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No borders?!

Über Grenzen und Grenzen, Rassismus und Sexismus

Dieser Text richtet sich in erster Linie an Menschen, die FrauenLesben Sektierertum und Ausgrenzung vorwerfen. Nach meinen Erfahrungen auf den Grenzcamps in Forst und Kelsterbach haben bezüglich separater FrauenLesben- Bereiche vor allem Flüchtlinge (bzw. Flüchtlingsmänner) Unverständnis geäußert. (Was nicht heißen soll, dass Nicht- Flüchtlingen die Bedeutung von FrauenLesben- Bereichen unbedingt klarer ist.) "Unterstützung" erfuhren sie dabei von einigen Menschen (zum Großteil Männern), die meinten, FrauenLesben Rassismus vorwerfen zu müssen, wenn diese sich gegen Sexismus wehrten. (vgl. Diskussion in Forst im Anschluss an eine e-mail vom Antifa- Workcamp in Buchenwald) Diese Fraktion, verzichtete locker mal zu Gunsten eines (vermeintlichen, weil im Grunde paternalistischen) Anti- Rassismus auf Anti- Sexismus. Dieser Text stellt meinerseits einen Versuch dar, gegenseitige Verständigung und Verständnis zu schaffen und damit die Basis für einen gemeinsamen antisexistischen und antirassistischen Kampf. Dienjenigen, denen bei Diskussionen über sexualisierte Gewalt stets nur einfällt, das Thema zu wechseln und FrauenLesben "Lustfeindlichkeit" zu unterstellen, brauchen gar nicht weiterlesen. (vgl. "Aufruf zu einem Teach- In: Standrecht ohne Grenzen im grenzkritischen Freistaat" von Kurt und Lotte Rotholz)

Vorweg einiges zu meiner Person, da ich denke, dass dies nützlich sein kann, um meine Positionen/ Argumentationen und meine persönliche Verstricktheit in die Thematik zu verstehen. Ich selbst bin seit mehreren Jahren sowohl in gemischtgeschlechtlichen autonomen Gruppen als auch in linksradikalen feministischen Zusammenhängen aktiv. Theoretisch gehe ich davon aus, dass die Kategorien "Mann" bzw. "Frau" (sowohl das biologische Geschlecht ["sex"] als auch das soziale Geschlecht, die Geschlechtsrolle ["gender"]) Konstrukte sind, die der Aufrechterhaltung von Patriarchat und Heterosexualität als Norm dienen. Praktische organisiere ich mich dennoch auch in FrauenLesben- Zusammenhängen, da ich in dieser Gesellschaft (und auch in der Szene) als Frau identifiziert werde und mein Leben davon bestimmt/ geprägt ist. (Dadurch, dass mich 99% der Menschen, die mir begegnen mich als Frau betrachten und behandeln ist Frau- Sein natürlich auch für mich Realität. Mein (wohl eher Fern-) Ziel bleibt es jedoch, die Kategorien Mann und Frau aufzulösen (genauso wie die der "Rasse"), um zu einem solidarischen Umgang unterschiedlicher MENSCHEN zu gelangen. Da wir davon aber noch meilenweit entfernt sind, halte ich an einer (auch) getrenntgeschlechtlichen Organisierung fest.

Anlass zu diesem Text war ein Beitrag der Flüchtlingsinitiative Brandenburg in der Doku zum Grenzcamp in Rhein- Main. (Zitat: Ein weiterer schockierender Zwischenfall war die Existenz einer Grenze im Grenzcamp. Einige Damen hatten ihre Zelte in einem Teil des Camps aufgebaut und verweigerten Männern den Durchgang. Sie zogen ein weiß- rotes Absperrband, das gewöhnlich von Verkehrspolizei benutzt wird, über ca. 100 Meter, umkreisten damit ihren Bereich und hängten später ein Plakat auf, dass Männern untersagte, weiterzugehen. Tijan von The Voice Africa Forum fragte: "Wie kann hier eine Grenze sein, wo wir doch genau gegen alle Formen von Grenzen kämpfen? Oder ist das nur ein theoretischer Kampf?" Er wollte die Absperrung überschreiten, aber er wurde von einigen Frauen angeschrien. Er stellte später fest: "Es besteht ein Gesetz der Aufenthaltsbeschränkung im Grenzcamp." Es sollte noch erwähnt werden, dass diese Beschränkung sich nicht allein gegen Flüchtlingsmänner richtete, sondern auch gegen deutsche. Dies allerdings widersprach eindeutig dem Slogan "No borders, no nation, stop deportation." [Seite 29])

Mein Anliegen ist es, den Sinn dieser "Grenzziehung" klar zu machen. (Endlich einmal auf schriflichem Weg, da ich - wie viele FrauenLesben - auf solche Beiträge in Diskussionen meist nur mit einem entnervten "nicht schon wieder" reagieren kann. Mir geht es darum, gewisse Dinge/ Positionen zu erklären, um zumindest punktuell eine gemeinsame Politik zu ermöglichen. Dies soll aber "keine Nachhilfestunde in puncto Sexismus" darstellen. Feministische Grenzziehungen stehen nicht zur Diskussion!)

"Grenze" ist nicht gleich Grenze

Natürlich bin ich mir im Klaren darüber, dass Grenzen (zwischen Nationalstaaten, Landkreisen, ...) das Leben von Flüchtlingen in weitaus höherem Maße bestimmen als meines als Frau mit deutschem Pass und heller Hautfarbe. Für FrauenLesben existieren dagegegen ganz andere "Grenzen" bzw. Vielmehr Grenzverletzungen. Feministische Grenzziehung bedeutet hier, sich (und andere?) vor (sexualisierter) Fremdbestimmung zu schützen. WelcheR gegen diese Grenzziehungen (die persönlich stark variieren) verstößt, verletzt die Integrität des Gegenüber. Über das Ausmaß der Folgen sind sich die wenigsten Männer (z.T. auch Frauen) im Klaren. Konkret: Zwei Menschen schmusen, eineR der beiden (auf Grund struktureller patriarchaler Unterdrückung in der Regel eine Frau) macht dabei ob verbal oder non- verbal klar: "bis hierher und nicht weiter", die andere Person (in der Regel ein Mann) geht darüber aber hinweg. Die "Grenzen" der einen Person wurden verletzt/ missachtet, das heißt ihre Selbstbestimmung angegriffen. Sinn des "bis hierher und nicht weiter" ist es, dies möglichst zu verhindern. Dass sich viele Männer nicht an Grenzziehungen (durch FrauenLesben) halten, beweisen tagtägliche sexualisierte Übergriffe und Vergewaltigungen. Vor dem Hintergrund, dass jede 4.FrauLesbe in ihrem Leben sexualisierte Gewalt erfahren hat/ erfährt, kann nicht erwartet werden, dass FrauenLesben ohne ihre eigenen Erfahrungen im Kopf zu haben darüber diskutieren ( Dies wird aber scheinbar oft verlangt, wie könnte FrauenLesben sonst mangelnde Objektivität/ Sachlichkeit vorgeworfen werden.), was häufig dazu führt, dass diese Diskussionen emotional sehr aufgeladen sind. Ignoranz von Seiten von Männern oder gar ein "aber doch nicht in der Szene" tun da ihr übriges. Um es deutlicher zu sagen: Typen, wenn ihr nicht wisst, wovon ihr redet (und das wissen wohl die wenigsten beim Thema sexualisierte Übergriffe/ Vergewaltigung), dann haltet die Klappe und kauft euch 'n Buch. Bei anderen Sachen labert ihr ja auch nicht so unqualifiziert Scheiße daher!

Ein separater FrauenLesben- Bereich ...

.... soll FrauenLesben ebenfalls vor Angriffen auf ihre Würde und Selbstbestimmung schützen (ob sexistische Witze, Blicke oder Übergriffe). Zudem ist er ein Ort, an den sich (genervte) FrauenLesben zurückziehen können, sich mit ähnlich denkenden FrauenLesben mit ähnlichen Erfahrungen austauschen und somit auch wieder Kraft für gemischtgeschlechtliche Auseinandersetzung bzw. ein Leben mit Männern überhaupt tanken können. (Es ist aber auch zu akzeptieren, wenn manche FrauenLesben überhaupt nichts mit Männern machen möchten!) Diese Grenzziehungen dienen also nicht wie die Grenzen von Nationalstaaten der Aufrechterhaltung von Privilegien sondern dem Schutz von strukturell Unterdrückten; sie entstehen nicht aus einer Position der Macht heraus, sondern sind bestenfalls Ausdruck von Gegenmacht, Ausdruck dessen, dass ein sich- wehren möglich ist. Da es kein richtiges Leben im Falschen geben kann, sind nun mal auch auf einem antirassistischen Grenzcamp Männer (ob sie wollen oder nicht) Nutznießer des Patriarchats (was nicht heißen soll, dass Männer nicht auch unter dem Patriarchat leiden können). Und wenn ein Mann wirklich gegen ALLE Formen von Unterdrückung angehen will, hat er - ob Flüchtling oder nicht - gewisse Grenzziehungen durch FrauenLesben zu akzeptieren und damit Bereitschaft für einen gemeinsamen solidarischen Kampf zu signalisieren. Denn genauso wie Nicht- Flüchtlinge, die ernsthaft antirassistisch sein wollen und sich auch darum bemühen, noch lange nicht davor gefeit sind, doch rassistisch zu handeln/ denken sind es Männer im Patriarchat potentielle und reale Täter und es besteht für sie stets die Möglichkeit, sich doch (wieder) auf die eigenen Privilegien zurückzuziehen (d.h. die Solidarität mit FrauenLesben aufzukündigen) oder auch ungewollt FrauenLesben zu diskriminieren ( so spurlos gehen Jahre an Sozialisation in einer sexistischen, rassistischen Gesellschaft an keiner/ keinem vorbei!) Grenzziehungen durch FrauenLesben sind keine Absage an eine gemischtgeschlechtliche politische Perspektive, sie ermöglichen vielmehr die Zusammenarbeit in einer Gesellschaft ( und auch Szene), die nach wie vor patriarchal geprägt ist.

Ein separater FrauenLesben- Bereich widerspricht der Parole "No border, no nation!" genauso wenig, wie es eine Selbstorganisierung von Flüchtlingen oder ein separater Flüchtlingsbereich täte, wenn er von Flüchtlingen gewünscht würde. Dass FrauenLesben auf dem Camp ihren "eigenen" Bereich wünschen, Flüchtlinge dagegen (so weit ich weiß) nicht, hängt wohl mit der unterschiedlichen Funktionsweise von Sexismus und Rassismus zusammen. Während Sexismus Frauen(Lesben) in eine von patriarchalen Normen geprägte Welt einschließt und dominiert, werden Flüchtlinge in derselben, eben auch rassistisch strukturierten Gesellschaft ausgegrenzt und ihrer Rechte beraubt.

Kampf dem sexistischen und rassistischen Normalzustand!
Für ein antipatriarchales Campleben 2002!


Eine AnarchA

P.S.: Ich hatte große Schwierigkeiten beim Formulieren dieses Textes, da sensible Themen ein hohes Maß an - na klar - Sensibilität bei der Wortwahl erfordern. So kann ich nur hoffen, Flüchtlinge, Transgender, ... nicht ausgegrenzt zu haben. Ich würde mir eine offenen, sensible Diskussion über Grenzziehungen (wobei für mich gewisse Positionen, s.o., nicht zur Debatte stehen) und Aus- /Einschlüsse wünschen, bei der akzeptiert wird, dass unterschiedliche Menschen von verschiedenen Unterdrückungsmechanismen unterschiedlich betroffen sind und bei Diskussionen deshalb auch stets ihre eigenen Erfahrungen im Kopf haben, die den anderen DiskutantInnen aber völlig unbekannt sein können. Ziel muss (soll?) keine gemeinsame Linie sein, sondern gegenseitiges Verständnis und Akzeptanz als Voraussetzung für einen zumindest punktuellen gemeinsamen Kampf. P.P.S.: Vielen Dank an die, die durch gemeinsame Diskussionen bewusst oder unbewusst an der Entstehung dieses Textes mitgewirkt haben.

26.06.2002