Tunesien: Soziale Dynamik & Strukturen in der Revolution

Bernard Schmid, Journalist

Der Funke des „Arabischen Frühlings“ 2011 ging von Tunesien aus. Dort floh der seit November 1987 ununterbrochen regierende – (und periodisch bei „Wahlen“ mit jeweils über 90 % der Stimmen amtlich bestätigte) – Präsident Zine el-Abidine Ben ’Ali am Abend des 14. Januar d. J. außer Landes. Seitdem lebt er im saudi-arabischen Djidda in einem vergoldeten Exil.

Unmittelbarer Auslöser der Revolte, die Tunesien in diesem Ausmaß seit einem Generalstreik vom 26. und 27. Januar 1978 und den „Brotpreisunruhen“ vom 27. Dezember 1983 bis 06. Januar 1984 nicht erlebt hatte – die letzte breite soziale Protestbewegung im Juni 2008 erfasste vor allem das Phosphat-Bergbaubecken von Gafsa –, war der Selbstmord eines jungen Prekären. Am 17. Dezember 2010 übergoss sich der 26-jährige Mohammed Bou’azizi in der 40 000 Einwohner/innen zählenden zentraltunesischen Stadt Sidi Bouzid mit einer brennbaren Flüssigkeit, Terpentin, und zündete sich an. Voraus gingen zahlreiche Schikanen durch die örtliche Polizei. Beim letzten Mal hatte eine Polizistin dem jungen Mann, der Abitur hat, aber sein Leben durch „illegalen“ Gemüseverkauf auf dem Markt fristen musste, seine Waren abgenommen. Bou’azizi wollte sich auf dem Polizeipräsidium beschweren, wo man ihn zum Teufel schickte. Daraufhin beging er vor den Türen des Gebäudes seine Verzweiflungstat.

Fünf Tage später, am Abend des 22. Dezember 2010, kam es in derselben Stadt zu einem neuen (weniger bekannt gewordenen) Drama: Der junge Arbeitslose Houcine Neji, 24 Jahre alt, kletterte auf einen Strommasten und stürzte sich vor den Augen einer Menge – die sich inzwischen unten versammelt hatte – in die 30  000-Volt-Leitungen. Unter den Worten „Kein Elend mehr, keine Arbeitslosigkeit mehr“ stürzte er sich in den Tod. Am 26. Dezember stürzte der 34-jährige Lotfi Guadri sich in fünf Kilometer Entfernung von Sidi Bouzid, in Gdera, absichtlich in einen Brunnen und ertrank. Anderthalb Wochen später, am 04. Januar 2011, starb Mohamed Bou’azizi in einem Spezialkrankenhaus in Tunis an seinen Verletzungen.

Doch Mohamed Bou’azizi war nicht allein das Opfer polizeilicher Schikanen. Er wurde auch zum Sinnbild einer „verlorenen Generation“, einer Jugend mit Schul- und oft Hochschul-Abschlüssen, aber ohne Chancen auf einen halbwegs erträglichen Job.

Von der Revolte zur (demokratischen) Revolution
Schon wenige Stunden, nachdem Mohamed Bou’azizi in Flammen gestanden hatte, versammelten sich zahlreiche Elendsgenossen in Sidi Bouzid auf den Straßen und öffentlichen Plätzen. Ihr Protest schwoll schnell an, und in den darauffolgenden beiden Tagen gingen die Niederlassung der Staatspartei RCD (Demokratische Verfassungspartei), Autoreifen und ein Polizeiauto in Flammen auf. Polizisten wurden mit Steinen beworfen. Die sonst übliche bleierne Angst vor den „Sicherheitskräften“ wich der Wut. Die Bewegung breitete sich schnell aus. Am Wochenende des 25. und 26. Dezember 2010 erreichte sie die Hauptstadt Tunis, wo erste Demonstrationen stattfanden. Nochmals massiv verbreitet wurde sie ab dem 03. Januar 2011 durch das Ende der Schul- und Hochschulferien.
Das auslösende Element der Massenproteste, die innerhalb der kommenden anderthalb Wochen die Abdankung des Präsidenten Ben ’Ali erzwingen konnten – nachdem die polizeiliche Repression gegen die Demonstrationen insgesamt 230 Tote gefordert hatte –, war also klar eine soziale Revolte. Dennoch beschränkte sich die Bewegung nicht darauf. Vielmehr wurde der Protest, je schneller er wuchs, de facto zur klassenübergreifenden, demokratischen Massenbewegung, die endlich die bleierne Ruhe von 23 Jahren polizeistaatlicher Diktatur und stickiger gesellschaftlicher Atmosphäre durchbrach. Eine wesentliche Rolle spielten dabei etwa auch die Anwältinnen und Anwälte. Deren Berufsstand (auch wenn er natürlich auch rein gewinnorientierte, dem Regime und/oder der Geschäftswelt nahe stehende Mitglieder hatte) war traditionell politisiert: Als Anwalt oder Anwältin gegenüber einem Staat, dessen Strukturen notorisch korrupt waren, der sich selbst nicht an eine Rechtsbindung hielt, der die eigenen Gesetze übertrat und vielfach Folter praktizierte, tätig zu sein: Dies bedeutete notwendig die Bereitschaft dazu, auch mit den Machthabern im Konflikt zu stehen.

Die Rolle der gewerkschaftlich organisierten Arbeiter- und Angestelltenschaft
Ab der zweiten Januarwoche 2011 trat auch der Gewerkschafts-Dachverband UGTT (Union générale tunisienne du travail, Allgemeine tunesische Werktätigen-Union) in die Protestbewegung ein. Einige seiner regionalen Strukturen und Branchenverbände – entgegen anderslautenden Gerüchten jedoch nicht der Dachverband selbst – riefen für den 14. Januar 2011 die abhängig Beschäftigten zu einem Generalstreik auf. Just an jenem Tag floh Präsident Ben ’Ali, auf Drängen seiner engeren Umgebung hin, außer Landes.

An ihrer Spitze hatte die UGTT zwar bis dahin unter der Kontrolle des Staatsapparats gestanden. Verantwortlich dafür war eine Mischung aus Korruption, Ämterkauf, Repression gegen missliebige Mitglieder oder Gewerkschaftsfunktionäre sowie materiellen Vorteilen für „auf Linie“ befindliche Bürokraten. Eine große Anzahl ihrer Apparatschiks waren gleichzeitig Abgeordnete der Staatspartei RCD. Doch mehrere ihrer Branchenverbände standen bis zuletzt deutlich oppositionell zum Regime. Beispielsweise die Branchengewerkschaft der Mediziner im öffentlichen Krankenhausdienst, der Lehrerinnen und Lehrer, im Post- und im Fernmeldewesen. Ebenso standen mehrere regionale Untergliederungen der UGTT, so im Bergbaubecken von Gafsa – Schauplatz der letzten größeren sozialen Massenrevolte, von Januar bis Juni 2008 –, in Opposition zum Regime wie zur Bürokratie des eigenen Dachverbands. Dabei bildete sich in der letzten Phase des Regimes aus der Verquickung des Gewerkschaftsmilieus mit den Milieus von Frauenrechtlerinnen, widerständigen Anwälten, linken Aktivisten … eine Art „Gegengesellschaft“ heraus.

Auch und gerade nach dem Sturz Ben ’Alis fanden in Tunesien eine Reihe von Streikbewegungen statt. In der Anfangsphase forderten diese oft die Auswechslung von als korrupt verschrienen, durch ihre enge Verbindung mit dem Ben ’Ali-Regime belasteten Direktoren und Betriebsleitern. Was nicht mit dem Bestreben nach Aufbau eines sozialistischen Rätesys­tems in den Unternehmen, wie manche Linke es auf die Situation projizierten, verwechselt werden darf. Im Vordergrund stand der demokratische Aspekt, d. h. der Wunsch nach Auswechslung des Personals der alten Diktatur und nach Beendigung der Korruption.

Ende Januar 2011 beispielsweise „entließen“ die Angestellten der Versicherungsgesellschaft Star ihren Leiter, bei der Nationalen Landwirtschaftsbank wurde der Manager ebenfalls aus dem Amt vertrieben. Und auch beim tunesischen Unternehmerverband, Utica, wurde der bisherige Vorsitzende Hedi Jilani durch Proteste verjagt. Im tunesischen Fernsehen übernahmen Gewerkschafterkomitees zum selben Zeitpunkt vorübergehend die Kontrolle über die Nachrichtensendung.

Auch Monate später fanden weiterhin Aufsehen erregende Streiks in Tunesien statt. Einer der wichtigsten Streiks fand den ganzen Monat Mai und die erste Junihälfte 2011 über bei Tunisie Télécom statt. Seit einer Teilprivatisierung des Unternehmens im April 2006 hatte dieses externe Berater und Manager – mehrheitlich Auslandstunesier – zu, im Vergleich zu den Löhnen des übrigen Personals, astronomischen Gehältern eingestellt. Eine Vereinbarung mit den Streikenden vom 16. Juni 2011 sieht nunmehr vor, dass 53 von 63 der besonders kritisierten Manager gefeuert werden. Bei einem der größten tunesischen Wirtschaftsunternehmen, Poulina Group Holding (PGH), konnten streikende Beschäftigte relativ stattliche Lohnerhöhungen durchsetzen. Hingegen scheiterten sie bei dem Versuch, die Entlassung eines als korrupt verschrienen und mit der Mafia Ben ’Alis in Verbindung stehenden Direktors einer Filiale zu erzwingen: Der Streik wurde mit einer Aussperrung beantwortet, die Streikenden mussten an dem Punkt nachgeben. Dies deutet darauf hin, dass die Forderung seitens der Lohnabhängigen, über die Absetzung eines (in diesem Falle besonders korrupten) Direktors mit zu entscheiden, die „Entscheidungsträger“ ganz besonders störte – stärker als die erhobenen Lohnforderungen.
Beim größten Exportunternehmen Tunesiens, der im Chemiesektor tätigen Groupe chimique tunisien (GTC), konnte die Einstellung von 3 500 jungen Arbeitslosen erzwungen werden. Zu diesem Zweck wurden neue Aufgabenbereiche in dem Unternehmen geschaffen, die sich künftig um die Entgiftung der Umwelt in Südtunesien – wo die Hinterlassenschaften des Phosphatbergbaus bislang in die Landschaft gekippt worden waren –, die Entseuchung von Oasen und Wiederaufforstung kümmern. Insofern war es der Protestbewegung zumindest gelungen, einen gewissen Einfluss auf die Investitionspolitik und die Ziele der wirtschaftlichen Aktivität zu nehmen. Zwar noch nicht so weitgehend wie im Optimalfall einer sozialistischen Selbstverwaltung, dennoch konnte ein Teil der Aktivität des Unternehmens in gesellschaftlich sinnvolle Bahnen gelenkt werden.

Insgesamt jedoch dominiert in Tunesien zur Jahresmitte 2011 eine durch breite Kreise pessimistisch bewertete wirtschaftliche Situation, und damit einhergehend ein Beginn einer gewissen Resignation. Auch wenn man die wahlpolitische Ebene sicherlich nicht überbewerten darf – die Linke sollte die außerparlamentarische Ebene sicherlich höher bewerten –, so wird doch die ziemlich schleppend verlaufende Einschreibung der Stimmberechtigten auf die Wählerlisten für die ersten freien und pluralistischen Wahlen in Tunesien (die am 23. Oktober stattfinden sollen) auch als Indiz dafür betrachtet. In der dritten Augustwoche hatten 50 bis 55 Prozent der Stimmberechtigten sich eingeschrieben. Der Hintergrund für die sich ausbreitenden wirtschaftlichen Befürchtungen: Während der Tourismus in Tunesien im ersten Halbjahr 2011 einen starken Einbruch erlebt hatte, droht ein Teil der (einheimischen wie der internationalen) Bourgeoisie mit dem Abzug ihrer Investitionen ins Ausland und versucht die „zu viel streikende und zu viel protestierende“ Bevölkerung auf diesem Wege einzuschüchtern. Im ersten Semester 2011 erfuhr die tunesische Ökonomie eine Schrumpfung um –7,4 %.

Eine weitere Ebene der Selbstorganisierung, jenseits von betriebs- oder arbeitsbezogenen sozialen Kämpfen, war vor allem in der Anfangsphase der Revolution im Januar/Februar 2011 die Schaffung von Stadtteilgruppen. Diese Erscheinung, die auch in Ägypten beobachtet wurde, beruhte zunächst ebenfalls nicht auf dem politischen Willen zur Errichtung eines sozialistischen Rätesystems, sondern auf örtlichen Notwendigkeiten, die mit der Sicherheit der Bewohner/innen zusammenhing. Im Zusammenhang mit den Umbrüchen gingen viele Polizisten der bisherigen Diktatur unter Ben ’Ali – darunter nicht wenige in Zivil arbeitende Mitglieder der molochartigen Nachrichtendienste, oder Angehörige von besonders repressiven Eliteeinheiten, die fürchteten, unter einem neuen Regime zu „belas­tet“ für eine Karriere zu sein – zu blankem Terror über. In Vororten von Tunis wurde nächtlich wild um sich geschossen, um den Anschein von „Chaos und Anarchie“ (nicht im Sinne der anarchistischen Utopie von herrschaftsfreier Gesellschaft, sondern des bürgerlichen Begriffs von „Unordnung“) zu erwecken. Dadurch sollte der Bevölkerung eingetrichtert werden, dass die Alternative laute: „das bestehende Regime oder das Chaos“. Allgemein sollte ein Unsicherheitsgefühl erweckt werden. Hinzu kam, dass zahllose Strafgefangene – rund 11 000 – während der Umbrüche aus den Haftanstalten fliehen konnten, von denen einige die Gelegenheiten zu Diebstählen nutzten, um sich in der neugewonnenen Freiheit über Wasser zu halten. Vor diesem Hintergrund bildeten sich Nachbarschaftsräte, die beispielsweise als Conseils de quartier (Wohnviertel-Räte) bezeichnet wurden. Selbige sollten sich um die Organisierung der Bewohner/innen zwecks Aufrechterhaltung der Sicherheit auch ohne Polizei, etwa durch gemeinsame Rundgänge oder erhöhte Wachsamkeit im Wohngebiet, kümmern.
Die politische Natur dieser provisorischen Komitees war durchaus schillernd. Die tunesische Armee, die – ähnlich wie in einer allerersten Phase (vor der Abdankung von Präsident Hosni Mubarak am 11. Februar 2011 und dem Antritt einer Militärregierung, des SCAF – Supreme Council of armed forces) zunächst auch die ägyptische Armee – die Revolution begleitete und anders als Polizei und Milizen nicht auf die Protestierenden schoss, genoss in weiten Teilen der Bevölkerung noch ein gewisses Vertrauen. An manchen Orten war sie es, die die Bevölkerung zur Bildung solcher Nachbarschaftsräte aufrief. An anderen Orten hingegen war ihre Schaffung das Ergebnis eines spontan „von unten“ kommenden Prozesses. Auch die Zielsetzung unterschied sich zum Teil von Örtlichkeit zu Örtlichkeit: Mancherorts ging es den Bewohner-inne-n vor allem darum zu zeigen, dass sie auch ohne die „Sicherheits“kräfte des autoritären Regimes auskämen. An anderen Orten, etwa in wohlhabenderen Wohngegenden oder auch manchen Mittelklassevierteln, ging es dagegen eher um Schutz vor Plünderungen und die Abwehr von als Bedrohung wahrgenommenen Regungen der Armutsbevölkerung.

Auf überörtlicher Ebene kam es zunächst zu keinem Zusammenschluss dieser Nachbarschaftsräte, von denen einige auch über die Monate hinweg weitermachten und zum Teil auch zum Forum für politische Diskussionen wurden. In jüngerer Zeit kam es dagegen zu Zusammenschlüssen: Am 07. August 2011 schlossen sich etwa die „Komitees und Räte für den Schutz der Revolution im Großraum Tunis“ (conseils et comités de protection de la révolution du Grand Tunis) auf einem gemeinsamen Treffen in El-Wardia, einem Stadtteil im Süden von Tunis, zusammen. Es gibt allerdings seit Monaten auch auf nationaler Ebene einen „Rat für den Schutz der Revolution“, in dem alle wesentlichen politischen Kräfte – von der radikalen Linken bis zu den Islamisten – vertreten sind: Seine Gründung war zu Anfang des Jahres, im Februar 2011, das Zugeständnis der bürgerlichen Übergangsregierung an die außerhalb von ihr stehenden politischen Kräfte, um ihnen zu versichern, eine gewisse Kontrolle über den Übergangsprozess zu behalten. Ein Teil der radikalen Linken ist jedoch inzwischen der Auffassung, dass man damals in die Falle einer Institutionalisierung getappt sei, da die Aufgaben des Gremiums nicht genau bestimmt seien, während die bürgerliche provisorische Regierung die reale Kontrolle über den Übergangsprozess behalte. Als einen seiner ersten Beschlüsse entschied der Zusammenschluss im Raum an jenem ersten Augustsonntag, eine Kampagne für die Freilassung von jugendlichen Demonstranten zu führen, die bei einer der zahllosen kleineren Protestaktionen der Wochen zuvor und bei Scharmützeln mit der Polizei festgenommen worden waren.