Editorial
Religiöse Rechte
Antifa Infoblatt #85 Editorial Liebe Antifas, Freundinnen und Genossinnen, liebe LeserInnen! Gerade noch rechtzeitig zu den Weihnachtsferien erreicht Euch unsere neue Ausgabe. Auch angesichts von Festtagsbraten und versöhnlicher Jahresendstimmung müssen wir unseren Job machen und legen den Finger in eine Wunde des christlichen Abendlandes: im Schwerpunkt geht es um die die kirchliche Rechte. Er spannt einen Bogen von den gut aufgestellten Evangelikalen, die unter anderem wegen ihrer Missionierungstätigkeit immer wieder in die Kritik geraten, über die frauenfeindlichen »Lebensschützer« bis zum katholischen Spektrum, dessen rechte Umtriebe wir am Beispiel des ultrareaktionären Ordens »Opus Dei« und des in Polen sehr populären antisemitischen Senders »Radio Maryja« beleuchten. Wir hoffen, auch mit dem Rest der Ausgabe auf Euer Interesse zu stoßen. Die Bandbreite reicht diesmal von rechter Gewalt im sächsischen Fussball über das Anbändeln des notorischen Kieler Neonazis Peter Borchert mit den Bandidos bis zur, zwischen Rechtspopulismus und Verschwörungsglauben operierenden »Ein-Mann-Armee« Udo Ulfkotte.
 
Besonders ans Herz legen möchten wir Euch den Text von Florian Back über die neu ernannte Familienministerin Kristina Köhler (CDU). Köhler ist laut FAZ Mitglied der »Selbständigen Evangelisch-Lutherischen Kirche«, in deren Themenheft »Sexualität im Leben eines Christen« von 2006 gehetzt wird, Homosexualität habe »nicht das Wohlgefallen Gottes« und müsse »daher im ethischen Zusammenhang als Ursünde des Menschen gewertet werden«. Abtreibung verstoße »gegen das Tötungsverbot«. Dass Mitglieder der SELK in der »Jungen Freiheit« schreiben, verwundert bei solchen Positionen nicht. Die notorische »Linksextremisten«-jägerin Köhler aus der kirchlichen Rechten an der Spitze, des auch für die Bundesprogramme gegen (Rechts-)extremismus zuständigen Familienministeriums, lässt für die Zukunft wenig gutes erahnen.
 
Im letzten AIB berichteten wir über den Mord an Marwa El-Sherbini in Dresden. Ihr Mörder Alex Wiens ist nun zu lebenslanger Haft verurteilt worden. Dass er auch versuchte, den Ehemann von Marwa El-Sherbini zu töten, ist in der Berichterstattung oft außer Acht gelassen worden. Wiens hat Revision gegen das Urteil eingelegt. Der Mord und die ausbleibende bundesweite Reaktion darauf markieren eine der größten Niederlagen der antifaschistischen Linken in den letzten Jahren. Was hätte die Antifa auf den Plan rufen müssen, wenn nicht ein heimtückischer rassistischer Mord in einem deutschen Gerichtssaal? Die Vermutung liegt nahe, dass die Tatsache, der Täter ist »Russlanddeutscher«, viele überfordert hat und die Reaktionen anders ausgefallen wären, hätte es sich um einen in Deutschland geborenen Neonazi gehandelt. Hier hat sich die Antifa im Fallstrick eines rassistischen Diskurses verheddert und davon blenden lassen, dass Wiens nicht in das Raster vom »echten deutschen« Mörder passte, anstatt die Tat anhand seiner rassistischen Motivation zu beurteilen. Diese ist Ausdruck eines seit dem 11. September 2001 erstarkenden antimuslimischen Rassismus, und es bleibt die Frage, wie die Öffentlichkeit reagiert hätte, wenn das Opfer keine kopftuchtragende Muslima gewesen wäre. Die fast vollständig ausbleibende Reaktion der Linken ist ein Armutszeugnis und bedarf einer selbstkritischen Aufarbeitung.
 
Erneut trauern wir um einen ermordeten Antifaschisten in Russland. Der 26-jährige Iwan Chutorskoi wurde am 16. November in Moskau in seinem Hauseingang hinterhältig erschossen. Iwan war ein exponierter Aktivist der antifaschistischen Subkultur und stand wohl schon länger auf der Todesliste der Neonazimörder. Im Fall der Anfang des Jahres ermordeten AktivistInnen Stanislav Markelov und Anastasia Baburova vermeldete die russische Justiz vor kurzem einen Fahndungserfolg. Russische AntifaschistInnen bleiben aber angesichts der gängigen Verschleierungstaktik der Sicherheitsorgane skeptisch, ob es mit dem verhafteten Neonazipärchen die wirklich Verantwortlichen getroffen hat.
 
Spendet für die russischen AntifaschistInnen:
A. Hoffmann
Kto.-Nr. 408352201
Postbank Hamburg
BLZ 20010020
Stichwort: Enough/Russland (unbedingt angeben!)
 
Bereits am 14. September verstarb der antifaschistische Widerstandskämpfer Gerhard Leo in Berlin. 1923 als Kind einer jüdischen Familie in Berlin geboren, floh er mit seinen Eltern 1933 nach Paris und schloss sich nach dem Einmarsch der Deutschen 1942 der Resistance an. Nach seiner Verhaftung 1944 wurde er von Partisanen befreit. Bis zum Kriegsende kämpfte er weiter. 1954 zog er mit seiner Familie in die DDR und arbeitete als Autor und Journalist unter anderem für das Neue Deutschland. Nach der Wiedervereinigung war er aktiv im Bund der Antifaschisten und ein unermüdlicher Zeitzeuge. Ihm war es wichtig, seine Erfahrungen an die jüngeren Generationen weiterzugeben und so das Gedächtnis an den antifaschistischen Kampf aufrechtzuerhalten. Bis zu seinem Tod engagierte er sich zudem in der Initiative gegen Abschiebehaft für inhaftierte Flüchtlinge in Berlin-Köpenick, die ihn liebevoll »Papa Leo« nannten. Seinen Kampf für eine menschenwürdige Gesellschaft fortzuführen, ist unsere Aufgabe. Iwan Chutorskoi
Iwan Chutorskoi, am 16. November 2009 in Moskau von Neonazis ermordet