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Ein Beitrag von Bernard Schmid (Paris) Gesellschaft Frankreich: Der »neue Antisemitismus« Seit Anfang des Jahrzehnts wird in Frankreich darüber debattiert, ob es einen »neuen« Antisemitismus oder neue Formen der Judenfeindschaft gebe. »La nouvelle judéophobie« (Die neue Judenfeindlichkeit) heißt ein 2002 erschienenes Buch von Pierre-André Taguieff, das erheblich zu der Polemik beitrug: Die »neue Judenfeindlichkeit«, behauptet der Politologe Taguieff in dem Werk, gehe von Einwanderern vor allem aus moslemischen Ländern aus und werde durch Linke wegen eines romantischen Verhältnisses zu ihrem »Ersatzproletariat« unterstützt. Auch Teile der Eliten, denen die Idee des Nationalstaats abhanden gekommen sei, seien dafür anfällig und fänden in ihr eine sinnstiftende Ideologie. Im »tradionellen« rechtsextremen Antisemitismus sieht der Autor dagegen tendenziell nur folkloristische Restbestände. Ärgerlich nur, dass Taguieff keinerlei Beleg für seine Thesen anführt. In einem Interview mit dem Wochenmagazin Le Nouvel Observateur begründete er dies so: »Ich formuliere eine Diagnose, ich betreibe keine Denunziation.« Zum Teil scheint sein politisch-ideologischer Ansatz, der im Kern in der Forderung nach Rückkehr zum republikanisch verfassten Nationalstaat französischer Prägung besteht, auch die Ergebnisse Taguieffs vorgegeben zu haben.

Es bleiben viele Fragen offen: Gibt es neue Formen von Antisemitismus, und wenn ja, finden sie bei bestimmten Migranten in spezifischer Weise Anklang? Oder dient die Denunzierung einer »neuen Judenfeindlichkeit« eher dazu, vom nach wie vor vorhandenen »klassischen« Antisemitismus abzulenken oder ihn von der »herkunftsfranzösischen« Mehrheitsgesellschaft weg zu projezieren?

Antisemitismus und die französische Mehrheitsgesellschaft

Schuldvorwürfe hinsichtlich gesellschaftlicher Probleme an und Feindbildprojektionen auf (tatsächliche oder eingebildete) »Juden« sind natürlich keine neuartigen Mechanismen, die vorrangig in der Einwandererbevölkerung entstanden wären. Tatsächlich waren sie in Frankreich nicht nur seit längerem präsent, sondern virulent, bereits bevor es zu einer zahlenmäßig stärkeren Einwanderung aus den damaligen nordafrikanischen Kolonien kam.

Der israelische Historiker Zeev Sternhell, ein Kenner der französischen faschistischen Bewegungen im späten 19. und frühen 20. Jahrhundert, argumentierte, dass in den letzten Jahren des 19. Jahrhunderts die Metropole des europäischen Antisemitismus, in der sich eine brisante Mischung aus »nationaler« und »sozialer Frage« zusammenbraute, in Paris und nicht in Berlin zu vermuten sei. Im Zuge der sogenannten Dreyfus-Affäre stießen die Anhänger und Gegner einer Amnestierung des unschuldig wegen »Spionage« für das verfeindete Deutschland verurteilten Offiziers jüdischer Abstammung, Alfred Dreyfus, aufeinander. Dabei sammelte sich eine antisemitische Massenbewegung auf der Straße, um die von Linken und republikanischen oder humanistischen Intellektuellen eingeforderte Amnestie für Dreyfus zu verhindern. Dabei ging es ihren Anhängern sowohl um den Kampf gegen den »fremdrassischen« Einfluss auf die französische Gesellschaft als auch um jenen gegen die drohende Delegitimierung jenes Militärsgerichts, das die Verurteilung Dreyfus‘ ausgesprochen hatte, im Namen der Autorität von Justiz und Armee. Die GegnerInnen des Antisemitismus hatten letztlich Erfolg: Das Urteil gegen Dreyfus wurde aufgehoben, und am Ende der innenpolitischen Auseinandersetzung stand die im Dezember 1905 beschlossene Trennung von Kirche und Staat. Der bis heute institutionell festgeschriebene französische Laizismus ist ein direktes Ergebnis der Dreyfus-Affäre. Der staatliche Antisemitismus, wie er während des Vichy-Regimes zum offiziellen Programm wurde und der NS-Vernichtungsmaschinerei zuarbeitete, ist hingegen eng mit der deutschen Besatzung und ihren Kollaborateuren verbunden. Dadurch wurde er, zumindest im Nachhinein, in weitesten Kreisen fraglos diskreditiert. Dennoch bleiben natürlich einige grundlegende Mechanismen des Antisemitismus auch in der französischen Gesellschaft grundsätzlich abrufbar, etwa die verschwörungstheoretische Denunzierung »im Verborgenen ablaufender Machenschaften«. Das bekannteste Beispiel eines Skandals in jüngerer Zeit, der Anklänge an einen derartigen codierten Antisemitismus enthält, ist die Affäre um »das Gerücht von Orléans«. Im Jahr 1969 wurde in dieser mittelgroßen französischen Stadt publik, dass angeblich in mehreren Bekleidungsgeschäften junge Frauen, die als Kundinnen in die Umkleidekabine »gelockt« wurden, dort durch eine Klappe im Boden verschwunden seien und nunmehr in Sexsklaverei gefangengehalten würden. Wie der Zufall es so will, gehörten die sechs Geschäfte alle jüdischen Inhabern. Später stellte sich heraus, dass das Strickmuster dieses Gerüchts auf einen Roman des britischen Schriftstellers Stephen Barlay zurückging, der ein Jahr zuvor unter dem Titel »Sexuelle Sklaverei« erschienen war. In dem Roman war von Juden übrigens nicht die Rede. In der Folgezeit flog die Affäre jedoch auf und wurde zum Gegenstand heftiger Kritik, die einen Teil der bürgerlichen Öffentlichkeit aufrüttelte. Dagegen lebt diese Ideologie in der extremen Rechten fort. Doch innerhalb der französischen extremen Rechten existieren unterschiedliche Standpunkte nebeneinander her. Einige Fraktionen des Rechtsextremismus haben in den 50er Jahren, wohl kaum aus Ablehnung des Antisemitismus, pro-israelische Positionen angenommen.

Die extreme Rechte, der Antisemitismus, der antiarabische Rassismus und Israel

Hintergrund dieser Positionierung ist die gute Zusammenarbeit zwischen Israel und Frankreich, als dieses seine Kolonialkriege gegen arabisch-nordafrikanische Länder führte, beispielsweise in Algerien (von 1954 bis 1962) und gegen Ägypten. Die ultra-kolonialistische extreme Rechte, die selbst aus antisemitischer Tradition kam und die mit der innenpolitischen Aufheizung während des Algerien-Kriegs wieder Fuß in der Öffentlichkeit fassen konnte, wandelte sich in dieser Phase zur Unterstützerin Israels. Es gelang ihr, dies nicht als Widerspruch zu ihrer antisemitischen Grundhaltung erscheinen zu lassen: Die Parteigänger der extremen Rechten gingen davon aus, nunmehr die »jüdische Frage« in Europa dadurch lösen zu können, dass die jüdische Bevölkerung künftig geschlossen nach Israel gehen solle. »Ethnische Reinheit« sollte so mit militärischen Allianzen im kolonialen »Hinterhof« des Landes einhergehen. Der historische Kulminationspunkt dieser Entwicklung ist die »Suezexpedition« im Oktober 1956, bei der Frankreich, Großbritannien und Israel Ägypten angriffen, nachdem dieses den Suezkanal nationalisiert hatte. Ein Teilsegment der extremen Rechten setzt diese Parteinahme bis heute in ähnlicher Form fort: Diesen Vertretern gilt Israel als »Insel im Meer der barbarischen Dritten Welt«. Oftmals schwingt bei dieser Variante aber auch der Gedanke mit, dass »die jüdische Lobby« in Frankreich angeblich so stark sei, dass man sich besser nicht (oder noch nicht) mit ihr anlegen solle. Dagegen hat ein anderer Teil der extremen Rechten in den letzten 15 Jahren verstärkt aus dem Fundus antisemitischer Verschwörungstheorien geschöpft, an den der Vorsitzende des rechtsextremen Front National (FN) Jean-Marie Le Pen ab Mitte der 80er Jahre anknüpfte. Eine beliebte, auch von Le Pen verbreitete Verschwörungstheorie besagt, dass die US-amerikanisch-jüdische Organisation B’nai B’rith durch ihren »Druck« schuld sei, dass die konservativ-liberalen Rechtsparteien Frankreichs sich nicht mit dem FN verbünden würden. Oft geht diese Form rechtsextremer Ideologie auch mit der außenpolitischen Ablehnung Israels einher. Innerhalb des FN, der unbestritten führenden Partei der französischen extremen Rechten, koexistieren heute beide Positionen nebeneinander her. Allerdings entwickelte sich zwischen 1985 und 1995 der damalige Mainstream der extremen Rechten weg von den analysierten pro-amerikanischen und pro-israelischen Positionen hin zu einer eher völkisch-antiwestlichen. Seit Ende April 2004 begann in Ostfrankreich eine sich bald aufs ganze Land ausbreitende neue Welle antisemitisch motivierter Friedhofsschändungen, zeitgleich gab es Verwüstungen moslemischer Friedhöfe und von Denkmälern zur Erinnerung an jüdische oder moslemische Soldaten beider Weltkriege. Der Schwerpunkt dieser Aktionen lag im Elsass. Die erste und spektakulärste Schändung richtete sich am 30. April 2004 in Herrlisheim gegen einen jüdischen Friedhof: 127 verwüstete Gräber, zahlreiche Hakenkreuze und SS-Runen deuteten auf eine eindeutige ideologische Handschrift hin. Im Zusammenhang mit dieser Tat konnte am 15. Dezember 2004 ein Tatverdächtiger festgenommen werden, der durch Schriftgutachten als Urheber eines Teils der aufgefundenen Inschriften identifiziert wurde. Der 24jährige Waldarbeiter, der zunächst die Tatbeteiligung leugnete, gab selbst an, Mitglied des FN zu sein.

Die Gewaltwelle in den Jahren 2000 und 2002: Migrantenjugendliche als Täter?

Seit Anfang dieses Jahrzehnts ist eine allgemeine Welle von Beschimpfungen und Gewalttaten gegen französische Juden zu verzeichnen. Jedoch wurden diese Straf- und Gewalttaten größtenteils nicht von Anhängern der extremen Rechten begangen. Vor allem im Herbst 2000, kurz nach Ausbruch des jüngsten Nahostkonflikts, sowie im März und April 2002, nach Beginn der Kämpfe um Dschenin, war eine massive Zunahme von antisemitisch motivierten Delikten zu verzeichnen. Die schlimmsten Erinnerungen wurden vor allem im Frühjahr 2002 wachgerüttelt. In Marseille brannte eine Synagoge weitgehend aus. Nahezu zeitgleich wurde die Vorderwand eines jüdischen Gebetshauses in La Duchère, einem »sozialen Problemviertel«, bei Lyon mit Hilfe eines so genannten Rammbock-Autos eingedrückt. 14 jüdische Jugendliche des Fußballclubs Maccabée in Bondy, einer Trabantenstadt in der nördlichen Pariser Banlieue, wurden durch eine größere Bande angegriffen und mit Schlägen malträtiert. Diese Attacken bildeten nur die Spitze des Eisbergs. Zwischen dem 29. März und dem 17. April 2002 wurden insgesamt 395 Straftaten gegen jüdische Menschen und Einrichtungen festgestellt. Das Profil der Täter lässt sich für die Gewaltwelle von 2000 bis 2002 in zwei Gruppen einteilen. Die größere Gruppe der gefassten Urheber von Gewalt- oder Straftaten gegen jüdische Menschen sind junge Männer oder Jugendliche aus der arabischstämmigen Einwanderergruppe. Sie agieren mitunter in losen Kleingruppen, die sich in »sozialen Brennpunkten« bewegen, beispielsweise in den Banlieues, in die die Gesellschaft ihre Armen und Probleme abschiebt. Ein kleinerer Teil dagegen sind Antisemiten aus dem Umfeld der extremen Rechten. Einem Bericht der Renseignements Généraux (eine Art Verfassungsschutz) vom Herbst 2000 zufolge, versuchen manche rechtsextreme Aktivisten, in den Banlieues Kontakt zu jungen Kindern arabischer Migranten herzustellen, um ihnen »Gemeinsamkeit im Judenhass« zu predigen. Laut dem zitierten Bericht haben sie damit jedoch selten Erfolg und werden in der Regel von den Migrantenkindern verjagt. Die Gewalttaten von 2000 bis 2002 konzentrierten sich auf jene Zonen, in denen entweder jüdische Communities in sozialen Unterschichtvierteln verwurzelt sind oder aber dort, wo gemischte Wohngebiete mit jüdischem Bevölkerungsanteil unmittelbar dicht an marode Hochhaussiedlungen angrenzen. Eine Zeit lang verbargen damals viele Juden ihre Zugehörigkeit zur Community, indem sie etwa die Kippa durch eine »unverfänglichere« Kopfbedeckung, wie Basecaps, austauschten. Diese Phase ist jedoch inzwischen vorüber.

Facetten der Judenfeindschaft

Am Rande der Demonstrationen gegen den Irakkrieg im März 2003 machte anfänglich eine »Vereinigung der Iraker Frankreichs« lautstark auf sich aufmerksam. Es handelt sich dabei um eine regimetreue Vereinigung, die ihre Verflechtung mit den »Diensten« des damals amtierenden Regimes kaum versteckte. In der zweiten Hälfte des Irakkriegs wurde sie allerdings aus linken und gewerkschaftlichen Anti-Kriegs-Demonstrationen verbannt, u.a. weil Anhänger dieser Organisation tätliche Angriffe auf irakische Oppositionelle verübt hatten. Während der ersten Kriegstage, genauer am 25. März 2003, konnte diese Vereinigung noch einen Lautsprecherwagen während der Kundgebung von Schülern und Jugendlichen auf der Pariser Place de la Concorde stellen. Europa und die Araber müssten zusammenhalten, wie die Geschichte beweise, äußerte sich ein Sprecher. Die Amerikaner, so die Propaganda, hätten stets nur Unrecht gestiftet. So sei, fuhr der Redner fort, im Zweiten Weltkrieg durch die US-Intervention in Europa mehr Unheil angerichtet worden als durch die Nazis. Im Folgenden appellierte er an die anwesenden Jugendlichen aus Einwandererfamilien: »Ihr müsst Euch bilden, Ihr müsst Euch um Eure Zukunft kümmern, Ihr dürft Euch nicht hängen lassen.« Schuld an ihrer Misere sei eine gut organisierte »jüdische Lobby«, die aber in Wirklichkeit doch so schwach sei, dass man sich »nicht unterkriegen lassen« dürfe. In diesem Fall ging dieser bedrohliche Diskurs nur von einer organisierten Kleingruppe aus, und um die »Vereinigung der Iraker Frankreichs« ist es seit 2003 vollkommen still geworden. Doch lässt die Schilderung erahnen, welche Zutaten zum Erfolg eines antisemitischen Diskurses führen können, falls sie von anderen Akteuren aufgegriffen werden. Derzeit gibt es in Frankreich jedoch keine übergreifende Massenbewegung, die in diesem Sinne agieren würde.

Szenenwechsel. Paris, Ende Juli 2003, an einem heißen Freitagnachmittag, dem muslimischen Gebetstag. Im unteren Teil der Rue Polonceau, im 18. Pariser Arrondissement, einem der mit Abstand ärmsten und am stärksten von Einwanderung geprägten Stadtbezirke. Unweit der von vielen maghrebinischen und westafrikanischen Immigranten besuchten Moschee hat ein »wilder« Prediger für kurze Zeit sein Publikum unter freiem Himmel gefunden. 50 bis 100 Personen umringen ihn, die meisten dürften Algerier oder Marokkaner sein. Der Mann redet sich beinahe in Trance, wild gestikulierend, seine Stimme ist heiser. »Sieht so eine islamische Herrschaft aus?«, fragt er beschwörend auf arabisch in die Runde. Sein ausgestreckter Zeigefinger fuchtelt auf der Titelseite einer marokkanischen Tageszeitung herum, man sieht ein Foto des derzeitigen Königs Mohammed VI. und darunter einen Bericht über einen politischen Gefangenen. Die Antwort erteilt er sich vor seinen Zuhörern gleich selbst: »Nein, das ist die Herrschaft des Juden, das ist die zionistische Herrschaft.« Oftmals befinden sich die Jugendlichen arabisch-migrantischer Herkunft in einer Grauzone, wo sie zwischen verschiedenen Einflüssen hin- und hergerissen sind. Das erleichtert das Projezieren von Bildern und das Kultivieren angesammelter Ressentiments und Stereotypen (vor allem bei jenen, die keinen persönlichen Kontakt zu Mitgliedern der jüdischen Community haben: »Juden, das sind die mit ihrer dummen Mauer in Palästina« erklärte ein Migrantenjugendlicher Ende 2002).

Schädliche Ereignisse

Eine eindeutig schädliche Einwirkung übten allerdings jüngere Ereignisse aus, bei denen öffentlich angeprangerte antisemitische Aggressionen sich als vorgetäuscht erwiesen und schon früh eine Denunziation angeblicher »arabischer/migrantischer Tätergruppen« erfolgte. Das bekannteste Ereignis in dieser Hinsicht bildet die angeblich antisemitisch motivierte Attacke, die die 24jährige (Nichtjüdin) Marie L. im Juli 2004 im Pariser Vorortzug RER erlitten haben wollte. Dabei gab sie vor den Fernsehkameras zu Protokoll, sie und ihr Baby seien am 9. Juli in der Vorort-Schnellbahn angegriffen worden, nachdem die angeblichen Täter maghrebinischer Herkunft den Ausweis bei ihr entdeckt hätten und anschließend festgestellt haben sollen, dass sie im 16. Pariser Bezirk wohne: »Da wohnen doch nur Juden.« Auf diese Weise sollte die angebliche Aggression gegen Marie L. als antisemitisch motiviert erscheinen. Doch schnell stellte sich heraus: Bereits früher war Marie L. wegen der Erstattung fingierter Anzeigen aufgrund erfundener Straftaten, deren Opfer sie angeblich sei, aufgefallen. Sie wurde Ende Juli 2004 von einem Pariser Gericht zu einer Bewährungsstrafe verurteilt und zu psychiatrischer Behandlung verpflichtet. Doch da war es bereits zu spät: Die Affäre um die »Barbaren im Vorortzug« hatte bereits eine riesige öffentliche Aufmerksamkeit erregt. Öffentliche Demonstrationen hatten für das vermeintliche Opfer stattgefunden, die beispielsweise die französische KP organisiert hatte. Weiterhin hatten die Medien die Nachricht über die angeblichen Merkmale der »afrikanischen und arabischen« Täter in alle Haushalte getragen, und Phänomene von Antisemitismus in Teilen der Öffentlichkeit deutlich mit dieser Identitätszuschreibung belegt (die konservative Tageszeitung Le Figaro: »Ein Import von der anderen Seite des Mittelmeers«). Das wiederum sorgte für heftige Abwehrreaktionen in Teilen der Migrantenjugend, die sich selbst als »wahre Opfer« betrachteten und beklagten, erneut werde zu Unrecht mit Fingern auf ihre Gruppe gezeigt. Zahlreiche Berichte belegen die schädliche Auswirkung dieser Konstellation. Die Kleinpartei EuroPalestine, die bei Wahlen im Juni 2004 in einzelnen Banlieues rund um Paris bis zu zehn Prozent (aber deutlich unter zwei Prozent in der gesamten Hauptstadtregion) einfuhr, bemühte sich vor diesem Hintergrund, öffentlich den Eindruck zu erwecken, Antisemitismus und Gewalt gegen Juden insgesamt seien reine Propaganda, die sich gegen die Migranten richte. Die Selbstgerechtigkeit ist seit den Ereignissen vom Juli 2004 zweifellos sowohl bei manchen Angehörigen der Mehrheitsgesellschaft (»Antisemitismus ist ein fremder Import, sofern es ihn gibt«) als auch bei manchen Mitgliedern migrantischer Gruppen (»Wir werden zu Unrecht angeprangert.«) gewachsen.
Die Affäre um den Offizier Alfred Dreyfus entwickelte sich zur Projektionsfläche einer antisemitischen Kampagne