die Völker gegen ihre linksnationalen Diktaturen, die mit
der Zeit zu Feinden ihrer eigenen Bevölkerung geworden sind. In jedem
dieser Länder versuchen die herrschenden Klassen und Schichten, das
Militär und die zivile Bürokratie, die liberalen und religiösen Eigentumsbesitzer,
eine Restauration einzuleiten, durch welche sie ihre Hegemonie aufrechterhalten
können. Auf der anderen Seite intervenieren die westlichen Mächte, um
auch nach den Aufständen ein Ergebnis zu erreichen, das im Einklang
mit ihrer Globalisierung und Neuen Weltordnung steht.
Was die Rolle der Türkei
angeht: Sie erhofft sich, dass beim Zusammenbruch des Status quo in
der Region und dem Aufbau einer neuen Ordnung ein imperialistischer
Beutetisch zustande kommt, an welchem sie einen Anteil an den Plünderungen
zu ergattern erhofft. Was aber noch wichtiger ist, die Türkei versucht
die kurdische Dynamik in allen Ländern unter militärische, politische,
ökonomische, soziale Kontrolle zu bringen und somit zu lähmen.
Der Imperialismus erwartet
zweierlei von den Regimen, die er in der Region an die Macht bringen
will. Zunächst einmal, dass sie in der Phase der Globalisierung eine
entsprechende Rolle einnehmen und sich dem internationalen Kapitalismus
unterordnen. Zweitens, dass sie sich in die Neue Weltordnung integrieren.
Dazu gehört auch, dass sie sich mit Israel verständigen.
Somit
soll entsprechend dem Greater Middle East Project der neue Status quo
in ein Abhängigkeitsverhältnis gebracht werden. Nach diesen Plänen soll
durch die Hand der neuen Regime, in den Ländern der Region, auf ihren
Straßen, in den Familien, den Schulen, den Moscheen, den Kasernen, in
allen Lebensbereichen der wilde Kapitalismus, die neoliberale Ideologie
so institutionalisiert werden, dass sich die Abhängigkeitsverhältnisse
permanent selbst reproduzieren. Die Türkei scheint für dieses Modell
das ideale Beispiel, eine Art Inspirationsquelle, darzustellen. Mit
der „gemäßigten“ Form des Islam, der in historisch-kultureller Hinsicht
für die Region von Bedeutung ist, gepaart mit einem „gemäßigten“ Nationalismus,
scheint in der Türkei mit der AKP eine ideologische Dynamik erfolgreich
installiert worden zu sein, welche nun in die gesamte Region exportiert
werden soll. Der Begriff „gemäßigt“ bedeutet in diesen Zusammenhängen
eigentlich „kollaborierend“. Außerdem kann die Türkei bei Bedarf auch
militärisch Zähne zeigen und somit bei imperialistischen Interventionen
von Nutzen sein. Somit wird die Türkei sowohl durch ihre kulturell-historischen
Bindungen als auch durch ihre militärischen Möglichkeiten als „Trojanisches
Pferd“ des Imperialismus benutzt und missbraucht.
Syrien ist im Mittleren Osten ein wichtiges Land. Während die Beziehungen
zwischen der Türkei und Syrien in der Vergangenheit gut waren, scheint
sich das nun verändert zu haben. Erdoğan gibt Erklärungen zu Assad und
Syrien von sich, die sich anhören, als stammten sie von einem US-Sprecher.
Zudem leistet die Türkei offene Unterstützung an die Opposition in Syrien.
Wie ist diese Politik Erdoğans zu verstehen?
Syrien soll nach dem Irak und Libyen als letzter Staat zu Fall gebracht
werden. Mit dem Sturz Syriens wäre die letzte Bastion der linksnationalen
Regime, also des alten Status quo, eingenommen. Zweitens ist Syrien,
genauso wie der Iran, wichtiges Rückzugsgebiet von Organisationen wie
der Hisbollah oder der Hamas. Wenn Syrien fällt, wäre das zugleich auch
ein großer Rückschlag für den Iran, weil dessen Verteidigungsstellung
fallen würde. Und genau daher rührt auch die Wichtigkeit dessen für
die USA und Israel. Für die Türkei ist neben dem Zwang, den USA zu dienen,
ein zweiter Punkt von Bedeutung. Und das ist die Existenz der Kurden
dort. Denn für die Türkei ist die Situation der Kurden in allen Teilen
gleich einem „innenpolitischen Problem“. Früher versuchte sie gemeinsam
mit dem Irak, dem Iran und Syrien, die kurdische Existenz einzuengen.
Jetzt versucht sie dies, immer in Rücksprache mit den USA, allein im
Rahmen ihrer strategischen Möglichkeiten. Nachdem nach der Irak-Intervention
der USA die Kurden dort eigene Strukturen errichtet haben, fürchtet
sie nun, dass in Syrien auch eine kurdische Dynamik entsteht, die außerhalb
ihres Einflussbereiches liegt. Daher versucht die Türkei eine aktive
Rolle bei den Sturzversuchen in Syrien zu spielen, sodass sie im Nachhinein
auch über ein Mitspracherecht verfügt. Sie provoziert den Krieg und
ist auch bereit, an vorderster Front Soldaten zu stellen. Grund hierfür
sind Kalkulationen, nach denen sie durch eine neu geschaffene Situation
über genug Initiativkraft verfügen könnte, um Südkurdistan (Nordirak)
zu umzingeln, und sich so auch neue Vorteile in ihrem Kurdenkrieg verschaffen
könnte. Natürlich beinhaltet dieser Plan auch strategische Überlegungen
hinsichtlich des Irans und Iranisch-Kurdistans/Ostkurdistans.
Zwischen der Türkei und Israel gab es Reibereien. Es scheint, als würden
sie Konflikte haben, aber jegliche Zusammenarbeit und strategischen
Abkommen bleiben unangetastet. Zudem wird gemeinsam mit Deutschland
die Zusammenarbeit gegen die Kurden wie gehabt fortgesetzt, aber gleichzeitig
erscheint es mit den türkischen Vorwürfen gegen deutsche Stiftungen,
als würden die Probleme zwischen beiden Staaten vorherrschen. Am Beispiel
Israels und Deutschlands wird an der türkischen Außenpolitik deutlich,
dass sie nach außen hin radikal und angriffslustig auftritt, eigentlich
aber genau das Gegenteil praktiziert. Können Sie uns näher erläutern,
was es mit dieser Strategie auf sich hat?
Die Türkei und Israel stehen seit 1950 in einem strategischen Bündnis
und beide Staaten verkörpern zugleich die Schlagkraft des Imperialismus.
In den 1950er Jahren wurde das Bündnis in Form des „Geisterpakts“ geheim
gehalten. Grund hierfür war, dass die Türkei der wichtigste Kollaborateur
der USA in der Region war und man nicht wollte, dass sie den Groll der
arabischen Länder auf sich zieht. Nach den 1970ern war die Türkei von
arabischem Öl und arabischen Finanzmitteln abhängig. Zugleich war die
linke Opposition im Lande dabei zu erstarken. Daher war man genötigt,
die Beziehungen zu Israel zeitweise einzufrieren. Aber spätestens seit
den 90er Jahren war sowohl die außen- als auch die innenpolitische Situation
geeignet, die Beziehungen zu Israel offen weiterzuführen. Und diese
„Blutsbruderschaft“ hält bis heute an. Aber mit der Erlaubnis der USA
sah die Türkei sich jetzt zu einem gewissen Verhalten gegenüber Israel
veranlasst. Denn immerhin musste sie mit den Staaten und den Völkern
der Region in einen Dialog treten, also ihrer Rolle als „Trojanisches
Pferd“ gerecht werden. Natürlich musste sie eine harte Reaktion gegen
Israel an den Tag legen, um mit dem Iran im Auftrag des Imperialismus
Beziehung und Dialog aufnehmen zu können. Natürlich musste sie Israel
scharf kritisieren, um im Namen des Westens einen Dialog mit den Palästinensern
und der Hamas aufbauen zu können. Und natürlich musste sie die Besetzung
der Golan-Höhen durch Israel öffentlich kritisieren, um Verbindungskanäle
zu Syrien öffnen zu können. Neben diesen Gründen weiß auch die Türkei,
dass Israel für die ohnehin in der Krise befindlichen USA anfängt eine
Last zu werden. Die Türkei fährt daher eine „Spannungspolitik“ gegen
Israel, um es weiter zu isolieren und somit selbst zum Hauptpartner
des Imperialismus in der Region aufzusteigen, wodurch sie sich noch
mehr finanzielle, politische und strategische Unterstützung erhofft.
Daher kann man die Diskussionen der letzten Zeit als einen Zusammenprall
zweier miteinander konkurrierender Akrobaten verstehen, die am selben
Seil hängen, sich aus derselben Quelle nähren. Der Fall der Äußerungen
zu den deutschen Stiftungen hingegen war demgegenüber eher ein innenpolitisches
Manöver. Die Aussage geschah, um die nationalistischen, konservativen
und antiwestlichen Teile der Bevölkerung zu befriedigen. Zudem war es
eine billige Politik, um die Zusammenarbeit von sozialen und zivilen
Einrichtungen aus Deutschland mit den kurdischen Stadtverwaltungen zu
beschädigen.
Die Türkei versucht im Nahen und Mittleren Osten ihre strategische Bedeutung
zu vermarkten, um dadurch Unterstützung gegen die PKK zu erlangen. Welche
Bedeutung haben die Kurden und die PKK außenpolitisch und wirkt sich
die türkische Außenpolitik auf die Kurden aus?
In der türkischen Außenpolitik gibt es zwei grundlegende, strukturelle,
verknöcherte Besonderheiten. Erstens die vielseitige Abhängigkeit vom
Imperialismus. Zweitens die Unterstützung des Imperialismus bei ihrem
militärisch-politisch-ökonomisch-ideologischen Krieg gegen die Kurden.
Wenn die Türkei in Bedrängnis gerät und die kurdische Frage immer mehr
zu einer internationalen Frage wird, und das liegt in ihrer Natur, dann
verspürt sie umso mehr dieses Bedürfnis nach Unterstützung und erklärt
die kurdische Frage und die PKK-Dynamik zum grundlegenden Pfeiler ihrer
Außenpolitik. Damit bestimmt die Politik der Lösungslosigkeit und der
Gewalt in der kurdischen Frage nicht nur die innenpolitische Situation
der Türkei, sondern zerstört auch ihr außenpolitisches Gleichgewicht
und wird somit zur „Mutter aller Probleme“. Auch für die kleinste Unterstützung
gegen die Kurden vergibt die Türkei unglaubliche Konzessionen an fremde
Länder, Unternehmen und Institutionen und bietet in erheblichem Maße
wirtschaftliche und politische Zugeständnisse an. Und je mehr sie sich
in dieser inneren und äußeren Instabilität windet, desto mehr versinkt
sie. Die Niederlagen, welche die Türkei im Kampf gegen die Kurden erleidet,
wirken sich auch auf ihre Außenpolitik aus. Auch dort erleidet sie dadurch
große Schäden. Man kann also zusammenfassend sagen, dass der Kampf gegen
die Kurden bzw. gegen die PKK-Dynamik zu einem täglichen, dringenden,
strukturellen und grundlegenden Ziel der Türkei geworden ist.