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Kritik der Politik oder kritische Politik

Wenn man sich heutzutage mit so manch selbst ernanntem Kritiker unterhält, wird man nicht selten so einen Satz hören wie: „Es gibt kein unpolitisches Leben“. Die Argumentation dieser Person würde wahrscheinlich darauf hinauslaufen, dass man sich mit verschiedenen Missständen innerhalb der Gesellschaft auseinandersetzt und diese kritisiert. Demnach würde jeder schon immer Politik betreiben. Aber das grundlegende Problem wird dabei verkannt, da es selbst oberflächlich betrachtet wird. Die Gesellschaft, d.h. die kapitalistische, wird nicht im allgemeinen, sondern nur an Erscheinungen kritisiert, wie z.B. soziale Ungerechtigkeiten oder Diskriminierungen. Das eigentliche Problem wird demnach nicht kritisiert, sondern völlig falsch verstanden.

Kapitalistische Produktionsweise

Innerhalb dieser Gesellschaft geht es nicht um die Befriedigung der individuellen Bedürfnisse der Menschen, sondern um ständige Vermehrung des Geldes, um es dann selbst wieder zu investieren. Dies liegt aber nicht in dem bewussten Tun der Menschen, sondern im Prinzip des Kapitalismus, welchen sie gedanklich nicht durchdringen können, aber alltäglich vollziehen. Das bedeutet für das konkrete Leben der Menschen, dass sie verschiedensten Zwängen ausgesetzt sind, wie dem Zwang zur Lohnarbeit, zum Zivildienst und des Tausches, d.h. für Geld verschiedenste Waren zu erwerben. So stehen heute nicht die Menschen im Vordergrund der Gesellschaft, sondern ein auf Konkurrenz und Effizienz basierendes Prinzip, nach welchem in kürzester Zeit so viel wie möglich produziert und dabei so wenig Arbeitskraft wie möglich vernutzt werden soll, da diese ja bekannterweise Geld kostet. Dieser Aufwand gilt aber nicht den Menschen, dem Verkäufer – ob Großkonzern oder Tante-Emma-Laden – ist es völlig egal, ob der Obdachlose Hunger hat oder nicht, solange er kein Geld hat. Daran ändert sich auch nicht, wenn der Verkäufer ihm gerne Brot schenken würde; weil er selbst überleben muss oder bankrott konkurriert wird. Obwohl die Menschen auf dieser Welt alle genügend Essen haben könnten, lebt der Großteil der Weltbevölkerung immer noch in Armut, weil sie dem (Welt-)Markt nicht dienlich sind. Und der Rest schuftet sich bei den letzten Drecksarbeiten, wie auf irgendwelchen Ämtern, in Fabriken oder sonstigen idiotischen Dienstleistungen ab, obwohl diese vollkommen blödsinnig sind. Es werden lieber Hektartonnen Weizen verbrannt, um den Marktpreis stabil zu halten, statt endlich eine vernünftige Gesellschaft zu organisieren. Deshalb kann es auch letztendlich nur um die Abschaffung von Ware, Arbeit, Geld und Staat gehen.1

Kritik der Politik und des Staates

Politik ist dabei selbst ein notwendiger Bestandteil der heutigen Gesellschaftsformation. Sie ist selbst ein Ausdruck des bürgerlichen Staates, welcher sich wiederum nur durch Politik konstituieren kann. So ist das Wesen von Politik schon immer die Aufrechterhaltung der kapitalistischen Gesellschaft bzw. das Ringen um die richtige Staatsform und -verwaltung, egal, wie gut oder schlecht es auch die jeweiligen Personen meinen. So kann auch der Spruch „Eine andere Politik ist möglich“ sich nur auf einen so genannten „besseren Staat“ beziehen. Aber der Staat ist selbst nicht trennbar von der kapitalistischen Gesellschaft, sondern diese gehören notwendig zusammen.2 So bedarf es bspw. einer ständigen Polizeipräsenz, um „Gewalttaten“ gewalttätig zu verhindern, welche den allgemeinen kapitalistischen Betrieb stören, wie bspw. Diebstahl, Hausbesetzen oder „illegale“ Migration. Hier darf aber keineswegs der spezifisch kapitalistische Staat mit vorkapitalistischen Staatsformen verwechselt werden, da diese wie in der feudalen Gesellschaft nie auf einen solchen Verwaltungsapparat bzw. einem ausgebildeten Recht aufbauten. Diese Form diente allerhöchstens der Bereicherung des Feudalherrn. Der kapitalistische Staat dagegen gewährleistet selbst die Bedingungen zur Vermehrung des Geldes: Es gibt eine spezifische Rechtsform (die z.B. Gleichheit vor dem Gesetz gewährleistet), er stellt die Infrastruktur zu Verfügung, und er besitzt einen ausgebildeten Polizeiapparat. Zum Anderen ist er aber Ausdruck des allgemeinen politischen Willens seiner Staatsbürger, welche selbst Teil des Bestehenden sind. Demnach kann auch Politik im Staat nur Ausdruck der Interessen seiner Bürger sein; Interessen, welche selber auf der Warenproduktion basieren, egal, ob sie sich im Staat realisieren oder nicht. Sie stellen selbst Forderungen an den Staat, um ihre Interessen zu verwirklichen, welcher versucht zwischen diesen zu vermitteln. Und genau in dieser Vermittlung von verschiedenen politischen, wirtschaftlichen etc. Interessen bzw. Konflikten stellt sich der allgemeine Wille dar. Damit muss Politik schon immer eine Identifikation mit der staatlichen Herrschaft bedeuten und kann nie über die kapitalistische Gesellschaft hinausweisen – sondern sie muss sie sogar ständig aufrechterhalten. Demnach kann Politik nichts anderes sein als die Aufrechterhaltung des staatlichen Zwangsapparats, welcher selbst schon immer auf Gewalt basieren muss, um überhaupt Recht setzen zu können bzw. die Bedingungen zur Warenproduktion zu gewährleisten (Schutz von Eigentum etc.). Dies ändert sich auch nicht, wenn man sich als außerparlamentarische Opposition versteht, da sich eine solche Opposition auch nur dort herstellen kann, wo eine politische Macht vorhanden ist, nach welcher sie nur selbst trachtet, wie man an Leuten wie Joschka Fischer oder Gerhard Schröder wahrnehmen kann. Dabei bleibt gleichgültig, ob man sich gegen Atomkraftwerke oder gegen die Asylgesetzgebung engagiert; dies ist genauso politisch, wie an demokratischen Wahlen teilzunehmen. Auch wenn es in manchen Fällen sehr sinnvoll ist, sich politisch zu engagieren – z. B. um Menschen zu helfen, die unterdrückt werden –, kann dies nie auf die Aufhebung der kapitalistischen Produktionsweise hinauslaufen, bleibt in ihr verhaftet.

Kritik und Politik

Ausgangs- und Endpunkt aller Gesellschaftskritik muss meines Erachtens sein, „dass der Mensch das höchste Wesen für den Menschen sei, also (...) alle Verhältnisse umzuwerfen, in denen der Mensch ein erniedrigtes, ein geknechtetes, ein verlassenes, ein verächtliches Wesen ist“ ( K. Marx ). Das bedeutet, dass Kritik am Leiden des Einzelnen ansetzt und aufs Ganze, also den Kapitalismus, abzielt, um ihn abzuschaffen. Wenn es also Ziel von Gesellschaftskritik ist, jegliches Leiden, das durch eine unmenschliche Gesellschaft produziert wird, abzuschaffen, heißt dies vor allem, sich nicht auf irgendwelche Reformen oder Verbesserungen innerhalb ihrer zu beziehen. Die Kritik muss selber aufzeigen, dass jegliche Versuche zur Verbesserung des Lebens, welche sich innerhalb der Grenzen der kapitalistischen Vergesellschaftung bewegen, scheitern müssen. Scheitern müssen diese Versuche nicht in der Hinsicht, dass es vielleicht Lohnerhöhungen oder Arbeitszeitverkürzungen geben kann, sondern dass genau die alltäglich Leid hervorbringende Gesellschaft dabei nicht angetastet wird. Solange die Gesellschaft auf Arbeit, Ware, Geld und Staat basiert, ist eine Gesellschaft, die auf den Bedürfnissen der Menschen gründet und in welcher der Mensch im Mittelpunkt steht, nicht möglich. Es ist zwar sehr lobenswert, wenn Einzelne versuchen, anderen Menschen in der so genannten Dritten Welt zu helfen, „Entwicklungshilfe“ zu betreiben, aber dies läuft auf nichts anderes hinaus als Elendsverwaltung. Da die Dritte Welt so oder so vom Weltmarkt ausgeschlossen ist, höchstens zur weiteren Ausbeutung weltweit notwendiger Ressourcen dient, kann es nicht darum gehen, noch mehr Kapitalismus durchzusetzen, weil er schon lange dort angekommen ist, sondern nur um dessen Abschaffung. Oder um ein anderes Beispiel zu nennen: Egal wie wichtig oder auch angebracht heutzutage Antifaschismus sein mag, muss dieser sich selbst auf die bürgerliche Gesellschaft beziehen. Er verteidigt die bürgerliche Demokratie gegenüber faschistischen Ideologien und stellt dementsprechend auch nur den „besseren Staat“ im Staat dar. Antifaschismus will also die „freiheitlich“ demokratische Grundordnung gegen etwas noch Schlimmeres verteidigen. Dabei sei keineswegs gegen antifaschistische Arbeit gesprochen, da sie innerhalb einer falschen Gesellschaft immer noch das Richtigere macht. Sie kann aber keineswegs über die derzeitige Gesellschaftsformation hinausweisen, da sie sich auf bürgerliche Kategorien wie Gleichheit beziehen muss. Da die eigentlich grundlegenden Kategorien des Kapitalismus nicht angegriffen werden, welche überhaupt erst die Möglichkeit für Ideologien wie Rassismus oder Antisemitismus bereiten, kann auch keine radikale Gesellschaftskritik formuliert werden. Demzufolge muss Kritik selbst aufzeigen, wie durch eine vollkommen durchgeknallte Gesellschaft noch verrücktere Bewusstseinsformen entstehen können. Dabei versteht sich die Kritik aber selbst als von der Gesellschaft hervorgebracht und demzufolge als ihr Produkt. Es wird kein Standpunkt eingenommen, welcher die Gesellschaft von außen betrachtet, sondern einer, welcher sich selbst als ein Teil des großen Ganzen versteht. So ist Gesellschaftskritik auch eine ständige Selbstreflexion, da man sich selbst als ein Teil der Gesellschaft versteht und somit auch kritisieren muss. Aufgabe von Kritik ist also zu zeigen, dass es der eigene gesellschaftliche Kontext ist, welcher die Möglichkeit erzeugt, sich selbst und die Gesellschaft im Allgemeinen zu kritisieren. Sie muss aufzeigen dass das heutige System keine immer währende überhistorische Konstante ist, sondern dass dieses selbst historisch entstanden ist und eine befreite Gesellschaft möglich ist. Es geht also darum, der Gesellschaft ihre eigene Melodie vorzuspielen, d.h. ihre ganze Widersprüchlichkeit und Zerrissenheit aufzuzeigen. Dies bedeutet die Begriffe, welche einem die Gesellschaft vorgibt, kritisch zu wenden und anhand ihrer den Unsinn der kapitalistischen Gesellschaft aufzuzeigen. (Ein gutes Beispiel dafür wäre die Unterscheidung innerhalb der Volkswirtschaftslehre zwischen Bedürfnis und Bedarf. Ein Bedürfnis kann demnach jeder haben, es wird aber erst relevant, sobald bei ihm ein Bedarf besteht. Dies bedeutet, dass eine Kaufkraft und ein Bedürfnis zusammenkommen. Oder einfach ausgedrückt: Wer kein Geld besitzt, darf auch nicht essen, die Lebensnotwendigkeit hin oder her. Schon diese begriffliche Scheidung macht deutlich, worauf diese Gesellschaft hinausläuft. Und genau daran setzt Kritik an, da sie auf die Aufhebung der bürgerlichen Gesellschaft hinausläuft. Und dies macht den elementaren Unterschied zur Politik aus. Kritik möchte innerhalb dieser Gesellschaft nichts verbessern, da sie weiß, wodurch menschliches Leiden hervorgebracht wird, nämlich durch die Gesellschaft selbst. Sie möchte, dass Leiden nicht fortbesteht, sondern abgeschafft wird.

Schlussbemerkung

Eine Kritik der Politik muss sich nach dem schon gesagten immer an der Umwälzung der kapitalistischen Gesellschaft orientieren und besitzt von Anfang an schon immer ein utopisches Moment – die Utopie eines Vereins freier Menschen. So könnte man es zum Schluß mit einem Zitat von Johannes Agnoli zusammenfassen: „...wie die Kritik der politischen Ökonomie zugleich die Absage an die kapitalistische Produktionsweise ist, so wäre die Kritik der Politik die Absage an die Form `Staat´.“

kleiner Mann


1 Dieser Abschnitt soll nur als eine grobe Einführung in die Thematik der kapitalistischen Gesellschaft verstanden werden und besitzt keinen Anspruch auf Vollständigkeit.
2 Hierbei wird bewusst von verschiedenen Formen des Staates (Faschismus, Staatssozialismus, Demokratie etc.) abgesehen, da dies den Rahmen des Textes sprengen würde und man auf die spezifisch historischen Bedingungen eingehen müsste.