Editorial
Opferperspektiven
Antifa Infoblatt #57 Editorial Liebe Antifas, FreundInnen und GenossInnen, liebe LeserInnen Nachdem der zehnte Jahrestag des Pogroms von Rostock-Lichtenhagen relativ unbemerkt an einer größeren Öffentlichkeit vorbei gezogen ist, haben wir uns in diesem Heft für einen eigenen Rückblick auf die frühen neunziger Jahre entschieden. Interviews zum Tod von zwei AntifaschistInnen - Conny und Silvio - sollen an diejenigen erinnern, die das Motto »Eingreifen statt Wegsehen« ernst genommen haben. Uns geht es mit diesen Interviews darum, ein Stück antifaschistischer Bewegungsgeschichte sowie die Erfahrungen der AkteurInnen zu dokumentieren und Diskussionen anzuregen, die heute genauso aktuell sind wie vor zehn Jahren.
 
Da rechter Terror und seine Opfer nach dem Aufstand der Anständigen ganz schnell wieder aus der gesellschaftlichen Debatte verschwunden sind, haben wir uns entschieden, im Schwerpunkt dieses Heftes über die Erfahrungen der Initiativen zu berichten, die hauptamtlich in den neuen Bundesländern Opfer rassistischer und rechter Angriffe unterstützen. Ihr findet die Beschreibungen und Analysen, wie und ob sich die Situation vor Ort dadurch ändern lassen, ab Seite 6. Eine Forderung, die sich aus der Situation in den alten Bundesländern ableitet, liegt auf der Hand: Dass Anlaufstellen für Betroffene rechtsextremer Angriffe flächendeckend entstehen und gefördert werden müssten. Wie tief verwurzelt rechte Hegemonie vielerorts inzwischen ist, wird nicht nur an den über 100.000 WählerInnenstimmen für die NPD bei der Bundestagswahl deutlich, sondern unter anderem auch an den dreitägigen Angriffen auf ein Flüchtlingsheim im niedersächsischen Algermissen im September und an der zugespitzten Situation im bayerischen Oberfranken.
 
Die Fortsetzung der rot-grünen Bundesregierung heißt im Bereich Rechtsextremismus allenfalls Stillstand auf einem unhaltbaren Niveau. In dem Maß wie deutlich wird, dass die Schaumschlägerei von der vielbeschworenen Zivilgesellschaft kalter Kaffee von gestern ist, werden AntifaschistInnen wieder zunehmend direktes Ziel von rechten Angriffen. Anti-Antifa-Aktionen der Neonazis haben unter anderem auch deshalb ein gefährlicheres Niveau erreicht, weil die extreme Rechte politische Rückendeckung aus der Mitte der Gesellschaft und von den politisch Verantwortlichen erhält.
 
Wenn derzeit von Rechtsextremismus überhaupt noch die Rede ist, dann setzen fast alle auf Law-and-Order, zum Beispiel in Form von V-Männern. Die Praxis der Geheimdienste hat entscheidend dazu beigetragen, dass sich in ihrem Windschatten und vielfach unter ihrer schützenden Hand neonazistische Strukturen etablieren konnten (s. Seite 22). Die Forderung nach einer Auflösung des Verfassungsschutzes bleibt deshalb aktueller denn je. Genauso wie die Forderung nach gleichen Rechten für alle: Denn im Windschatten des Zuwanderungs(begrenzungs) gesetzes gelingt es Rot-Grün, die Rechte von Flüchtlingen weiter zu beschneiden und ihre Lebenssituation unerträglich zu machen, ohne dass sich bislang nennenswerter Protest entwickelt hat. Zu denjenigen, die derzeit konkret von Abschiebung bedroht sind, gehören über 50.000 Flüchtlinge aus dem ehemaligen Jugoslawien. Viele von ihnen sind Roma, die sowohl in ihren Herkunftsländern als auch in Deutschland extreme Diskriminierung erfahren. Ihr Kampf um ein Bleiberecht wird wenig unterstützt. Zu diesem Thema gibt es zwei Artikel im Ressort Rassismus zur Situation von Roma in Osteuropa und ihren aktuellen Protesten. Beim Pogrom von Rostock-Lichtenhagen gehörten Roma zu den wesentlich Betroffenen von rassistischem Terror: Zehn Jahre später hat sich daran wenig geändert. Eine antifaschistische Bewegung, die ihren antirassistischen Anspruch ernst nimmt, sollte sich dazu verhalten und einmischen.
 
In diesem Sinne wünschen wir Euch und uns einen Herbst, in dem wir als Antifabewegung offensiv mit unserer Forderung nach einer gleichberechtigten Gesellschaft und nazifreien Räumen präsent sind.
 
Korrekturen, Hinweise und Dank
 
Wir haben vergessen, Udo Wolters als den Autor des Artikels »Verkürzter Antikapitalismus« im AIB Nr. 56 zu nennen und bitten um Entschuldigung. Ein LeserInnenbrief zu dem Artikel »Es gibt keine bedingungslose Solidarität« aus dem AIB Nr. 56 findet Ihr aus Platzgründen nicht im Heft, sondern hier auf unserer Website ebenso wie die komplette Fassung des Artikels »Schlagt die Sudeten mit den Benes-Dekreten« sowie die lange Version des Interviews zum Tod von Conny Weßmann in Göttingen vor 13 Jahren. Außerdem gilt unser Dank den MacherInnen der Ausstellung »Anschläge gegen Rechts«, die uns ihre Bilder für den Schwerpunkt zur Verfügung gestellt haben. Ebenso möchten wir uns bei denjenigen bedanken, die unseren Appell für Förderabos nicht überlesen und durch großzügige Spenden die Arbeit des AIB möglich machen. Danke schön! Allen anderen können wir praktischerweise mitteilen, dass wir weiterhin dringend Geld brauchen - und dies keinesfalls bei der nächsten Endredaktion für Schokolade verprassen werden.