Dersim - Zentrum des Widerstandes

Von Ercan Ayboga, YXK - Darmstadt

Der Name dieser Provinz war bis 1937/38 , wie sie von der Bevölkerung weiterhin noch genannt wird, Dersim. Die türkischen Machthaber haben nach dem barbarischen Massaker im Jahr 1937/38 den Namen der Stadt in Tunceli (türkisch: eiserne Hand) umgeändert, was soviel heißen soll wie „Ich werde euch mit eiserner Hand vernichten”.

Die besondere geographische Lage dieser Stadt bot den Aufständischen Rückhalt und eine Fremdherrschaft konnte sich in ihrer ganzen Geschichte nicht festsetzen. Aus diesem Grund ist Dersim in seiner geschichtlichen Rolle zum Silbernen Tor Kurdistans geworden, das die Kolonialisten nicht durchlässt.

In der kurdischen Sprache bedeutet „Der” Tor und „Sim” Silber. Dieser Name kommt von den Dersim umgebenden Bergen, die sehr steil sind und an ihren Durchgängen wie ein Tor erscheinen und silbrig leuchten. Diese Bergkulisse war für die Eroberer immer ein wichtiger strategischer Punkt.

Geographie

Der geographische Raum Dersim hat eine Fläche von ca. 7.800 km2 und bezieht sich auf jenes Gebiet, in dem die KurdInnen 95% der Bevölkerung stellen. Heute beträgt die Zivilbevölkerung gerade mal ca. 70.000 Menschen, halb soviel wie vor dem Beginn des Spezialkrieges des türkischen Staates ab 1992.

Dersim liegt an einer Stelle, wo sich das anatolische Hochland, Ararathochland, Obermesopotamien und die Berge des Schwarzen Meeres treffen. Nord-nordwestlich von Dersim fließt der Fluss Euphrat von Osten kommend vorbei. Dann führt er an Dersim vorbei in Richtung Südwesten. Der Süden von Dersim wird vom Fluss Murat abgegrenzt. Südwestlich von Dersim ist der Keban- Staudamm errichtet, was zur Folge hat, dass der ganze Murat südlich von Dersim in einen Stausee umgewandelt wurde.

Dersim ist ein sehr bergiges Gebiet. Hier verlaufen die nördlichsten Ausläufer des Osttaurus-Gebirges von West nach Ost. Diese treffen hier die südlichen Ausläufer der Schwarzmeer-Berge. Dersim hat im Norden die kaum bewaldete Bergkette Munzur/Mercan, mit einer Höhe von bis zu mehr als 3300 Metern. Die Gesteine haben einen metamorphen und vulkanischen Charakter. Felsen treten an besonders vielen Stellen hervor. In den höchsten Lagen liegt sogar im Sommer noch Schnee.
Nach Süden hin werden die Berge zerklüfteter, niedriger und bewaldeter. Besonders in den Flusstälern ist der Waldbewuchs verbreitet. Ursprünglich war Dersim viel bewaldeter als es heute der Fall ist. In Kurdistan gehört Dersim zu den bewaldetsten Regionen.

Die Provinzhauptstadt Dersim befindet sich genau dort, wo der aus dem Nordwesten kommende Fluss Munzur und sein aus dem Nordosten kommender Nebenarm Harcik sich treffen. Der Munzur hat eine Gesamtlänge von etwa 144 km bis zur Mündung in den Keban-Stausee, der Harcik-Fluss dagegen ist etwa 69 km lang. Der Munzur ist ein relativ sauberer Fluss. Menschen holen sich in der Stadt Dersim noch selbst Wasser aus dem Fluss, um es zu trinken.
Im Fluss Munzur gibt es seltene Arten von Fischen. Vor allem die Forellen, die rot gefleckt sind und die zu den schönsten ihrer Art auf der Welt gehören, sind hier zahlreich anzutreffen.

Auf den Gipfeln, an den Hängen und in den Tälern dieser Berge befindet sich eine der reichhaltigsten wildwachsenden Pflanzen- und Tierwelt des Nahen Ostens. Bergziegen, Bergschafe, Bären, Wildschweine, Wölfe, Schakale, Füchse, Hasen, Steinmarder, Stinktiere, Dachse, graue Eichhörnchen, Igel, Kriechtiere jeder Art (Eidechsen, Schlangen usw.); Luchse, Fischotter, Schildkröten, Frösche sind hier anzutreffen. An Vögeln gibt es Falken, Wanderfalken, Wachteln, Sperber, Geier, Adler, Eulen, Rebhühner, Kraniche, Störche, Tauben, Gänse, Papageien, Nachtigallen, Schwalben, Spechte, Wiedehopfe, Amseln, Raben und Fledermäuse. Darüber hinaus sind die Berge mit hunderten verschiedenen Pflanzen und Blumenarten bedeckt: Tulpe, Hyazinthe, Narzisse, Schneeglöckchen, echte Kamille, Veilchen, wohlriechender Gänsefuß, Anafatma, Tragant, wilder Thymian usw. Hagebutte, wildwachsende Äpfel und Birnen, Pflaumen, Walnuss und Zeder gehören dazu. Einige Orte - zumeist in den hohen Lagen - sind für die Bevölkerung heilige, religiöse Orte, wie z.B.: Dûzgîn Bava, Munzur Bava, Sultan Bava, Arap kizi.
Folgende Baumarten wachsen in Dersim: Eiche, Buche, Weide, Pappel, Walloneneiche, Spitzahorn, Birke, Schwarzerle usw.

In der Region Dersim herrscht Festlandsklima. Die Sommer sind heiß und trocken, die Winter kalt und sehr schneereich. In Pertek und Mazgirt ist das Klima etwas milder, was auf den in den 50er Jahren gebauten Keban-Staudamm zurückzuführen ist. Die Jahreszeiten mit den meisten Niederschlägen sind Frühjahr und Winter. In den hohen Bergen beginnt es schon sehr früh zu schneien.

Geschichte

Das heutige Dersim wurde von den Hethitern, die um 2000 v. u. Z. ihr Reich gründeten und das bis 1500 v. u. Z. unter ihrem Einfluss stand, ISSUVA genannt. Als dann das Hurri-Mitanni-Reich entstand, geriet es mehr unter deren Einfluss, blieb aber im Endeffekt immer unabhängig. In den Jahren 1400-1385 v. u. Z. versuchten die Hethiter Dersim zu erobern; doch wurden sie von der Bevölkerung von Issuva bis nach Meledi (Malatya) zurückgeschlagen.

Einige Zeit später hatten die Hethiter unter Suppiluliuma I. (1375-1335 v.u.Z.) gemeinsam mit dem Hurri-Mitanni-Reich Nordsyrien den Krieg erklärt und dabei das Gebiet Issuva erobert. Kurze Zeit später schwächte sich die Vorherrschaft über Issuva wieder ab. 1335 wurde das jetzt AZZI-HAYASA genannte Gebiet vom Hethiter-Herrscher Mursili II. unter Kontrolle gebracht. Die Annalen dieses Herrschers berichten, dass die Bevölkerung dieses Landes in verstärkten Festungen wohnte, eine sehr gut ausgebildete Armee besaß und Pferdefuhrwerke für Kriegszwecke verwendete.
Nachdem sich das Hethiterreich im 12. Jh. v. u. Z. auflöste, begannen die Assyrer mit Eroberungszügen in Mesopotamien. Diese nannten die Menschen in Dersim zur damaligen Zeit Muski. Der Einfluss der Assyrer nahm um 1000 v.Chr. in der Region wieder ab.

Dann gewannen im 9. Jh. die Urartäer, welche die Nachfolger der Hurriter darstellten, im Ararat-Hochland an Stärke und gründeten um den Van-See ein Reich, das sich bis Erzingan erstreckte. Wie sehr Dersim insgesamt unter deren Herrschaft geriet, ist weniger bekannt. Aber es wird von vielen Geschichtsforschern gesagt, dass die Urartäer, die eine der vielen Vorgänger der heutigen Kurden waren, eine direkte Verbindung zu den heutigen Dersim-Kurden besitzen.

Das Aufblühen des Urartu-Reiches währte nur kurz, dann wurden sie von den Assyrern auf ihr Kernland zurückgedrängt. Trotz eines langen Widerstandes gegen die Assyrer geriet die Region um das heutige Dersim im 8. Jh. unter deren Herrschaft. Nach der Entstehung des medischen Reiches im Zagros-Gebirge 612 v. u. Z. mit dem Sieg über das assyrische Reich, geriet alles bis zum mittelanatolischen Fluss Hatti (Kizilirmak) unter die Herrschaft der Meder. Jetzt fand u.a. eine Annäherung zwischen den iranischen Völkern und Kulturen dieser Region, die im medischen Reich lagen, statt, aus der bekanntlich die Kurden hervorgegangen sind.

Hier in Dersim haben die Meder unauslöschbare Spuren, vor allem im Bereich der Religion hinterlassen. In dieser Phase wurde die Bevölkerung Dersims von der verbreiteten Religion Zarathustras stark beeinflusst. So haben große Teile der Bevölkerung bis heute noch viele ihrer Eigentümlichkeiten bewahrt und die Traditionen lebendig gehalten.

Nachdem die Perser das Mederreich 550 v. u. Z. stürzten, geriet ganz Kurdistan unter persische Herrschaft. So musste Dersim ab diesem Zeitpunkt jedes Jahr 400 Talaton Silber und 20000 Pferde als Steuern an die Perser bezahlen. Dersim lag in der Satrapie - das persische Reich wurde in Satrapien aufgeteilt - Medya, daneben gab es noch die medischen Satrapien Kappadokien und Mesopotamien, die Kurdistan umfassten.

Alexander der Große erringt durch einen Sieg 334 v. u. Z. die Macht über Kurdistan und das persische Reich. Es gelingt ihm aber nicht, eine dauerhafte Herrschaft durchzusetzen. Wegen neuer Eroberungen macht er sich auf den Weg Richtung Indien. Diese Gelegenheit wird vom Volk genutzt. Es kommt zu Aufständen, besonders in der Umgebung von Dersim, die von Alexander dem Großen nicht niedergeschlagen werden können. Nach seinem Tod jedoch marschiert der von ihm eingesetzte Perdikkas mit seiner Armee in Dersim ein, schlägt die Aufstände nieder und gliedert die Stadt Mazedonien ein. Im Jahre 301 v. u. Z. wird Kappadokien gegründet, in dem Dersim auch bis 230 v. u. Z. eingegliedert wird.

Im Jahre 140 v. u. Z. kommt Dersim unter den Einfluss der aus dem Osten kommenden Parther. Die politischen Auseinandersetzungen in dieser Phase laufen sehr kompliziert und verworren ab. Abwechselnd herrschen mal die Parther, mal die Römer. Wegen dieses ständigen Hin und Hers kommt es zu keiner stabilen Herrschaft.

Die Erben des Parther-Staates, die Sassaniden, bekämpfen zunächst die ab 240 v. u. Z. von Westen eindringenden Römer, die eine längere Zeit, von 50 v. u. Z. bis 395 u. Z., Dersim (hier wird allerdings keine starke Herrschaft aufgebaut) und Nordwestkurdistan erobern und es beherrschen. Dann finden gegen die Nachfolger der Römer, die Byzantiner, Kämpfe statt. Auch in dieser Epoche kann keine Rede von Stabilität in der Region sein, bis die Sassaniden im Jahre 503 wieder die Herrschaft über Dersim erlangen. Da Dersim eine gebirgige Region ist, war es für die Sassaniden jedoch, genauso wie für alle Staaten während der Geschichte, ein schwer zu kontrollierendes Gebiet und daher blieb auch ihre Herrschaft instabil.

634-644 u. Z. dehnten sich die arabisch-islamischen Eroberungszüge in Richtung Nordkurdistan nach Anatolien aus. Der armenische Gouverneur Sembat, der im byzantinischen Reich herrschte, unterlag den arabischen Eroberungszügen. Und somit wurden Dersim und Erzingan zu einer Provinz der Araber. Zwischen 653 und 699 geriet Dersim unter die Herrschaft der Byzantiner und wurde 699 vom Kalifen Abdul Malik (685-705) wieder zurückerobert. In den Jahren 705-847 u. Z. war Dersim eine Pufferregion zwischen byzantinischen Herrschern und arabischen Kalifen. Ein 847 für Dersim vom Kalifen ernannter Gouverneur wurde von Aufständischen in Dersim getötet. Aufstände gegen die beiden ständig wechselnden Herrscher spielten eine sehr große Rolle. Diese richteten sich vor allem gegen die Araber, die zwar in den meisten Gebieten Kurdistans ihre Herrschaft im 8. Jh. errichten, aber in Nordwest-Kurdistan, dabei vor allem in Dersim, nicht erfolgreich waren.

Gegen Mitte des 11. Jhs. fand eine massive Einwanderung der aus Mittelasien stammenden türkischen Stämme via Kurdistan nach Anatolien statt.

Ende des 14. Jh. wurde Dersim vom türkischen Herrscher Timur angegriffen und geplündert. Nach der Bezwingung des safawidischen Königs Schah Ismail 1514 durch die Osmanen im Caldiran-Krieg gewannen die osmanischen Eroberer einen erheblichen politischen und militärischen Einfluss im Gebiet Kurdistan und fingen an, militärische Stützpunkte, Gefängnisse, Moscheen, Bildungszentren (Medressen) und amtliche Gebäude zu errichten. Als die Kurden diesen Etablierungsversuch der Osmanen ablehnten und gegen sie rebellierten, begann der militärische Konflikt zwischen beiden Seiten.

Obwohl die Türken seit dem 11. Jh. mehrere Annexionsversuche des Gebietes unternahmen, stießen sie immer wieder auf die starke Verteidigungsbereitschaft der Dersim-Kurden. Es wurde gesagt, dass „der Feind nicht den Mut habe, das Volk in diesem steilen Gebirge anzugreifen”.

So gab es in der neueren Zeit militärische Auseinandersetzungen in den Jahren 1862-1866, 1877-1878, 1907, 1908, 1909, 1912, 1914 und 1916, von denen keine mit der Niederlage Dersims endete. Während des 1. Weltkrieges arbeiteten die Dersim-Kurden in gewissem Maße mit den bis Sewas (Sivas) vorgedrungenen Russen zusammen. Die Spannungen hielten auch danach an. So gab es einen Kampf des Dersim-Kurdenanführer Seyit Riza 1924 mit der türkischen Armee.

DAS DERSIM-MASSAKER 1937/38:

Nach der Niederschlagung des Seyh Sait Aufstandes 1925 in mehreren Regionen und der damit errungenen Kontrolle über weite Teile Nordkurdistans, war vor allem Dersim immer noch nicht beruhigt. Die dortige Kraft der Kurden war noch nicht zerschlagen. Auch ein Vernichtungskrieg gegen die Bewohner des Südens von Dersim 1926 brachte nur einen sehr begrenzten Erfolg. 1930 wurden etwa 10.000 Menschen aus Nord-Dersim (Pilemori und Erzingan) in westliche Gebiete der Türkei deportiert. Ziel dieser Aktionen war es, Dersim Schritt für Schritt zu schwächen. Die Angst vor einer direkten Auseinandersetzung mit dieser Burg des Widerstandes war sehr groß.

Nach dem Scheitern des Ararat-Aufstandes 1928-1932 wurde ein lang ausgedachter Plan gegen Dersim erarbeitet, der 1935 konkretisiert wurde, weil die bisherigen Handlungen kaum erfolgreich waren. Gegen die Bevölkerung wurde ein hartes, gewaltsames Gesetz (Tunceli Kanunu) herausgegeben, wonach die Bewohner Dersims zur Deportation freigegeben und den Kommandanten alle Rechte des Ministeriums übergeben wurden. Zur gleichen Zeit häuften sich die Überfälle der Armeeeinheiten auf die kurdischen Dörfer in der Region Dersim. Unter dem Vorwand, Waffen zu suchen, wurden die Menschen zusammengetrieben, gefoltert, vertrieben und ihre Ernte vernichtet. Die Bevölkerung Dersims wehrte sich gegen die Türkisierung und die damit verbundenen ständigen Überfälle der türkischen Militäreinheiten auf ihre Frauen und Kinder.

Der Kampf begann, nachdem alle Verhandlungsversuche der kurdischen Bewohner von der türkischen Regierung abgelehnt wurden, mit einem Überfall von einigen Stämme unter der Führung des kurdischen Yusufhan-Stammesführers Kamber Agha Ende 1936 kurz vor dem Winter. Infolgedessen wurden der Türkei schwere Verluste zugefügt. Daraufhin wurde in der Türkei eine Mobilmachung ausgerufen und über 100.000 Soldaten nach Dersim verlegt. Im Frühling flammten schwere Kämpfe auf. Die ersten Invasionspläne scheiterten. Zerschlagen zog sich die Armee zum größten Teil für kurze Zeit nach Elaziz zurück, wo sie sich auf den neuen Feldzug vorbereitete. Die türkische Armee machte besonders ab dem Sommer alles - Menschen, Dörfer, Äcker, Gärten, etc. - dem Erdboden gleich. Tausende, die aus Naivität den türkischen Versprechungen gefolgt waren und sich ergeben hatten, wurden kaltblütig ermordet. Der Herbst 1937 war für die Einwohner Dersims sehr schwer. Mehrmalige Aufrufe der kurdischen Widerstandsführer - unter ihnen war auch Aliser und seine Frau Zarife, die am Aufstand 1921 in Kocgiri führend beteiligt waren - an die Weltorganisationen waren erfolglos. Seyit Riza schlug den türkischen Behörden wieder Neuverhandlungen vor, die vom türkischen Staat angenommen wurden. Als er für Verhandlungen nach Erzingan ging, wurde er festgenommen.

Noch im gleichen Jahr wurde er in Elaziz mit anderen Anführern gehängt. Seine letzte Worte lauteten: „Ich bin 75 Jahre alt und werde zu einem der Märtyrer Kurdistans. Dersim verliert, doch werden die Kurden und das Kurdentum weiterleben. Unsere kurdischen Kinder und Enkel werden uns rächen. Nieder mit den Barbaren! Nieder mit den Verrätern und Lügnern!” Etwa zur gleichen Zeit wurde Aliser durch einen Verrat des berühmtesten Verräters in Dersim, Raiber, ebenfalls ermordet. Ohne Führung konnten die türkischen Truppen unter Einsatz der Luftwaffe gegen einen nicht koordinierten Widerstand vorgehen und Dersim vollständig zerstören.

Zunächst war der Westen Dersims das Zentrum des Aufstandes, während der Osten sich relativ ruhig verhielt. Als der Völkermord auch den Osten erreichte, entstand dort ein Aufstand, der ebenfalls blutig niedergeschlagen wurde. 1938 erreichte der Genozid seinen Höhepunkt. Nun wurde auch in Zentral-Dersim systematisch Dorf für Dorf mit seinen Bewohnern vernichtet. Viele Menschen flüchteten in die hohen Berge und Höhlen. Auch hier wurden sie durch verschiedene Verräter ausgeliefert. Manche Höhlen wurden zugemauert, manche mit Giftgas in einen Ort des Sterbens verwandelt. Fliehende Menschen warfen sich in tiefe Täler, um nicht gefangen genommen zu werden. Besonders Frauen entkamen so einer Vergewaltigung. Das Tal Lac ist hier sehr berühmt. Hier floss so viel Blut in den Munzur-Fluss, dass dieser tagelang blutgetränkt war.

Schätzungsweise starben bei diesem grauenvollen Massaker 50.000 bis 80.000 Menschen. Noch mal so viele wurden in den Westen deportiert. Dieses Massaker hinterließ bei den Dersim-Kurden bis heute sehr entscheidende, deutliche Spuren.

Sprache und Religion

In Dersim spricht ca. 70% der Bevölkerung den Kirmancki (Dimili, Zazaki) Dialekt bzw. Sprache; der andere Teil die in Kurdistan am weitesten verbreitete kurdische Sprache Kurmanci (es ist zutreffender, wenn wir von kurdischen Sprachen als von Dialekten sprechen). Die letztere Sprache wird in den südlichen Gebieten Dersims benutzt: in ganz Dep (Karakocan) und Pertek, in einem Teil von Hozat und Cemisgezek, in den meisten Gegenden von Mazgirt und in drei Dörfern von Nazmiye.
Es ist bekannt, dass Kirmancki - die älteste der kurdischen Sprachen - bis zur islamischen Eroberung von Kurdistan im 7. Jh. in Nord-Nordwest-Kurdistan sehr verbreitet und Kurmanci dagegen auf Botan-Behdinan und die dortige nähere Umgebung begrenzt war. Als sich die Situation änderte, wirkte sich dies in Dersim so aus, dass Kirmancki sich im Norden und in der Mitte behaupten konnte, aber im Süden von Kurmanci verdrängt wurde. Dieser Umstand ist vor allem mit der extremen gebirgigen Region Dersims zu erklären. Hier konnte sich Kirmancki wie in den Regionen Varto-Hinis, Genc-Lice-Hazro und Siverek-Cermik aufrechterhalten.

Man könnte in gewisser Weise Kirmancki als die älteste und die Sprache der Kurden aus den Bergen bezeichnen. Weil sich diese kurdische Sprache aus gegebenen Gründen nicht viel fortentwickelte, konnte sie ihre Reinheit, wie sie vor einigen tausend Jahren gesprochen wurde, bewahren. Dagegen ist Kurmanci und Sorani die Sprache der Kurden aus den Ebenen und Städten.

Die Religion der Dersim-Kurden ist zu nahezu 100% alevitisch. Alle Kurden in der Region Dersim sind Aleviten. Daneben gibt es einige angesiedelte sunnitische Türken in Mazgirt, Pertek und Cemisgezek. In geringer Anzahl kann man im Süden auch sunnitische Kurden antreffen.
Der Berg Dûzgîn Bava (Name eines der ersten Mystiker) ist heute der heiligste Ort der alevitischen Kurden in Dersim. Die Menschen besuchten ihn regelmäßig, bis es durch den Krieg nicht mehr oder nur schwer möglich wurde.

Der Fluss Munzur und sein Tal hat für die Region Dersim eine überragende Bedeutung. Neben der Versorgung mit Wasser, Fischerei und anderen wirtschaftlichen Aspekten besitzt der Munzur in den Augen der Menschen einen „heiligen” Stellenwert. Er nahm und nimmt über Jahrhunderte hinweg eine herausragende Stellung im kulturell-religiösen Leben ein. Er wird mit fast allen Mythologien, Sagen und Überlieferungen in Dersim in direkte Verbindung gebracht. Die Munzur-Sage gehört zusammen mit der Dûzgîn Bava Sage zu den bekanntesten Erzählungen.

In der Neuzeit, vom Ende des 16. Jh. bis zum Ende des 19. Jh. fanden wesentliche Veränderungen im sozioökonomischen und religiösen Leben, in der Ideologie und Kultur der Dersim-Kurden statt. Dersim, das von rückständigen Feudalgesellschaften umgeben war, bewahrte noch Mitte des 19. Jh. im wesentlichen die frühere patriarchalisch-feudale Ordnung. Für die erwähnte Periode war die vollständige oder teilweise Sesshaftwerdung und der Übergang zu Ackerbau und Viehzucht eines bedeutenden Teils der Dersim-Kurden die einzige ins Auge fallende Veränderung.

Staudammprojekte

In der Region Dersim sollen insgesamt acht Staudämme gebaut werden, wovon zwei schon praktisch fertig gestellt sind und in Kürze in Betrieb genommen werden sollen. Von den anderen sechs Staudämmen sind zwei an ein internationales Konsortium vergeben worden. Die anderen vier Dämme sind noch im Masterplan.

Die Staudammprojekte würden bei ihrer Realisierung den natürlichen Reichtum Dersims zerstören. Sie betreffen vor allem ein Gebiet, welches 1971 durch den türkischen Staat als Nationalpark unter Schutz gestellt wurde und in dem solche Eingriffe eigentlich unzulässig sind.
Für die Bevölkerung der Region hat der Fluss Munzur ebenso wie die Berge eine hohe kulturelle Bedeutung. Er wird vielfach als heilig verehrt, ist Ort und Gegenstand von Sagen und Mythen. Seine Vernichtung zielt direkt auf die Identität der in Dersim lebenden oder von dort stammenden Menschen ab. Sie ist die Fortsetzung einer durch zwangsweise Assimilation, Ermordung, Vertreibung, Umbenennung und Vernichtung von Dörfern und Verbot der kurdischen Sprachen (Zazaki und Kurmanci) sowie religiöse Diskriminierung geprägten Politik.