Editorial
Vergangenheit, die nicht vergehen will: 20 Jahre Historikerstreit
Antifa Infoblatt #72 Editorial Liebe Antifas, Freundinnen und Genossinnen, liebe LeserInnen! Im Juni vor zwanzig Jahren gab ein Aufsatz des Geschichtsphilosophen Ernst Nolte in der FAZ den Anstoss für eine Kontroverse um die Deutung des Holocausts, die später unter dem Namen Historikerstreit in die Diskursgeschichte der alten Bundesrepublik eingehen sollte. Die Wiederkehr des Jahrestages ist uns Anlass für eine Rückschau auf die damalige Debatte und ihre Akteure. Zugleich gehen wir der Frage der geschichtspolitischen Nachwirkungen des Historikerstreits nach. Waren nach dem Urteil vieler Beobachter damals Nolte und seine Unterstützer die Verlierer der Debatte, so hat sich das diskursive Interaktionsfeld heute weithin verschoben. Eine Entdifferenzierung des Gedenkens gilt es ebenso abzuwehren, wie seine Trivialisierung.

Nach dem rassistischen Übergriff auf einen farbigen Deutschen in Potsdam ist erneut eine Diskussion über rechte Gewalt in den Medien entflammt. Diese mit trauriger Regelmäßigkeit nach solchen Übergriffen aufflammenden Diskurse sind meistens extrem vorhersehbar und laufen immer nach dem gleichen Muster ab. Auf der einen Seite stehen PolitikerInnen, die finden, dass es jetzt endlich an der Zeit sei, mal richtig was gegen rechte Gewalt zu unternehmen.

Auf der anderen Seite stehen ebenfalls PolitikerInnen, die sich schnell darum bemühen, von Einzelfällen zu reden und mit aktuellem Zahlenwerk den Rückgang rechter Gewalt in ihrer Region zu untermauern. Das geht dann eine Weile hin und her, bis der anlassgebende Übergriff soweit zurückliegt, dass das Interesse langsam verloren geht.

Natürlich gibt es auch noch eine dritte Partei, die in dieser Debatte allerdings selten zu Wort kommt. Es sind die potenziellen Opfer der Neonazis, hauptsächlich MigrantInnen, die zynischerweise zum Schweigen verurteilt sind. Da war es natürlich ein erheblicher Paukenschlag, als sich der ehemalige Regierungssprecher der Regierung Schröder nicht an diese hundertfach erprobten Spielregeln hielt und aussprach, was für tausende Menschen alltägliche Realität ist.

Es gebe in Deutschland, vor allem im Osten, Gegenden, deren Betreten er MigrantInnen nicht empfehlen würde, da eventuell ihr Leben in Gefahr sei. Plötzlich war er da, der Begriff »No-Go-Area« beherrschte die Debatte. Nachdem das anfänglich geübte Manöver, Heye einfach als Vaterlandsverräter hinzustellen, nicht fruchtete, entstand tatsächlich eine kurze Debatte über den Lebensalltag von MigrantInnen in Deutschland in Bezug auf das Bedrohungspotenzial durch rechte Gewalt. Auch wenn die Debatte mit dem Anpfiff der Fussball-Weltmeisterschaft schlagartig zu Ende war, haben sich doch einige Koordinaten verschoben. In den Medien werden rechte Gewalttaten intensiver behandelt und deren rechter Hintergrund thematisiert und nicht die Gewalt an sich. Die Situation von potenziellen Opfergruppen wird zumindest ansatzweise thematisiert und das Problem Neonazis nicht nur als Standortnachteil diskutiert. Auch wenn der Begriff No-Go-Area nicht wirklich geeignet ist – denn irgendwo müssen dann auch Go-Areas zu finden sein, was aber in Deutschland eher schwierig sein dürfte – lassen sich in der Debatte wichtige Anknüpfungspunkte für eine antifaschistische Intervention finden.

In diesem Heft widmen wir uns einer sogenannten No-Go-Area mal etwas genauer und beschreiben ausführlich, welche Faktoren im Berliner Weitlingkiez ausschlaggebend für das Abrutschen dieser Gegend zu einer rechten Wohn- und Erlebniswelt waren. Auch des Themas rechte Gewalt haben wir uns angenommen und beleuchten umfassend die Bestrebungen der extremen Rechten, eine Militanzdebatte zu führen und Gewalt als ein strategisches Mittel weiter auszubauen.

Wir trauern um neue Opfer von Neonazigewalt in Russland. Am 6. April 2006 wurde in St. Petersburg der 28jährige Sambar Lanspar Sall, Aktivist der Gruppe »African Unity« und gebürtiger Senegalese, von einem Unbekannten auf offener Straße durch einen Schuss ins Genick getötet. Lanspar Sall war an vielfältigen Aktivitäten gegen Rassismus beteiligt gewesen. Er und seine Freunde wurden nach einem Disko-Besuch, wo sie an einem interkulturellen Event teilgenommen hatten, von einer Gruppe Neonazis angegriffen. Die Angegriffenen flüchteten panisch, als ein Schuss fiel, der Lanspar Sall tötete. Die mit einem Hakenkreuz dekorierte Pumpgun wurde später in einem Hinterhof gefunden.

Am 16. April 2006 ermordeten Neonazis in Moskau den 19jährigen Alexander (Sasha) Ryuhin auf dem Weg zu einem Hardcore-Konzert. Acht Angreifer überfielen den Punk und stachen ihn mit Messern gezielt in Herz und Hals. Die Täter trugen Plastikhandschuhe, um keine Spuren zu hinterlassen. Der Ablauf der Tat erinnert an den Überfall auf Timur Kacharava und seinen Begleiter.

Deshalb gehen Beobachter davon aus, dass es Planungen oder zumindest Absprachen gegeben hat. Auf den Internetseiten der neonazistischen »Freiheitspartei« kursieren Medienberichten zufolge Aufrufe zum »Verprügeln von Negern«. Kommentar nach dem Tod von Sambar Lanspar Sall: »Das Aufräumen geht weiter«. Ryuhin
Ryuhin, von Neonazis in Russland ermordet