"Turnvater" Jahn

Die Assoziation zum Stichwort "Turnvater Jahn" sind gemeinhin Fotos von Turnerriegen aus dem Kaiserreich. Unwillkürlich schieben sich vor das geistige Auge paramilitärische Formationen, die wie Karikaturen einer freien körperlichen Bewegung anmuten.

Überraschenderweise aber ist das Leben Jahns gekennzeichnet durch seine Unfähigkeit zu diszipliniertem Verhalten.

1778 als Sproß einer Pastorenfamilie (dritten Generation, väterlicherseits), in einem Dorf in der Mark Brandenburg geboren, genießt er viel Freiheit, die unabhängig ist von finanziellen Ressourcen der Familie. Die Mutter lehrt ihn lesen und schreiben, der Vater Latein.

1791 wird er in seinem 14. Lebensjahr in das Gymnasium in Salzwedel aufgenommen. Erstmals lernt er die Schuldisziplin kennen. An schriftliches Arbeiten und Stillsitzen will er sich nicht gewöhnen. Von kräftiger Statur ist er bei jeder Prügelei dabei. Täglich ist sein Name im Strafbuch der Klasse zu finden, bis der Vater ihn endlich aus der Schule nehmen muß.

Nächste Station ist ab 1794 das "Gymnasium zum Grauen Kloster" in Berlin. Dort reibt er sich an den "Stadtsöhnchen". Als er eines Tages verschwindet gibt der Anstaltsleiter eine Vermißtenanzeige auf.

Eckardt gibt dazu eine wilde Geschichte zum Besten, Günther Jahn (nicht verwandt mit F. L. Jahn) schweigt zu den Gründen:

"Nicht jugendlicher Leichtsinn hatte ihm den Streich eingegeben. Zwei Freunden hatte er Geld geliehen. Sie täuschten ihn, er kam in den Verdacht der Unterschlagung und erhielt im Examen die schändlichsten Noten. Seelisch und körperlich völlig gebrochen suchte er das Weite. Zu Hindenberg in der Altmark, im Hause eines alten Kameraden, fällt er in schweres Nervenfieber. Doch der starke Körper siegt. Jahn kehrt heim ins Vaterhaus."

Ohne Abschluß bezieht Jahn die Universität. Auch dort wiederholt sich das Muster seiner kurzen Schullaufbahn beständig. Anstehenden Prüfungen versteht er auszuweichen. Sieben Studienjahre verbringt er an unterschiedlichen Universitäten. Während dieser Zeit besitzt er kaum ein Buch und führte nie ein Heft. Der Beginn seiner Odyssee ist Halle. Die dort geforderte Aufnahmeprüfung hat er nie abgelegt. Er ist ständig in Geldnot. Ein dubioser Roman "Dya-na-Sore" wird zum inhaltlichen Vorbild seines weiteren Wirkens. Voll Begeisterung verfaßt er eine Schrift mit dem Titel "Über die Beförderung des Patriotismus im Preußischen Reiche"

"Er muß sie in schlimmster Geldnot für 10 Taler an einen Studenten Höpffner verkaufen. Unter dessen Namen ist sie 1800 herausgekommen."

Jahn tritt einem Geheimorden, den "Unitisten" bei. Den studentischen Verbindungen, Kränzchen genannt, erklärt er 1798 den Krieg. Ihn stört vor allem die "Duellwut".

Vier Einträge finden sich in den Akten des Universitätsrichters, u. a. zu Zwistigkeiten, Beleidigungen und bespritzen von Personen aus dem Fenster.

Jahn geht von Halle nach Frankfurt a.d. Oder (1801/02), wo er wegen der Erneuerung des Ordens relegiert wird. D.h. keine Hochschule darf ihn mehr annehmen.

Unter dem falschen Namen "Andreas Christlieb Moritz Fritz" taucht er danach an der Universität Greifswald auf (1802/03). U.a. hört er dort bei Ernst Moritz Arndt.

Jahn verläßt die Universität, auch diesmal nicht freiwillig, ohne Abschluß. Es folgt eine ca. 2 jährige Hauslehrerzeit. In dieser Zeit veröffentlicht er 1804, die "Bereicherung des deutschen Sprachschatzes". 1805/06 versucht er sich noch einmal als Student ein Semester lang in Göttingen.

Während des Krieges (Schlacht bei Jena u. Auerstedt) vagabundiert er in Norddeutschland herum. Im geheimen Regierungsauftrag übernimmt Jahn Kurierdienste.

1809 geht er nach Berlin. Er kommt unter in einer Privatschule. Wegen seiner Verdienste als "Agent" winkt eine Oberlehrerstelle in Königsberg. Er fällt jedoch durch die formal von ihm geforderte Prüfung. Er arbeitet weiter als Hilfslehrer in Berlin und macht dort die Turnerei populär. Jahns Schrift "Deutsches Volkstum" wird in Berlin gedruckt, aber erst 1810 in Lübeck verlegt.

"Diese ungewöhnliche Schrift, die vieles zusammenfaßt, was in den niederdrückenden Verhältnissen Deutschlands zu sagen Not tat, hat auf die gebildete Welt doch einen tiefen Eindruck hinterlassen; nach 1815 wurde sie gewissermaßen zur Pflichtlektüre der Burschenschaften."

Angeregt durch die Rektoratsreden Fichtes nimmt Jahn den Entwurf einer neuen Studentenvereinigung in Angriff. Er setzt es durch, dass die Ordnung in Berlin und an anderen Universitäten bekannt gemacht wird. Sie enthält 48 Paragraphen:

"Jeder Bursche müsse sich 'deutsch ausbilden für Volk und Vaterland, leiblich und geistig' (§ 14). Über alles müsse ihm das deutsche Volk und das deutsche Vaterland gelten, und er müsse 'deutsch sein in Worten, Werken und Leben' (§18). ' Die Landsmannschaften ... widersprechen dem Begriff von einem einzigen deutschen Volke und sind der deutschen Volksthümlichkeit zu offenbar feindlich und verderblich' (§24)."

"Endlich ist die Stunde der Erhebung gekommen. Mit Schwert und Feder ist Jahn von 1813 bis 1815 tätig. Er meldet sich als einer der ersten Freiwilligen bei den Lützowern, wird ihr Werber und Bataillonsführer. Er ist in politischer Sendung in Frankfurt a. M., beim Wiener Kongreß und in Paris. ... Nach Berlin zurückgekehrt erhält Jahn auf Vorschlag Gneisenaus für seine Verdienste um die Befreiung des Vaterlandes einen Ehrensold von jährlich 800, später von 1000 Talern."

Dieser Ehrensold ist die lebenslange Absicherung Jahns, er wird auch während seiner knapp sechsjährigen Haftzeit weitergezahlt. Obwohl es sich um keine kleine Summe handelt, ist Jahn in ständiger Geldnot, außer seiner vorübergehenden Lehrertätigkeit hat er Zeit seines Lebens keinen Brotberuf ausgeübt.

Von 1814 bis 1817 steht Jahn auf dem Höhepunkt des Erfolges. Es gibt 12000 Turner in 150 örtlichen Vereinen.

"Jahns großer Erziehungsplan war: Vaterhaus und Familienleben für das Kind, der Turnplatz für den Knaben und Jüngling, die Burschenschaft für den Studenten, Volks- und Staatsleben für den Mann. Jahn ist der Begründer der Burschenschaft und hat dadurch ein geschichtliches Verdienst. Die Geschichte dieser Vereinigung erkennt es dankbar an. Alle Studenten wollte er vereinigt sehen zu gleicher Gesinnung in einem großen Verein statt der Orden, Kränzchen, Landsmannschaften, die unter sich abgeschlossen miteinander in engherzigen Zänkereien und kleinlichen Streitigkeiten lagen, ein Abbild unserer deutschen Uneinigkeit und Zersplitterung."

Jahns "Einfluß auf die 'Urburschenschaft' in Jena, wie man später alle Gründungen in der Zeit von 1815-1819 nannte, zeigt sich schon in den Verfassungen ihrer Vorläuferinnen, der 'Teutonia' in Halle und der 'Wehrschaft' in Jena Ende 1814: Deutsche Einheit, Volkstümlichkeit, Leibesübungen, 'Ehre, Freiheit, Vaterland'. Die Urburschenschaft war eine nationalpolitische Bewegung ... "

Die Farben der Burschenschaft gehen auf die Lützower Farben zurück. Der Rock war schwarz, weil wegen mangelnder Uniformen Normalkleidung schwarz gefärbt worden war, mit roten Biesen als einziger Schmuck und "goldenen" Knöpfen, d.h. Messingknöpfen versehen.

Am 18. Oktober 1817 feiern die Burschen den Sieg über Napoleon vor 4 Jahren und Luthers Glaubenskampf vor 300 Jahren.

"Die Wartburgfeier war eine Vereinigung und Verbrüderung der deutschen Studenten, wie sie dem Turnvater seit seiner eigenen Studentenzeit vorschwebte, und wie er sie mit der Begründung der Burschenschaft angestrebt hatte. Angehörige dieser Richtung kamen am 18. Oktober 1817 auf der Wartburg zu fröhlicher Feier und ernstem Beschluß zusammen. Der Ort, geweiht durch Geschichte und Sage wie wenige in Deutschland, der ganze geschichtlich-vaterländische Hintergrund weisen auf Jahn."

Der abwesende Jahn wird in Liedern und Festreden gefeiert. Es findet eine Bücherverbrennung statt für die Maßmann, ein Schüler Jahns das Verzeichnis der zu verbrennenden Schriften von Jahn erhalten haben soll. Unter den Titeln befindet sich auch der "Codex der Gendarmerie" dessen Autor von Kamptz ist.

Der König beauftragt Polizeidirektor von Kamptz mit der Untersuchung des Wartburgfestes. Dieser sorgt dafür, das Jahn für fast sechs Jahre inhaftiert wird, unter dem Vorwurf er habe Meuchelmord an Staatsdienern gebilligt.

Der Haftzeit folgt trotz Freispruch ein jahrzehntelanger Aufenthalt auf dem Lande unter behördlicher Aufsicht.

1840 wird Jahn durch Friedrich Wilhelm den IV. amnestiert. Im gleichen Jahr erhält er das Eiserne Kreuz. 1842 wird das Turnen in Preußen wieder zugelassen und als Schulfach eingeführt. 1848 wird Jahn für die Nationalversammlung in der Paulskirche gewählt. Er blieb darin Abgeordneter bis zu ihrer Auflösung im Mai 1849. Jahn gewinnt wieder Popularität als "Turnvater" und stirbt 1851 an einer Lungenentzündung.

 

Kraftmeier, Raufbold, Populist mit einer Halbbildung, die auf mangelndem Durchhaltevermögen beruht. Seinen Drang zur Selbstdarstellung konnte er ausleben, weil wenige Schlagworte gepaart mit seinem stimmgewaltigen Vortrag ihn zu einem idealen Agitator für die "Vaterländische Sache" machten. Seine Schriften hatten großen Anteil an der Ausbreitung und Verfestigung von Hurrapatriotismus und Nationalismus in der deutschen Bevölkerung, aber auch in den sogenannten "Eliten". Jahn selber war Zeit seines Lebens nicht elitär und ein erklärter Feind der Duelle. Es ist erstaunlich, dass ihn gerade diejenigen heute vereinnahmen, mit deren Lebensstil Jahn nie etwas gemein hatte und haben wollte.

Lisa AR!