»Tot ermittelt« Der hier zu lesende Text ist die vollständige Version des in der Printausgabe nur gekürzt abgedruckten Artikels.

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Download der Heftversion im PDF-Format. Schwerpunkt »Tot ermittelt« NS-Verbrechen, Justiz und Vergangenheitsbewältigung in der Bundesrepublik Am Abend des 22. Juni 2005, kurz vor 20 Uhr, spielten sich im Justizgebäude der norditalienischen Stadt La Spezia ergreifende Szenen ab. Soeben hatte der Vorsitzende des Militärgerichts die mit Spannung erwarteten Urteile gegen zehn ehemalige Soldaten der 16. SS-Panzergrenadierdivision »Reichsführer SS« verkündet. Die Richter verhängten jeweils lebenslängliche Freiheitsstrafen wegen »fortgesetztem Mord, begangen mit besonderer Grausamkeit«. Alle zehn Angeklagten wurden somit schuldig gesprochen, an einem der brutalsten von Deutschen verübten Verbrechen in Italien während des Zweiten Weltkrieges beteiligt gewesen zu sein. Am 12. August 1944 hatten vier Kompanien der SS-Einheit im toskanischen Bergdorf Sant Anna di Stazzema ein Massaker angerichtet. Innerhalb weniger Stunden waren 560 Bewohner der abgelegenen Ortschaft ermordet worden. Unter dem Deckmantel angeblicher »Partisanenbekämpfung« hatten 300 SS-Soldaten Männer, Frauen und Kinder mit Gewehrsalven, Handgranaten und Bajonetten regelrecht abgeschlachtet. 61 Jahre lang waren diese Taten weder von der deutschen noch von der italienischen Justiz verfolgt worden. Im Gerichtssaal brandete daher unmittelbar nach der Urteilsverkündung spontaner Applaus auf. Gleichzeitig kämpften zahlreiche Angehörige der Opfer des Massakers mit den Tränen: Erleichterung über die Entscheidung der Richter mischte sich zum einen mit traumatischen Erinnerungen an jenen 12. August 1944, zum anderen aber auch mit hilfloser Wut. Keiner der Angeklagten war zum Prozess in La Spezia erschienen. Das Gericht hatte die Urteile in deren Abwesenheit gesprochen. Die Hoffnung, dass die ehemaligen SS-Männer tatsächlich jemals für ihre Taten zur Rechenschaft gezogen werden, erscheint indes zweifelhaft. Alle zehn verbringen ihren Lebensabend in der Bundesrepublik, die wiederum mutmaßliche NS-Täter und Kriegsverbrecher grundsätzlich nicht an andere Staaten ausliefert. Zwar ermittelt die Stuttgarter Staatsanwaltschaft zum »Komplex Sant Anna«, ob und wann jedoch gegen die Beschuldigten Anklage erhoben wird, ist bislang nicht absehbar. Dem Urteil des Militärgerichts von La Spezia misst die deutsche Justiz allenfalls untergeordnete Bedeutung bei: »Wir gehen da ein bisschen tiefer als die Italiener« ließen erst kürzlich die Stuttgarter Ermittler verlauten, schließlich müssten »die Mordmerkmale wie Grausamkeit dem Einzelnen nachgewiesen werden.«1

Dies sei freilich, so wird nicht nur im Fall Sant Anna von den Staatsanwaltschaften argumentiert, 60 Jahre nach Ende des Zweiten Weltkrieges ein äußerst zeitintensives Unterfangen – Zeit, die angesichts des hohen Alters der Beschuldigten ebenso wie der Tatzeugen kaum mehr zur Verfügung steht. Demnach ist zu befürchten, dass die Ermittlungen gegen die zehn in La Spezia verurteilten Mittäter des Massakers von Sant Anna enden werden, wie zahllose andere Ermittlungsverfahren, die im Zusammenhang mit NS-Verbrechen in den letzten Jahrzehnten eröffnet wurden – ohne Ergebnis.

Dennoch gilt die juristische Aufarbeitung der NS-Zeit heute, ähnlich wie die im Rahmen der »Wiedergutmachung« erbrachten Leistungen, als Nachweis einer zwar anfangs mit Schwierigkeiten behafteten, aber auf lange Sicht doch respektablen Vergangenheitsbewältigung. In diesem Zusammenhang wird gerne auf die fortwährende Ermittlungstätigkeit der »Zentralen Stelle der Landesjustizverwaltungen zur Aufklärung von NS-Verbrechen« verwiesen, die im Dezember 1958 in Ludwigsburg ihre Arbeit aufnahm. In der Tat erscheint der im Laufe der Jahre durch die Einrichtung zusammengetragene Datenbestand beeindruckend. In den Archiven der »Zentralen Stelle« lagern 1.657.567 Karteikarten mit den Namen von 687.380 Personen, 608.946 Orten und 361.242 Einheiten. Gegenwärtig beschäftigen sich die Mitarbeiter der Zentralen Stelle noch mit 24 »Tatkomplexen« in ganz Europa.2 Ein Großteil der auf dem Gebiet der alten Bundesrepublik seit 1945 eingeleiteten 106.496 Ermittlungsverfahren gegen mutmaßliche NS-Täter ging maßgeblich auf die Initiative der Behörde zurück, ohne deren Existenz die Strafverfolgung von NS-Verbrechen fraglos wohl noch beschämender ausgefallen wäre. Dennoch erweist sich eine vorläufige Bilanz der juristischen Vergangenheitsbewältigung in der Bundesrepublik als niederschmetternd. Die Verfahren gegen 102.223 Personen endeten mit Einstellungsverfügungen oder Freisprüchen. Lediglich 6.495 Beschuldigte wurden rechtskräftig verurteilt. In nur 157 Fällen verhängten bundesdeutsche Gerichte lebenslange Freiheitsstrafen3.

Rechtspolitische Weichenstellungen im »Schatten der Volksgemeinschaft«

Die Gründe, weshalb sich die Verfolgung von NS-Verbrechen, von wenigen Ausnahmen abgesehen, in den vergangenen 60 Jahren, zu einem »Desaster« (Norbert Frei) entwickelte, sind vielschichtig und teilweise bis heute wirkungsmächtig. Zum einen sind hier eine Reihe einschlägiger vergangenheitspolitische administrative Weichenstellungen zu nennen, die in den 1950er und 1960er Jahren vorgenommen wurden. Zum anderen aber auch Ermittlungs- und Entscheidungspraktiken von Polizei, Staatsanwälten und Richtern, die eigentümliche, bisweilen abenteuerliche, in den meisten Fällen aber »täterfreundliche« Auffassungen und Deutungsmuster erkennen ließen. Dabei darf nicht vergessen werden, dass sich die juristische Vergangenheitsbewältigung »im Schatten der Volksgemeinschaft« (Marc von Miquel) vollzog. Vor allem im ersten Nachkriegsjahrzehnt halluzinierten sich die Deutschen in ihrer überwiegenden Mehrheit als ein Kollektiv von Opfern. Zwar führten generationelle und damit einhergehend politische und kulturelle Umbrüche seit den 1960er Jahren in Teilen der Gesellschaft zu einem kritischeren Umgang mit der Zeit des Nationalsozialismus. Die unterschiedlich begründeten Forderungen nach einem »Schlussstrich«, die sich nicht zuletzt an den fortwährenden Ermittlungen gegen NS-Verbrecher entzündeten, blieben jedoch feste Bestandteile vergangenheits- und geschichtspolitischer Diskurse in der Bundesrepublik. Schon seit dem Ende der 1940er Jahre stieg in großen Teilen der deutschen Bevölkerung der Unmut über die Entnazifizierungsmaßnahmen der Alliierten. In Umfragen vertrat lediglich ein Drittel der Befragten die Auffassung, die Nürnberger Prozesse seien gerecht gewesen. In der noch jungen Bundesrepublik avancierten die Forderungen, die strafrechtliche Verfolgung von NS-Verbrechen drastisch zu begrenzen sowie die noch in Kriegsverbrechergefängnissen Einsitzenden zu amnestieren zu heftig diskutierten innenpolitischen Themen. Ein Bundestagsabgeordneter der extrem rechts stehenden Deutschen Partei (DP) forderte etwa in einem Antrag im September 1952: »das Wort Kriegsverbrecher allgemein zu vermeiden; es sind ja im wesentlichen keine Verbrecher, sondern unschuldig Verurteilte«4. Mit dieser Auffassung stand der DP-Abgeordnete nicht allein; vielmehr konnte er sowohl im Parlament als auch in großen Teilen der Bevölkerung mit mehr oder weniger offener Zustimmung rechnen.

Bis zur Gründung der Bundesrepublik im Jahr 1949 lag die Ahndung von Kriegs- und NS-Verbrechen vor allem in der Hand der Alliierten. Die Rechtsprechung erfolgte vor allem auf Grundlage des Kontrollratsgesetzes Nr. 10 vom Dezember 1945. Das Gesetz regelte die »Bestrafung von Personen, die sich Kriegsverbrechen, Verbrechen gegen den Frieden oder gegen die Menschlichkeit schuldig gemacht haben.« Im Rahmen ihrer zunächst mit hohen Ansprüchen forcierten Entnazifizierungspolitik wiesen die Alliierten der juristischen Aufarbeitung der NS-Verbrechen große Bedeutung zu. So war zwar das Verfahren gegen 21 Hauptkriegsverbrecher vor dem Internationalen Militärtribunal in Nürnberg zwischen November 1945 und Oktober 1946 der spektakulärste, jedoch nicht der einzige Prozess, der gegen mutmaßliche NS-Täter und Kriegsverbrecher geführt wurde. In den von den USA betriebenen Nürnberger Nachfolgeprozessen saßen insgesamt 200 hochrangige Funktionseliten des NS-Staates aus unterschiedlichen gesellschaftlichen, administrativen und politischen Bereichen (Wirtschaft, Wehrmacht, Ärzte, Diplomaten etc.) auf der Anklagebank. Zudem verurteilten die Militärgerichte in den westalliierten Besatzungszonen rund 5.000 Personen wegen »Kriegsverbrechen«. Gegen 800 Beschuldigte verhängten die Richter die Todesstrafe, die aber lediglich in 500 Fällen vollzogen wurde. Im Jahr 1950 saßen noch annährend 3.400 Personen in den drei zentralen Kriegsverbrechergefängnissen der ehemaligen westlichen Besatzungszone5.

Das in der deutschen Bevölkerung weit verbreitete Bedürfnis, die »NS-Bewältigung zu bewältigen« (Norbert Frei) spiegelten sich auf administerieller Ebene besonders in vier rechtspolitischen Entscheidungen wider, die der juristischen Ahndung von NS-Verbrechen enge Grenzen setzten.

Erstens verzichtete die Bundesrepublik entgegen den Vorstellungen der Alliierten darauf, nationalsozialistische Gewaltverbrechen mit einem speziellen juristischen Instrumentarium zu verfolgen. Die Kontrollratsgesetze, die etwa »Verbrechen gegen die Menschlichkeit« unter Strafe stellten, verloren somit ihre Gültigkeit. Als Grundlage der Strafverfolgung sollten seither ausschließlich die einschlägigen Bestimmungen des Strafgesetzbuches (Mord, Totschlag, Freiheitsberaubung, schwere Körperverletzung) dienen. Dies bedeutet freilich, dass mutmaßlichen NS-Tätern ihre individuelle Schuld präzise nachgewiesen werden muss. Die Spezifika nationalsozialistischer Massenverbrechen, die nicht zuletzt dadurch gekennzeichnet waren, dass sie oftmals von größeren Akteursgruppen kollektiv und arbeitsteilig begangen wurden, sind damit jedoch juristisch kaum zu erfassen.

Zweitens wurden unzählige mutmaßliche NS-Täter durch den 1952 zwischen den Westalliierten und der Bundesrepublik geschlossenen und 1955 in Kraft getretenen »Überleitungsvertrag« faktisch amnestiert. Der Vertrag, der die volle Justizhoheit der Bundesrepublik wiederherstellte, schützte diejenigen vor strafrechtlicher Verfolgung, gegen die bereits englische, französische oder amerikanische Behörden im Zusammenhang mit Kriegsverbrechen ermittelt, das Verfahren aber eingestellt hatten. Diese Personen konnten von deutschen Staatsanwaltschaften selbst dann nicht angeklagt werden, wenn sich im Lauf der Jahre neue Indizien für deren Beteiligung an Kriegs- bzw. NS-Verbrechen ergaben.

Drittens verabschiedete der Bundestag in den Jahren 1949 und 1954 zwei Amnestiegesetze, auf die sich in der Folgezeit insgesamt über eine Million Menschen berufen konnten. Das an Silvester 1949 in Kraft getretene »Gesetz über die Gewährung von Straffreiheit« ermöglichte Personen, die nach dem Ende des »Dritten Reichs« unter falschem Namen untergetaucht waren eine Rückkehr in die Legalität, ohne dabei unbequeme Fragen nach den Hintergründen des Abtauchens fürchten zu müssen. Das »Gesetz über den Erlass von Strafen und Geldstrafen und die Niederschlagung von Straf- und Bußgeldverfahren« vom Juli 1954 amnestierte Straftaten mit einem Strafmaß von bis zu drei Jahren, die zwischen dem 1. Oktober 1944 und dem 31. Juli 1945 »in Annahme einer Dienst- oder Amtspflicht oder auf Grundlage eines Befehls« begangen worden waren. Auch dieses Gesetz garantierte Personen, die nach dem Zusammenbruch eine neue Identität angenommen hatten, Straffreiheit, sofern sie sich den Behörden stellten. Die Amnestieregelungen führten zur Einstellung zahlreicher Ermittlungsverfahren, in denen es etwa um Befehle zur Erschießung von abgesprungenen britischen Fliegern oder um schwere Misshandlungen amerikanischer Kriegsgefangener ging. Viertens begannen seit Mitte der 1950er Jahre einige einschlägige Delikte, wie schwere Körperverletzung oder Freiheitsberaubung, zu verjähren. Obgleich die fatalen Konsequenzen dieser Entwicklung auf der Hand lagen, verzichteten die Bundesregierung und die bürgerlich-konservative Mehrheit des Bundestages darauf, die Ablauffristen zu verlängern und somit eine weitere Strafverfolgung bestimmter NS-Verbrechen zu ermöglichen. Als am folgenreichsten erwies sich in diesem Zusammenhang zweifellos das Auslaufen der Verjährungsfrist für Totschlag im Mai 1960.

Seither können NS-Täter lediglich wegen »Mord« und in eng begrenzten Fällen wegen »Beihilfe zum Mord« strafrechtlich belangt werden. Die Hürden hierfür liegen allerdings hoch, wie nicht zuletzt die eingangs geschilderten Ermittlungen der Stuttgarter Staatsanwaltschaft gegen die zehn am Massaker von Sant Anna di Stazzema beteiligten SS-Männer zeigen. Demnach müssen die Taten der Beschuldigten bestimmte »Mordmerkmale« wie »Grausamkeit« oder »Heimtücke« aufweisen, um sie auch tatsächlich als »Mord« nach Paragraf 211 StGB anklagen zu können.

Ähnlich kompliziert gestalten sich Ermittlungen wegen »Beihilfe zum Mord«. Im Zuge der Novellierung des Ordnungswidrigkeiten-Gesetzes im Jahr 1968 wurde auch der entsprechende Paragraf 50 Abs. 2 StGB neu geregelt. »Beihilfe zum Mord« kann seitdem nur noch verfolgt werden, wenn einem auf Befehl handelnden Mittäter »niedere Beweggründe« nachzuweisen sind, die vollendete Tat somit durch »persönliche Merkmale« gekennzeichnet ist. In der Praxis bedeutete dieses rechtspolitische, in einem umfangreichen Gesetzespaket versteckte Detail nichts anderes als eine »Amnestie durch die Hintertür«, von der besonders die klassischen »Schreibtischtäter« des NS-Regimes profitierten, gegen die – wenn überhaupt – wegen »Beihilfe zum Mord« ermittelt wurde. Den ehemaligen Funktionseliten des »Dritten Reichs«, die auf unterschiedlichen Ebenen fernab vom eigentlichen Mordgeschehen die nationalsozialistischen Massenverbrechen geplant und koordiniert hatten, konnten »niedere Beweggründe« oder »persönliche Motive« angeblich kaum mehr nachgewiesen werden.

Praktisch über Nacht stellten die Staatsanwaltschaften hunderte von Ermittlungsverfahren ein. Aus diesen Gründen scheiterte im Mai 1969 auch der bis dahin größte geplante NS-Prozess in der Bundesrepublik. Seit 1963 hatte der Berliner Generalstaatsanwalt Anklagen wegen »Beihilfe zum Mord« gegen 300 ehemalige Mitarbeiter des Reichssicherheitshauptamtes (RSHA) vorbereitet. Wie sich herausstellte, vergeblich. Aufgrund der neuen Rechtslage galten die Anklagepunkte als verjährt. Sämtliche Verfahren wurden eingestellt. Dass es sich beim EGOWiG und seinen rechtspolitischen Folgen tatsächlich um eine »Panne« handelte, wie die Bundesregierung (CDU/CSU/SPD-Koalition) behauptete, erscheint fragwürdig. Vielmehr spricht einiges dafür, dass die fatalen Auswirkungen, die das Gesetz auf die Verfolgung von NS-Tätern hatte, bewusst intendiert waren. Doch wie auch immer: In der Folgezeit unternahm der Bundestag keinerlei Anstrengungen, den Paragraf 50 Abs. 2 erneut zu ändern. Es blieb bei der bis heute gültigen »täterfreundlichen« Regelung.

»Trostlose Bilanz« – die Entscheidungspraktiken der Justizbehörden

Das weitgehende Scheitern einer konsequenten juristischen Vergangenheitsbewältigung in der Bundesrepublik ist aber nicht nur den seit den frühen 1950er Jahren gesetzten rechtspolitischen Rahmenbedingungen zuzuschreiben, sondern auch den Entscheidungspraktiken der Justizbehörden. An diesem Befund ändert auch der Hinweis auf die jahrzehntelange akribische Ermittlungstätigkeit der »Zentralen Stelle« wenig. Die Behörde, die als eine Konsequenz aus den Erfahrungen des »Ulmer Einsatzgruppenprozesses« 1957/1958 gegründet worden war, sollte systematische Nachforschungen hinsichtlich bis dahin nicht aufgeklärter NS-Verbrechen in den von den Deutschen besetzten Gebieten anstellen.

Von Beginn an sah sich die Zentrale Stelle mit erheblichen Problemen und Widerständen konfrontiert. So stießen die Mitarbeiter der Einrichtung in der Ludwigsburger Bevölkerung auf erhebliche Ressentiments, die durch Äußerungen führender Politiker weiter verstärkt wurden. Der ehemalige Generalbundesanwalt und CDU-Rechtsexperte Max Güde bezeichnete etwa die Staatsanwälte der Zentralen Stelle noch im Jahr 1968 unverhohlen als »unsere Idioten«.6 Ermittlungstätigkeiten, die sich auf Verbrechen bezogen, deren Tatorte nunmehr hinter dem Eisernen Vorhang lagen, wurden bis zur Mitte der 1960er Jahre vom Auswärtigen Amt und der Bundesregierung massiv behindert. Als entscheidendes Manko lässt sich jedoch festhalten, dass die Zentrale Stelle nur mit äußerst eingeschränkten Befugnissen versehen worden war. Zum einen gehörte zunächst die Aufklärung von Verbrechen, die Wehrmachtseinheiten begangen hatten, explizit nicht zum Aufgabenfeld der Behörde. Zum anderen beschränkt sich die Arbeit der Ludwigsburger Staatsanwälte (bis heute) darauf, möglichst umfangreiche Vorermittlungen gegen mutmaßliche NS-Täter einzuleiten. Im Anschluss daran werden die Verfahren allerdings an die jeweils zuständigen Staatsanwaltschaften abgegeben, die die Ermittlungen fortführen, einstellen oder gegebenenfalls Anklage erheben. Spätestens ab diesem Zeitpunkt, durften und dürfen viele der Beschuldigten mit einem für sie günstigen Ausgang des Verfahrens rechnen. Denn die Tatsache, dass der größte Teil der Ermittlungen wegen nationalsozialistischer Gewaltverbrechen scheiterte, war besonders den Staatsanwälten vor Ort zu zuschreiben, die unzählige Fälle regelrecht »tot ermittelten« (Wolfgang Scheffler).

Die Geschichte dieses Scheiterns reicht bis in die Gegenwart und soll hier knapp am Beispiel der vergleichsweise gut erforschten Ermittlungs- und Entscheidungspraktiken der nordrhein-westfälischen Justizbehörden skizziert werden. Im bevölkerungsreichsten Bundesland wurden seit 1961 die Ermittlungen gegen mutmaßliche NS-Täter vor allem durch die Zentralstellen bei den Staatsanwaltschaften in Köln und Dortmund geführt. Mit wenig Erfolg, wie sich aus den vorhandenen Behördeninternen Statistiken entnehmen lässt. So ermittelte die Dortmunder Staatsanwaltschaft bis 1999 gegen insgesamt 25.000 Beschuldigte, erhob aber in nur 159 Fällen Anklage. Über die Zahl der tatsächlich Verurteilten gibt es keine Angaben. Die Kölner Zentralstelle führte im gleichen Zeitraum Ermittlungen gegen 5.402 Beschuldigte durch. 76 von ihnen mussten sich vor Gericht verantworten, 41 wurden rechtskräftig verurteilt.7 Die »trostlose Bilanz« (Stefan Klemp) der nordrhein-westfälischen Zentralstellen resultierte aus mehreren Faktoren, die nicht nur den Umgang der NRW-Justiz mit NS-Verbrechen kennzeichneten, sondern auch für die problematischen Vorgehensweisen der Justizbehörden in der übrigen Bundesrepublik charakteristisch waren.

Mythos »Befehlsnotstand«

So folgten Richter und Staatsanwälte in Gerichts- bzw. Ermittlungsverfahren vielfach Annahmen und Interpretationen, die fraglos die mutmaßlichen Täter begünstigten, sich aber nicht zwangsläufig aus den rechtlichen Rahmenbedingungen ergaben. Ein geradezu klassisches Beispiel hierfür stellte die von zahllosen Beschuldigten vorgetragene Behauptung dar, sie hätten sich in einem vermeintlichen Befehlsnotstand befunden und mehr oder weniger unter Zwang an verbrecherischen Aktionen teilgenommen. Insbesondere in Ermittlungsverfahren gegen ehemalige Angehörige von Polizeibataillonen, die als »Fußvolk der ‚Endlösung’« (Klaus-Michael Mallmann) maßgeblich an den Massenmorden in Osteuropa und in der Sowjetunion mitgewirkt hatten, waren die Strafverfolgungsbehörden ohne große Umstände bereit, auf subjektiven bzw. putativen Befehlsnotstand zu erkennen. Die Verfahren wurden daraufhin in aller Regel eingestellt. Obgleich der Verweis auf den angeblichen Befehlsnotstand bereits am Beginn der 1960er Jahre als von der historischen Forschung widerlegte Rechtfertigungslegende gelten konnte, gelang es zahlreichen Beschuldigten bis in die 1970er Jahre hinein, sich mit Hilfe dieser Argumentation aus der strafrechtlichen Verantwortung zu stehlen. Richter und Staatsanwälte verfügten demnach über Interpretations- und Handlungsspielräume, die sie offenkundig bewusst zugunsten mutmaßlicher NS-Täter auslegten. Dies zeigte sich auch im Zusammenhang mit den Ermittlungen gegen den Kommandeur des Polizeibataillons 65 (Recklinghausen), das an der Deportation mehrerer tausend Juden in Konzentrationslager beteiligt gewesen war sowie die Ermordung von mehr als 5.000 Menschen in der Sowjetunion und in Polen zu verantworten hatte. Major Kleine behauptete in kaum zu überbietender Dreistigkeit gegenüber der Dortmunder Staatsanwaltschaft, nichts von der Vernichtung der Juden mitbekommen zu haben.

Entsprechende Befehle seien nicht ihm, sondern lediglich den Kompanie- und Gruppenführern seines Bataillons erteilt worden. Die Ermittler der Zentralstelle gaben sich mit dieser zweifelsfrei gelogenen Erklärung zufrieden, indem sie konstatierten: »Diese Einlassung ist Kleine nicht zu widerlegen.«8 Die Opfer der NS-Verbrechen galten hingegen als notorisch unglaubwürdig. Im Vorfeld des 1954 stattfindenden Prozesses gegen Angehörige des Polizeibataillons 61 (Dortmund) wegen Mordaktionen am Warschauer Ghetto im Sommer 1954, verzichtete die Dortmunder Staatsanwaltschaft zunächst sogar gänzlich darauf, ehemalige Einwohner des Ghettos als Tatzeugen zu befragen. Der zuständige Ermittlungsrichter versprach sich »von einer derartigen Maßnahme keinen Erfolg«, da die »Aussagen von zweifelhaftem Wert sein dürften«9. Ein auffallend geringes Interesse für die Aussagen von NS-Opfern kennzeichnete die Ermittlungspraxis der Dortmunder Behörde bis in die unmittelbare Gegenwart, was sich besonders im Fall des ehemaligen Leiters des Gestapo-Gefängnisses »Kleine Festung« in Theresienstadt, Anton Malloth, zeigte, gegen den in NRW beinahe 30 Jahre ergebnislos ermittelt worden war. Die Staatsanwaltschaft München I benötigte hingegen nur ein halbes Jahr, um Anklage gegen Malloth zu erheben und dessen Verurteilung zu einer lebenslangen Haftstrafe im Mai 2001 zu erreichen. Der zuständige Staatsanwalt übte in diesem Kontext deutliche Kritik an den Ermittlungspraktiken seiner Dortmunder Kollegen, indem er feststellte: »Jahrzehnte lang hat sich niemand für noch lebende Zeugen interessiert.«10

Heimliche Komplizenschaft?

Als höchst problematisch für eine effektive Strafverfolgung von NS-Tätern erwies sich über Jahrzehnte der Umstand, dass die Staatsanwaltschaften bei ihren Ermittlungen auf die Polizeibehörden angewiesen waren. Diese zeigten sich aus nahe liegenden Gründen wenig kooperativ, zumal sich ein erheblicher Teil der Verfahren gegen ehemalige Angehörige von SS-Einheiten und Polizeibataillonen richtete, die spätestens seit dem Beginn der 1950er Jahre wieder im Polizeidienst untergekommen waren. Dies galt in besonderem Maße für die Landeskriminalämter, die in erster Linie mit den Ermittlungen wegen NS-Verbrechen beauftragt wurden. In deren Reihen fanden sich jedoch überdurchschnittlich viele Beamten, die während des »Dritten Reichs« für die Gestapo, den SD oder die Reichskriminalpolizei tätig gewesen waren. Das spektakulärste Beispiel für diese personellen Kontinuitätslinien verkörperte zweifellos Georg Heuser. Der Kriminaloberrat war während der 1950er Jahre zum Leiter des LKA von Rheinland-Pfalz aufgestiegen. Im Mai 1963 musste sich Heuser, der es in der Zeit des Nationalsozialismus zum SS-Hauptsturmführer gebracht hatte, vor dem Landgericht Koblenz wegen »Beihilfe zum Mord« in fast 12.000 Fällen verantworten. Als Angehöriger des Sonderkommandos 1b war er zwischen 1941 und 1944 in der Gegend um Minsk an zahlreichen Mordaktionen gegen russische Juden beteiligt gewesen.

Aber auch in den Justizbehörden der Bundesrepublik zeigten sich deutliche personelle Kontinuitäten zur NS-Zeit. So wurde ausgerechnet die Zentrale Stelle in Dortmund bis ins Jahr 1972 von ehemaligen NSDAP-Mitgliedern geleitet. Erich Pfromm, der im Jahr 1974 zum Generalstaatsanwalt für den Gerichtsbezirk Köln ernannt worden war, in dessen Zuständigkeit auch die dort ansässige Zentrale Stelle fiel, hatte es im Nationalsozialismus aufgrund seiner ideologisch gefestigten Weltanschauung sogar zum NS-Führungsoffizier gebracht. In welchem Maße die unübersehbare Präsenz ehemaliger Funktionseliten des »Dritten Reichs« den Ausgang von Strafverfahren gegen mutmaßliche NS-Täter beeinflusste, kann freilich nicht präzise angegeben werden. Fest steht jedoch, dass auch der überwiegende Teil der Richter und Staatsanwälte, die nicht durch ihre Tätigkeit in der Zeit des Nationalsozialismus belastet waren, hinsichtlich der Aufklärung von NS-Verbrechen keine allzu großen Bemühungen erkennen ließen. Staatsanwälte, die auf eine konsequente Strafverfolgung drängten, blieben über Jahrzehnte hinweg Außenseiter innerhalb der Justizbehörden und sahen sich vielfach mit öffentlichen wie amtsinternen Anfeindungen konfrontiert. Zu nennen ist hier Fritz Bauer, der während der 1960er Jahre als hessischer Generalstaatsanwalt amtierte und in dieser Funktion maßgeblich am Zustandekommen des Frankfurter Auschwitz-Prozesses mitgewirkt hatte. Bauer, der als Sozialdemokrat 1936 emigriert war, betrachtete die NS-Prozesse als zentrale Bestandteile eines demokratischen Neubeginns und wandte sich wiederholt gegen die in der Bundesrepublik zu beobachtende »Schlussstrichmentalität«. Diese Haltung brachte ihm massive Kritik ein. Die Hessen-CDU forderte im Jahr 1963 sogar den Rücktritt Bauers. Hingewiesen werden soll auch auf die am Beginn der 1960er Jahre in Ludwigsburger Zentralen Stelle tätige Staatsanwältin Barbara Just-Dahlmann, die öffentlich auf die laschen Ermittlungspraktiken der Polizei und die milden Urteile in NS-Prozessen aufmerksam machte. Das baden-württembergische Justizministerium überprüfte daraufhin »ob aus ihren Äußerungen dienstrechtliche Folgen zu ziehen sind.«11

Ein für bundesdeutsche Staatsanwälte ungewöhnliches Engagement zeigt nicht zuletzt Rolf Holfort. Im spektakulären Prozess vor dem Landgericht Köln vertrat er 1979 die Anklage gegen den früheren Kölner Gestapo-Chef Konrad Lischka sowie dessen Kameraden Herbert Hagen und Ernst Heinrichsohn. Alle drei wurden wegen »Beihilfe zum Mord« an 73.000 französischen Juden zu Haftstrafen verurteilt. Holfort ermittelte in diesem Zusammenhang gegen insgesamt 200 Verdächtige, von denen er zwölf in einem weiteren Prozess vor Gericht stellen wollte. Das Verfahren wurde ihm jedoch zum größten Teil entzogen und kam schließlich nicht zustande. Für diese Entscheidung war Holforts Vorgesetzter verantwortlich, der bereits erwähnte Generalstaatsanwalt Werner Pfromm.

Die Rückkehr der Vergangenheit? NS-Prozesse seit den 1990er Jahren

Obwohl die Zahl der Ermittlungsverfahren wegen NS-Verbrechen seit Einrichtung der Zentralen Stelle in Ludwigsburg signifikant anstieg, blieb die Quote der tatsächlich rechtskräftigen Verurteilungen bis in die Gegenwart relativ niedrig. Mehr noch: Die Zahl der richterlichen Entscheidungen sank im Verlauf der 1960er Jahre unter das Niveau der 1950er Jahre, das mit durchschnittlich 28 verurteilten Beschuldigten (1954-1959) ohnehin schon äußerst bescheiden war. Zwar wurden der Prozess gegen Adolf Eichmann vor dem Jerusalemer Bezirksgericht (1961) sowie der Frankfurter Ausschwitz-Prozess (1963-1965) in der bundesdeutschen Öffentlichkeit mit vergleichsweise großer Aufmerksamkeit verfolgt. Die Forderung nach einem »Schlussstrich« unter die juristische Vergangenheitsbewältigung blieb jedoch gesellschaftlicher Mainstream. Im Jahr 1965 plädierten in einer Umfrage 52 Prozent aller Befragten für eine sofortige Beendigung der NS-Prozesse, 60 Prozent befürworteten eine Verjährung der Taten.12 Erst seit dem Ende der 1970er Jahre, vor allem in Folge der Fernsehserie »Holocaust« setzte eine breitere gesellschaftliche Auseinandersetzung mit den präzedenzlosen deutschen Verbrechen während der Zeit des Nationalsozialismus ein. Mit dem Abschluss des »Lischka-Prozesses« in Köln im Jahr 1980 sowie den Urteilen im Düsseldorfer »Majdanek-Prozess« der nach einer Verhandlungsdauer von über 5 Jahren im Mai 1981 mit Freiheitsstrafen zwischen drei Jahren und lebenslänglich (bei einem Freispruch) für die neun Angeklagten geendet hatte, schien nach Auffassung zahlreicher die Beobachter die Strafverfolgung von NS-Verbrechen in der Bundesrepublik an ihr Ende gekommen zu sein. Tatsächlich ging die Zahl einschlägiger Ermittlungsverfahren während der 1980er Jahre weiter zurück. Umso überraschender wirkt daher die Feststellung, dass sich seit dem Beginn der 1990er Jahre entgegen allen Erwartungen doch noch eine Reihe NS-Tätern vor Gericht verantworten musste. Die Gründe für diese Entwicklung sind vielschichtig:

Erstens wurden nach dem Ende der Blockkonfrontation zahlreiche bislang nicht beachtete NS-Verbrechen in Osteuropa sowie auf dem Gebiet der ehemaligen Sowjetunion bekannt. Zudem stellte sich heraus, dass auch eine Reihe von Verbrechen, die SS und Wehrmacht in west- bzw. südeuropäischen Staaten begangen hatten, über Jahrzehnte hinweg von den Justizbehörden ignoriert worden waren. Dies geschah nicht nur in der Bundesrepublik, sondern auch in Italien. Dort wurden Ermittlungsunterlagen, die sich etwa mit dem Massaker von Sant Anna die Stazzema befassten buchstäblich weggeschlossen. Aus Rücksicht auf den deutschen NATO-Verbündeten und EG-Partner verschwanden diese Akten seit den 1950er Jahren in einem so genannten »Schrank der Schande«, der mit der Tür zur Wand in einem Büro der Militärstaatsanwaltschaft in Rom aufgestellt wurde und dort bis 1999 ein Schattendasein fristete.

Zweitens gewannen seit Mitte der 1990er Jahre entgegen allen zu beobachtenden geschichtspolitischen Tendenzen, die fortwährende Präsenz der NS-Zeit zurückzudrängen, Diskussionen an Bedeutung, die um die massenhafte Beteiligung »ganz normaler« Deutscher an den präzedenzlosen NS-Verbrechen kreisten. Ursächlich hierfür waren zweifellos die provozierenden Thesen, die Daniel Goldhagen in seinem Buch »Hitlers willige Vollstrecker« formulierte, vor allem aber die erste Wehrmachtsausstellung des Hamburger Instituts für Sozialforschung, die einem breiten Publikum die Dimensionen der von der Wehrmacht begangenen Verbrechen drastisch vor Augen führte.

Drittens entstanden seit den 1990er Jahren eine Reihe historischer Studien, die zum einen detailliert die deutschen Verbrechen während der NS-Zeit dokumentierten, zum anderen auf die skandalösen vergangenheitspolitischen Maßnahmen in der frühen Bundesrepublik, nicht zuletzt im Bereich der Justiz, aufmerksam machten.

Viertens vollzog sich auch innerhalb der Polizei- und Justizbehörden ein Generationswechsel. Die offenkundigen Obstruktionen, die für die polizeilichen Ermittlungen gegen mutmaßliche NS-Täter in den 1950er und 1960er Jahren kennzeichnend gewesen waren und maßgeblich zu Scheitern der meisten Verfahren beigetragen hatten, wurden allmählich seltener. Fünftens verloren die Netzwerke und Lobbygruppen an Einfluss, die sich seit Gründung der Bundesrepublik auf unterschiedlichen Ebenen durchaus mit Erfolg für die Straffreiheit mutmaßlicher NS-Täter eingesetzt hatten.

So wurde im Jahr 1992 der ehemalige SS-Offizier Josef Schwammberger, der während der 1940er Jahre ein Zwangsarbeiterlager in Polen kommandiert hatte, vom Landgericht Stuttgart wegen »Beihilfe zum Mord« zu einer lebenslangen Freiheitsstrafe verurteilt. Für großes Aufsehen sorgten auch die Prozesse gegen Erich Priebke, den im Jahr 1998 ein italienisches Militärgericht wegen seiner Beteiligung an der Erschießung von 335 Zivilisten in den Ardeatischen Gräben bei Rom zu lebenslanger Haft verurteilte. Der Fall Priebke dokumentierte nicht zuletzt die jahrzehnte lange Untätigkeit der deutschen Justiz. Der einstige SS-Obersturmführer hatte sich nach Ende des Zweiten Weltkrieges ohne seine Identität zu verschleiern in Argentinien niedergelassen und war erst 1996 nach Italien ausgeliefert worden. Obwohl sich Priebke nach eigenen Angaben zwischen 1978 und 1990 mindestens zehnmal in der Bundesrepublik aufgehalten und in ständigem Kontakt mit offiziellen deutschen Stellen gestanden hatte, blieb er von den Strafverfolgungsbehörden unbehelligt. Ähnliche Versäumnisse wurden auch in dem bereits erwähnten Prozess gegen Anton Malloth im Jahr 2001 deutlich. Seit 1970 war von der Dortmunder Staatsanwaltschaft gegen den ehemaligen SS-Aufseher wegen Tötungsdelikten in der »Kleinen Festung« von Theresienstadt ermittelt worden. Das Verfahren wurde 1979 eingestellt, da Malloths Aufenthaltsort angeblich nicht festzustellen war. Freilich hätten es die deutschen Behörden besser wissen können. Bereits im Jahr 1968 hatte Malloth vom Generalkonsulat in Mailand einen deutschen Pass erhalten und bei dieser Gelegenheit seine Wohnadresse in Südtirol angegeben. Nachdem ihn die italienischen Behörden 1988 in die Bundesrepublik abgeschoben hatten, nahm die Zentrale Stelle in Dortmund erneut die Ermittlungen auf, um diese nach einigen Jahren wieder ohne greifbare Ergebnisse einzustellen. Der Prozess in München dokumentierte somit nicht nur die Gewalttaten Malloths in Theresienstadt, sondern auch den Dilletantismus und die Schlampereien der Dortmunder Staatsanwaltschaft.

Daneben fanden in den vergangenen Jahren weitere Verfahren gegen NS-Täter statt, die jedoch nicht in jedem Fall zu Verurteilungen führten. Während etwa das Landgericht Ravensburg im April 2001 gegen ehemaligen SS-Offizier Julius Viel wegen der Ermordung jüdischer Zwangsarbeiter eine 12jährige Haftstrafe aussprach, wurde der Prozess gegen Herbertus Bikker vor dem Landgericht Hagen, wegen dessen Verhandlungsunfähigkeit im Februar 2004 eingestellt. Die Anklage hatte dem früheren Freiwilligen der Waffen-SS vorgeworfen, im November 1944 einen niederländischen Widerstandskämpfer erschossen zu haben. Mit einer nicht rechtskräftigen Verurteilung endete im Juli 2002 der Prozess gegen Friedrich Engel. Als Leiter des SD-Außenkommandos von Genua war er im Mai 1944 an der Ermordung von 59 italienischen Gefangenen beteiligt, die als Vergeltung für einen Partisanenanschlag erschossen wurden. Das Landgericht Hamburg verurteilte Engel zu einer Freiheitsstrafe von sieben Jahren. Der Bundesgerichtshof hob die Entscheidung zwei Jahre später allerdings auf und stellte das Verfahren aufgrund des hohen Alters des Beschuldigten ein. Noch nicht entschieden ist das Verfahren gegen Ladislav Niznansky in München. Der heute 87jährige wird beschuldigt, als Kommandeur einer Einheit der Wehrmachts-Abwehrgruppe Edelweiß im Januar und Februar 1945 an der Ermordung von insgesamt 164 Menschen in drei slowakischen Dörfern beteiligt gewesen zu sein.

Eine Bilanz der Strafverfolgung von NS-Verbrechen seit den 1990er Jahren fällt demnach zwiespältig aus. Zwar wurden einige NS-Täter doch noch, wenn auch viel zu spät, zur Rechenschaft gezogen und zu teilweise langjährigen Haftstrafen verurteilt. Doch trotz der veränderten gesellschaftlichen und politischen Rahmenbedingungen, ist die Strafverfolgung von NS-Verbrechen in der Gegenwart weiterhin von den Schwierigkeiten gekennzeichnet, die schon für die Jahrzehnte zuvor charakteristisch waren. Verwiesen sei hier auf schleppende Ermittlungstätigkeiten der Staatsanwaltschaften, bisweilen haarsträubenden Ermittlungspannen und eine höchstrichterliche Rechtsprechung, die den Mordparagrafen nach wie vor äußerst eng auslegt.

Anatomie des Scheiterns – Der Fall Friedrich Engel

Dies lässt sich exemplarisch anhand des Strafverfahrens gegen Friedrich Engel verdeutlichen. Der ehemalige SS-Obersturmbannführer lebte nahezu 56 Jahre unbehelligt in Hamburg. Ein erstes Ermittlungsverfahren endete Ende der 1960er Jahre ergebnislos. Ab 1988 ermittelten die Behörden erneut gegen Engel, nachdem die Zentrale Stelle in Ludwigsburg die Kriegsverbrecherliste der United Nations War Crime Commission erhalten hatte, auf der Engel als Verdächtiger im Zusammenhang mit Kriegsverbrechen in Italien genannt wurde. Das Verfahren endete erneut ergebnislos. Angeblich gelang es der zuständigen Staatsanwaltschaft Stuttgart nicht, den Aufenthaltsort von Engel, dessen Name im Hamburger Telefonbuch stand, in Erfahrung zu bringen. Erst nachdem ein italienisches Militärgericht die Ermittlungen gegen Engel aufgenommen hatte, wurde die deutsche Justiz im Jahr 1998 wieder aktiv. Obwohl der vormalige SS-Offizier im Jahr 1999 in Italien in Abwesenheit wegen 246fachem Mord zu lebenslänglicher Haft verurteilt worden war, benötigte die Hamburger Staatsanwaltschaft weitere drei Jahre, um gegen den zu diesem Zeitpunkt 93jährigen Anklage zu erheben. In dem Prozess ging es weniger um die Tatsache, dass Engel an der Ermordung von 59 Geiseln im Mai 1944 beteiligt gewesen war – die Erschießungen als »Repressalienmaßnahme« sah das Gericht für sich genommen durch das damalige »völkerrechtliche Gewohnheitsrecht« gedeckt. Vielmehr musste dem Beschuldigten die »besondere Grausamkeit« der Taten nachgewiesen werden, um den Mordvorwurf aufrecht erhalten zu können. Die Geiselerschießungen erfuhren somit eine erneute juristische Legitimierung. Immerhin sah der Richter die »besondere Grausamkeit« der Verbrechen als erwiesen an und verurteilte Engel im Juli 2002 wegen Mordes zu sieben Jahren Gefängnis. Das Strafmaß fiel aufgrund des hohen Alters des Angeklagten sowie der »außergewöhnlichen, unglaublich langen Zeitspanne zwischen 1944 und 2002« erstaunlich niedrig aus. Aufgrund seines Gesundheitszustandes musste Engel die Haftstrafe ohnehin nicht antreten. Im Juni 2004 stellte der BGH das Verfahren gegen den »Henker von Genua« endgültig ein. Das Gericht bezweifelte zwar nicht die Geschehnisse vom Mai 1944, verwies aber darauf, dass dem Angeklagten das Mordmerkmal der »Grausamkeit« nicht ausreichend nachgewiesen worden sei. Einen erneuten Prozess wollte der BGH dem ehemaligen SS-Offizier nicht zumuten.

Ungesühnte Verbrechen – Kephallonia und Kommeno

Auch in den noch laufenden Ermittlungsverfahren gegen mutmaßliche NS-Täter lassen sich kaum nennenswerten Veränderungen in den Praktiken der Strafverfolgungsbehörden beobachten. Dies gilt nicht nur hinsichtlich der zehn Verdächtigen im Fall Sant Anna di Stazzema. Ebenso ziehen sich die Ermittlungen im Zusammenhang mit der Ermordung von mindestens 5000 italienischen Kriegsgefangenen auf der griechischen Insel Kephallonia durch deutsche Gebirgsjägereinheiten im September 1943 in die Länge. Zwar bezeichnete bereits vor einem Jahr der mit dem Gesamtkomplex befasste Oberstaatsanwalt Maß, Leiter der Zentralen Stelle in Dortmund, die Verfahren gegen zwei Wehrmachtsveteranen aus der Nähe von Augsburg als »abschlussreif«. Die mittlerweile zuständigen bayerischen Strafverfolgungsbehörden haben bislang allerdings keine Anklagen erhoben. Ob die Ermittlungsverfahren gegen eine unbekannte Zahl weiterer Tatverdächtiger jemals zu konkreten Ergebnissen führen werden, ist auch nach Ansicht von Oberstaatsanwalt Maß vollkommen unklar.

Ähnliches gilt für die Ermittlungen im Fall Kommeno. Im August 1943 hatte eine Gebirgsjägereinheit in dem nordgriechischen Dorf ein Massaker angerichtet und 317 Männer, Frauen und Kinder ermordet. Das Verbrechen hatte schon am Ende der 1960er Jahre die Staatsanwaltschaft München beschäftigt. Wie kaum anders zu erwarten, war das Verfahren aber eingestellt worden. Den Anstoß dafür, dass sich die Münchner Ermittlungsbehörden nach über 30 Jahren erneut mit dem Massaker von Kommeno befassen müssen, lieferten nicht zuletzt die von antifaschistischen Gruppen getragenen Proteste gegen die alljährlich an Pfingsten im oberbayrischen Mittenwald stattfindenden Gebirgsjägertreffen. Zu dieser Gelegenheit übergaben im Jahr 2003 Aktivisten des »Arbeitskreises Angreifbare Traditionspflege« der Polizei eine Liste mit den Namen von 150 noch lebenden ehemaligen Angehörigen des Regiments, das für das Massaker verantwortlich war. Seitdem ist wenig geschehen. Die Staatsanwaltschaft scheint ohne allzu großen Elan zu ermitteln, so dass vermutlich auch die Verbrechen von Kommeno, zumindest in Deutschland ungesühnt bleiben werden.

Ausblick

In der Bundesrepublik blieb die Forderung nach konsequenter strafrechtlicher Verfolgung von NS-Tätern bis zum heutigen Tag das Anliegen einer Minderheit. Oftmals wurden Ermittlungsverfahren erst dann ernsthafter betrieben, wenn internationaler Druck spürbar wurde oder Opferverbände energisch protestierten. Bestes Beispiel hierfür ist der bereits erwähnte Kölner Prozess gegen Konrad Lischka, der ohne die umfangreichen Recherchen sowie die jahrelangen demonstrativen Interventionen der Gruppe um Beate und Serge Klarsfeld wohl kaum zustande gekommen wäre. Dabei ist festzuhalten, dass große Teile der deutschen Linken an einer tiefergehenden Auseinandersetzung mit den Taten und Tätern des Nationalsozialismus ebenso wenig Interesse zeigten, wie der überwiegende Rest der deutschen Gesellschaft. Die Opferverbände blieben mit ihren Protesten zumindest bis in die 1980er Jahre weitgehend allein: »Für die 68er war der Holocaust an sich kein Thema« resümierte Beate Klarsfeld im Rückblick13.

In linken Diskursen dominierten bis in die jüngste Vergangenheit Faschismusinterpretationen, die den Nationalsozialismus vordergründig als eine spezifische Form »bürgerlicher Herrschaft« deuteten. Dieser ökonomistische Reduktionismus, ließ die Beschäftigung mit den konkreten Handlungsweisen der »Täter, Opfer und Zuschauer« (Raul Hilberg) in den Hintergrund treten. Insofern gingen auch von der deutschen Linken kaum Impulse aus, NS-Verbrecher vor Gericht zu bringen. Dies wird in absehbarer Zeit kaum mehr möglich sein. Dennoch sollte eine antifaschistische Linke die Auseinandersetzung mit den präzedenzlosen Verbrechen des Nationalsozialismus ins Zentrum ihrer Politik rücken. Zum einen sind die gegenwärtigen hegemonialen geschichts- und erinnerungspolitischen Diskurse von einer verallgemeinernden »Anthropologisierung des Leids« gekennzeichnet. Daran knüpfen sich – nicht selten unter totalitarismustheoretischem Vorzeichen – Tendenzen, die Ursachen, die Kausalitäten sowie die beispiellosen Dimensionen der nationalsozialistischen Verbrechen zu nivellieren. Zum anderen haben zahlreiche Opfer und deren Angehörige bis zum heutigen Tag keine oder bestenfalls marginale Entschädigungsleistungen erhalten. Die Vergangenheitspolitik der Bundesrepublik zielte (und zielt) nicht nur darauf, der juristischen Verfolgung von NS-Verbrechen, sondern auch dem finanziellen Umfang der »Wiedergutmachung« enge Grenzen zu setzen. Diese fortexistierende Verweigerungshaltung zu skandalisieren sollte eines der zentralen Politikfelder einer antifaschistischen Linken sechs Jahrzehnte nach dem Zusammenbruch des »Dritten Reichs« sein. 1| Vgl. Taz (Nord) vom 20.4.2004; Taz (Nord) vom 28.11.2005.
 
2| Vgl. Rheinischer Merkur Nr. 41 vom 13.10.2005.
 
3| Vgl. Michael Greve, Im Namen des Volkes… Eine kurze Bilanz von 50 Jahren bundesdeutscher Strafverfolgung von NS-Verbrechen, 2002
 
4| Zit. nach: Alfred Streim, Saubere Wehrmacht? Die Verfolgung von Kriegs- und NS-Verbrechen in der Bundesrepublik und in der DDR, in: Hannes Heer/Klaus Naumann (Hg.), Vernichtungskrieg. Verbrechen der Wehrmacht 1941 bis 1944, Hamburg 1995, S. 569-597, hier S. 575.
 
5| Vgl. Peter Reichel, Vergangenheitsbewältigung in Deutschland. Die Auseinandersetzung mit der NS-Diktatur von 1945 bis heute, München 2001, S. 71; 117.
 
6| Zit. nach Greve, Bilanz.
 
7| Vgl. Stefan Klemp, „Nicht ermittelt“. Polizeibataillone und die Nachkriegsjustiz – Ein Handbuch, Essen 2005, S. 369.
 
8| Ebenda, S. 374.
 
9| Ebenda, S. 357.
 
10| Ebenda, S. 352.
 
11| Zit nach: Heiner Lichtenstein, Himmlers grüne Helfer. Die Schutz- und Ordnungspolizei im „Dritten Reich“, Köln 2003, S. 121.
 
12| Vgl. Greve, Bilanz.
 
13| Zit nach Jungle World Nr. 5 vom 21.1.2004.