Wikipedia: Das Wissen der Menschheit – jetzt auch auf Kurdisch

Noch ist sie ein zartes Pflänzchen...

Erdal Ronahi

Das Wissen der Menschheit in allen Sprachen und frei verfügbar – dieser Traum rückt durch Wikipedia, die freie Enzyklopädie im Internet, in greifbare Nähe. Seit Januar dieses Jahres ist auch die kurdische Wikipedia online und hofft auf rege Beteiligung.

Prometheus war es, glaubt man der griechischen Mythologie, der die Menschen liebte und ihnen deshalb das Wissen um die Schrift, die Mathematik, die Astronomie, die Viehzucht, die Medizin, die Schifffahrt, die Metallverarbeitung und schließlich das Feuer gab. Der mächtige Götterpatriarch Zeus bestrafte ihn dafür, dass er die Menschen aus der Unwissenheit befreit hatte, indem er ihn an den Kaukasus ketten ließ, wo er 30 000 Jahre lang Qualen litt, bis ihn Herakles befreite. Tatsächlich wollten zu allen Zeiten die Mächtigen, für die Zeus steht, ihr Wissen gern für sich behalten und nicht teilen. So war die Schrift seit den Sumerern für Jahrtausende eine Geheimwissenschaft der Herrschenden, zu dem nur ganz wenige Zugang hatten. In Europa waren noch im Mittelalter Priester praktisch die einzigen, die lesen und schreiben konnten und so Zugang zum geschriebenen Wissen hatten.

Doch zu allen Zeiten gab es auch das Bestreben, Wissen der Allgemeinheit zugänglich zu machen. Befreiungsbewegungen waren immer auch Bildungsbewegungen, in denen verbotenes Wissen weitergegeben wurde. Ob das Wissen mythologisch war, mystisch-religiös, philosophisch oder wissenschaftlich, Wissen der Allgemeinheit zugänglich zu machen bedeutete, Widerstand gegen die Mächtigen und Demokratie zu fördern. Man denke nur an die kurdische Befreiungsbewegung, die auch dafür kämpft, dass Kurdinnen und Kurden ihre Geschichte selbst schreiben und sich in ihrer eigenen Sprache bilden können. Ein Meilenstein in dieser Tradition der Bildung fürs Volk sind die Enzyklopädien. In Enzyklopädien wird das Wissen der Zeit gesammelt und aufgeschrieben. Die Enzyklopädisten der französischen Aufklärung, von denen Diderot, Rousseau und Voltaire nur die bekanntesten sind, waren beseelt von der Ideologie des aufkommenden Bürgertums. Sie wollten mit ihrer Sammlung des gesamten ihnen damals bekannten Wissens die Philosophie und die Wissenschaft gegen die Macht der Religion und der Kirche stärken. Sie schufen ab Mitte des 18. Jahrhunderts die berühmte “Encyclopédie”, die von da an Vorbild für alle weiteren Enzyklopädien wurde, z. B. für die “Encyclopædia Britannica” oder den “Brockhaus”. Mit der Technik des Buchdrucks machten sie das gesammelte Wissen breiteren Volksschichten zugänglich und leisteten so einen bedeutenden Beitrag für die Ideologiebildung aller revolutionären Strömungen, die später in die Französische Revolution mündeten und das alte Regime und die Kirche hinwegfegten.

Seither ist das Grundprinzip aller Enzyklopädien gleich geblieben: Eine mehr oder minder große Redaktion trägt Fachwissen zusammen und ordnet es alphabetisch in einer Buchreihe, die in einer Sprache erscheint. Der gigantische Wissenszuwachs des letzten Jahrhunderts und das Bedürfnis nach demokratischeren Strukturen des Zugangs zu Wissen führten zur Suche nach neuen Lösungen. Keine Redaktion der Welt kann mehr das gesamte relevante Wissen der Menschheit zusammentragen, das beispielsweise in Englisch oder Deutsch vorliegt. Andererseits gibt es in Sprachen wie Kurdisch noch überhaupt keine Enzyklopädien. Überall, besonders aber in Kurdistan, findet Vermittlung von Wissen überwiegend durch die Institutionen der herrschenden Staaten statt, mit deren Ideologie und in deren Sprache.

Eine Antwort darauf stellt die “Wikipedia” dar, eine offene Internet-Enzyklopädie, an der jede und jeder mitarbeiten kann und die in über fünfzig Sprachen gleichzeitig geschrieben wird – Kurdisch ist eine davon. Das Prinzip ist denkbar einfach: Jede und jeder kann mit an der Wikipedia schreiben. Einen Fehler entdeckt? Etwas besser gewusst? Viel Ahnung in einem Fachgebiet? Zack – sofort kannst Du einen Artikel verbessern oder neu schreiben. Einfach abspeichern und schon ist er in der Wikipedia erschienen! Kein Besitzer, keine Kosten, keine Zensur. Offener und demokratischer geht es nicht mehr. Doch kann das funktionieren? Entsteht dabei wirklich eine brauchbare Enzyklopädie? Wer garantiert für die Richtigkeit des Geschriebenen?

Nun, der Erfolg gibt der Wikipedia Recht. Die englischsprachige Sektion wurde als erste erst vor drei Jahren gestartet und umfasst schon über 200 000 Artikel, die gesamte Wikipedia mehr als 500 000 Artikel. Jeden Monat wächst die Wikipedia um mehr als 10 %, bis Ende 2004 wird sie mehr als 1 Mil. Artikel enthalten. Die Beiträge der zigtausend Mitarbeitenden reichen von ein paar korrigierten Rechtschreibfehlern bis zum Überarbeiten, Übersetzen und Verlinken von hunderten von Artikeln. Viele Artikel werden dutzende Male verbessert, erweitert und umgeschrieben, bis sie eine ausgewogene und qualitativ hochwertige Darstellung eines Themas enthalten. Kontroverse Themen werden auf Diskussionsseiten erörtert, bis ein Kompromiss erzielt ist. Vandalismus kommt vor, richtet aber kaum Schaden an, da jede Löschung leicht rückgängig zu machen ist. Überhaupt herrscht eine demokratische und konstruktive Grundhaltung vor, alle wollen etwas beitragen. Denn schließlich ist es ein schönes Gefühl, wenn der eigene Beitrag Teil der größten Sammlung menschlichen Wissens in der Geschichte der Menschheit ist.

Eine Besonderheit stellt dabei die kurdische Wikipedia (http://ku.wikipedia.org) dar, die Anfang 2004 mit einer Handvoll Artikel startete. Noch ist sie ein zartes Pflänzchen, was sich aber bald ändern dürfte. Denn mit der Wikipedia erhalten Kurdinnen und Kurden ein Medium, das sie selbstbestimmt nutzen können. Das gilt sowohl für die Sprache (bisher Kurmancî, Soranî und Zazakî) als auch für die Inhalte. Jahrhundertelang gab es keine wissenschaftliche Bildung auf Kurdisch. Noch immer bestehen massive Hindernisse dafür in Politik und Mentalität, nicht nur in der Türkei. Doch die heutige Internet-Technologie bietet die Möglichkeit, diese Hindernisse zu umgehen. Material für Bildung auf Kurdisch kann so an jedem Punkt der Welt geschaffen werden, auch an deutschen Unis. Und die Möglichkeiten von Wikipedia sind unbegrenzt: Noch kein Artikel über dein Dorf vorhanden? Dich reizt die Herausforderung, etwas über dein Studienfach auf Kurdisch zu schreiben? Es gibt nur eine Regel: “Sei mutig!”

Natürlich freuen sich auch die deutsche oder die türkische Wikipedia über Beiträge, aber nötiger hat sie die noch junge kurdische. Insbesondere sie hat eine größere Mission als nur ein Nachschlagewerk zu sein. Sie kann als aufklärerisches Medium zu einem Stück demokratischem Aufbau auf dem Weg in die demokratische Zivilisation werden. Dann hätte sie mehr als, sagen wir, die japanische oder die arabische ihren Untertitel wirklich verdient: “ansîklopediya azad”, die freie Enzyklopädie.