Schwer kalkulierbar

Gummigeschosstechnik: ein internationaler Überblick

Als in den 50er Jahren weltweit die Völker der Kolonien gegen die alten Imperien aufstanden, schlug die Stunde der Geschosse mit "gebremster Gewalt", weil mit Rücksicht auf die Weltöffentlichkeit nicht jedesmal die Rebellion in einem Blutbad ertränkt werden konnte.

Von den Briten für den Einsatz in den Kolonien entwickelt, wurden solche Geschosse erstmals 1958 in Hongkong und Anfang der 70er Jahre von den Amerikanern bei "Unruhen" an der Berkeley- University/ California eingesetzt. Es waren ca. 2,5 cm lange Hartholzprojektile, die entweder in Fuss-, bzw. Kniehöhe oder auf den Boden vor und neben die "Störer" geschossen wurden und dort zersplitterten.

In Hongkong führte 1967 eine Weiterentwicklung dieser Geschosse - ein 18 cm langes Holzgeschoss mit Metallkern - zum ersten Todesopfer.

Gummigeschosse ...

Die Anwendung dieser Geschosse im "zivilisierten Europa" wurde von der britischen Regierung als zu gefährlich abgelehnt (1). Stattdessen entwickelte man in enger Zusammenarbeit mit den USA das Gummigeschoss, das im August 1970 in Nordirland eingeführt wurde.

Seither wurden und werden hauptsächlich von Grossbritannien und den USA eine Vielzahl verschiedener Wucht- und Schrotgeschosse entwickelt und eingesetzt. Seit 1973 beteiligt sich auch die bundesdeutsche Polizeiführungsakademie in Hiltrup bei Münster/Westfalen an der Entwicklung dieser "humanen Waffen".

Gummigeschosse gibt es inzwischen in unterschiedlichen Grössen, Formen, Gewichten und Kalibern. Das reicht von Wuchtgeschossen mit Längen von 15 cm, bzw. 180 g Gewicht bis zu Schrotladungen, bei denen die Patronen mit bis zu 280 Gummikugeln ä 4 mm Durchmesser geladen sind.

... in Grossbritannien ...

Plastikgeschoss mit Hülse

 

Plastikgeschoss mit Hülse

 

Unter der Bezeichnung "Anti- Riot Baton Round L2A2" konstruierte man als erstes ein ca. 15 cm langes Gummivollgeschoss mit einer abgerundeten Spitze. Gleich in den ersten 3 Jahren seiner Einführung wurden in Nordirland ca. 55.000 dieser Geschosse abgefeuert, mit dem Resultat, dass 1972 und 1973 drei Jungen zwischen 11 und 21 Jahren getötet und hunderte Menschen schwer verletzt wurden.

Mit dem Hinweis auf die Gefährlichkeit wurden diese Projektile dann mit stumpfen Enden hergestellt und schliesslich durch Plastikgeschosse ersetzt. Obwohl Plastikgeschosse leichter sind als Hartgummiprojektile, zeigen sie eine noch verheerendere Wirkung, da sie härter sind und mit einer höheren Geschwindigkeit abgeschossen werden. Bis Ende 1981 wurden ca. 44.000 dieser Geschosse abgefeuert, bis Juni 1986 in 13 Fällen mit tödlichem Ergebnis. Die Plastikzylinder wurden überdies von den britischen Soldaten häufig noch mit Radiobatterien, Rasierklingen u.ä.m. versehen, was die Wirkung noch verstärkte.

Die genannten Gummi- und Plastikgeschosse sowie das dazugehörige Abschussgerät wurden von der britischen Waffenfirma Schermuly entwickelt. Von der Technischen Kommission des Arbeitskreises II der Innenministerkonferenz, die dieses Gewehr für den Einsatz in der Bundesrepublik testete, wurde es 1974 abgelehnt, da das Gerät zu ungenau sei: Fehlende Visiereinrichtungen der Waffe und schlechte Flugeigenschaften des Geschosses waren der Grund. Mangelnde Zielgenauigkeit des Gewehres wurde selbst in England kritisiert: "Auf 18 m ist es schwierig, ein Ziel von 2 m Durchmesser zu treffen" (2).

Die neueste britische Erfindung auf dem Sektor der "Aufruhr- Kontroll- Waffen" ist das Arwen- Gewehr, Im Gegensatz zum Schermuly- Gewehr besitzt diese neue Waffe ein Munitionsmagazin, das nach dem Revolverprinzip konstruiert ist-, d.h., es können 5 Geschosse hintereinander abgefeuert werden ohne nachzuladen. Als besondere Errungenschaft wird herausgestellt, dass die Trommel zusätzlich noch mit CS- Munition geladen werden kann, so dass innerhalb einer Schussfolge abwechselnd Plastik und Gas verschossen werden kann. Die Schussfolge ist 2,5 mal höher als beim Schermuly- Gewehr. Auch soll es sich durch eine grössere Treffgenauigkeit auszeichnen 8011/o der abgeschossenen Projektile sollen noch auf eine Distanz von 100 m treffen.

Ähnliche Geschosse sind inzwischen auch in Belgien und Frankreich entwickelt worden.

Belfast (1984)

 

Sekunden vor dem tötlichen Schuss auf Sean Downes (Belfast 1984)


... in den Vereinigten Staaten ...

Eine amerikanische Erfindung sind die Stun- Bags. Hierbei handelt es sich um Leinensäcke, die mit Plastik- oder Gummischrot gefüllt sind. Aber auch Schwermetallstaub, Bleihack- oder Holzfüllungen sind in Gebrauch, wobei die Einsatzentfernung zwischen 15 und 35 m liegt. Verschossen werden die stun- bags aus einer eigens hierfür entwickelten Stun- Gun, und inzwischen auch aus den in den Vereinigten Staaten üblichen Polizeiflinten.

Das Stun- Gun ist ein sogenannter Schiessstock. Er besteht aus einem Griffstück, das einen Schlagbolzenmechanismus enthält, und dem Rohr. Der Abschuss erfolgt durch eine im Griff untergebrachte Kohlensäure- Druckladung. Auch dieses Gerät wurde bereits vor Jahren von der deutschen Polizei getestet. Da ein von der Medizinischen Hochschule Hannover angefordertes Gutachten jedoch zu dem Schluss kam, dass solche Stun- Bags auf kurze Distanz in der Lage sind, dem Getroffenen u.U. das Nasenbein oder gar den Halswirbel zu brechen, wurde es als untauglich abgelehnt.

... in der Schweiz ...

Im Gegensatz zu den bisher genannten Geschossen ist das in der Schweiz gebräuchliche Projektil als Schrotladung konzipiert. Das einzelne Schrot hat dabei die Form eines ca. 3 cm langen sechseckigen Hartgummiprismas. Zu Beginn der sogenannten Jugendunruhen benutzte die Schweizer Polizei Ladungen von 42 Schroten a 10g. Im Verlaufe der Auseinandersetzungen wurden die Ladungen dann im Gewicht gesteigert auf 35 Schrote zu je 18g. Diese Geschosse werden mit einer Anfangsgeschwindigkeit von etwa 200 km/h abgefeuert und besitzen dann eine Reichweite bis 50 m.

In's Auge ...

 

Schweizer Gummischrot: jeder tausendste Schuss ging ins Auge

 

Zum Abschuss der Gummischrote werden von der Polizei sog. Tränengaswerfer TW 73 benutzt. Es handelt sich hierbei um einen normalen Karabiner, auf dessen gekürzten Lauf ein Schiessbecher aufgeschweisst wird. Nach Auskunft des Herstellers, der "Eidgenössischen Waffenfabrik" (WF), sind die "Abschussgeräte zudem mit einem Zielgerät für Bogenschüsse auf Distanzen zwischen 80 und 160 m versehen. "Einigermassen gezielte Schüsse" seien jedoch allenfalls bis zu einer Distanz von 40 m möglich (3).

Wenn das Geschoss den "Becher" verlässt, verbrennt oder zerspringt die den Gummizylinder umschliessende "Pakethaut" (eine sogenannte Schrumpfhaut au ' s Plastikfolie) und die Gummigeschosse fliegen mit einer starken Streuwirkung in ihr Ziel. Auf eine Distanz von 20m beträgt der Streukreis bereits 4m. Bei Probeschüssen aus wenigen Metern Entfernung wurden dicker Stoff, Plastikeimer und selbst Sperrholz spielend durchschlagen. Trotzdem ist eine Mindest- Schussdistanz in der Schweiz nicht vorgeschrieben. Jeder Polizist muss beim Einsatz "nur" das "Prinzip der Verhältnismässigkeit" beachten. Die Folgen sind u.a. sieben Demonstranten, die nach Gummigeschosstreffer den teilweisen oder totalen Verlust der Sehfähigkeit auf einem Auge zu beklagen haben.


... und in der Bundesrepublik ...

Nach diesem Muster wurden inzwischen auch in Westdeutschland Gummigeschosse entwickelt. Sie bestehen aus 16 je 12g schweren viertelkreisförmigen Hartgummistücken. Die einzige technische Verbesserung: Der Streukreis wurde um einen Meter verkleinert' und liegt jetzt bei rund 3m auf 25m Distanz. Über die Geschosse ist in einem vertraulichen Bericht der Technischen Kommission, den diese im Herbst 1981 der Innenministerkonferenz vorlegt, zu lesen.- "Gummi- Schrot- Körper", die ihre kinetische Energie an den Körper abgeben, sind in ihrer Wirkung schwer kalkulierbar. Diese hängt sehr stark von der getroffenen Körperpartie ab. (...) Der Auftreffort von Gummi- Schrot- Körpern kann durch die Waffenstreuung (Streukreisdurchmesser der Schrote auf 25m ca. 3m) und durch die Bewegung der Störer nicht vorher bestimmt werden. (...) Die Erfahrungen der Schweizer Polizei zeigen, dass das Einhalten einer Mindestschussentfernung schwer möglich ist" (3).

Auch eine weitere "waffentechnische Errungenschaft" deutscher Forschung findet in der TK-Studie Erwähnung: "Für die MZP 1 (Mehrzweckpistole 1, Anm.) wurde ein Gummi- Kompakt- Körper entwickelt. (...) Der Gummi- Kompakt- Körper besteht aus 4 Gummistäben mit viertelkreisförmigem Querschnitt von 10 cm Länge. Die Stäbe sind an einem Ende durch eine Blattfeder verbunden, so dass sie sich nach Verlassen des Rohres zu einem rechtwinkligen Kreuz auffalten" (3). Dieses Kreuz hat dann eine Spannweite von 24 cm. Mit einem Gewicht von 180 Gramm ist es das bis zu diesem Zeitpunkt gewaltigste Geschoss,

MZP 1 mit Gummischrot

 

MZP 1 mit Gummischroten und Kompaktkörper

 

Das dazugehörige Abschussgerät wurde von der Firma Heckler & Koch aus einer beim Militär benutzten Granatwerfer- Pistole entwickelt. Durch einige technische Veränderungen, z.B. die Verringerung des Kalibers auf 40 mm, wurde daraus die "polizeiliche Sonderwaffe MZP l".

Der Hersteller lobt seine Waffe in den höchsten Tönen: Sie habe eine hohe Treffsicherheit und sei zudem für den Gebrauch von CN- oder CS- Munition ebenso geeignet wie zum Verschiessen von Gumi- und Leuchtspurmunition. Aber auch Farbmunition zur Markierung von Personen oder Fahrzeugen kann damit verschossen werden. Nach einer Auskunft des baden-württembergische Innenministeriums haben Gummigeschosse und Kompaktmunition von der Technischen Kommission bereits 1983 das Prädikat "Einsatzreif" erhalten. Drei Jahre später, am 7. Juni 1986, setzte die Eutiner Bereitschaftspolizei erstmals die MZP 1 gegen die Demonstranten am AKW Brokdorf ein. 260 CS- Geschosse trafen teilweise gezielt im Flachschuss oder als Bogenschuss in die zurückweichende Menge.


"Plötzlicher Herzstillstand"

"Bei Bekleidung mit Unterhemd, Hemd und dünnem Parka wurden bei allen Schüssen erhebliche, ringförmige Hautunterblutungen festgestellt, die nach Aussagen der Versuchspersonen sehr schmerzhaft waren (...) Beim Auge können bei direkten Treffern ganz erhebliche Verletzungen mit Dauerfolgen, einschliesslich Erblindung auftreten."

"Treffer auf den Hals sind als nicht ungefährlich anzusehen. In dieser Körperregion verlaufen sehr viele Nerven (Nervus Vagus), der für die Kreislaufregulation verantwortlich ist. Auch der Blutdruckaufnehmer (Karotissinus) sitzt dort. Dessen mechanische Reizung, bekannt durch Handkantenschläge, führt zu Abfallen von Puls und Blutdruck und kann bis zum plötzlichen Herzstillstand und damit Tod gehen (...) Es besteht kein Zweifel, dass bei einem "richtigen" Ort des Treffers der Handkanteneffekt auftreten kann."

Quelle: Gutachten des Rechtsmedizinischen Instituts der Universität Bonn, in Auftrag gegeben nach einem Beschluss der Bundesinnenministerkonferenz; Gutachter: Diplom- Physiker Professor Dr. med. Karl Schellier. Zitiert nach: Die Neue Ärztliche vom 14.7.86.

Ebenfalls eine deutsche Variante ist ein 40 mm Geschoss, bestehend aus zwei in insgesamt acht Segmente aufgeteilte Scheiben, die mit Nylonfäden verbunden sind. Bei einem Treffer zerspringen diese Scheiben an Sollbruchstellen und umschlingen den Getroffenen. Er soll sich nicht mehr auf den Beinen halten können und stürzen. Da sich jedoch bei diesem Projektil noch grössere schusstechnische Schwierigkeiten als bei anderen Gummigeschossen ergaben, wurden die Tests (zumindest offiziell) eingestellt.

Auch über ein eigenes Plastikgeschoss verfügt die Polizeiforschungsstelle inzwischen. Dieses vom Waffentechniker und Polizeiberater Siegfried Hübner entwickelte S.H.-313-Geschoss wird in Polizeikreisen wegen seiner angeblich humanen Eigenschaften gern als "fliegender Boxhandschuh" bezeichnet. Er ist zylinderförmig, hat ebenfalls das Kaliber 40 mm und ist 50 mm lang. Das Gewicht beträgt 60 g. Eine Kunststoffhülle umschliesst eine graue Plastikmasse, die mit weissen Körnern durchsetzt ist. Diese "Pufferkörner" sollen die Geschosse, die sich beim Aufprall verformen, weich abfedern.

Alle genannten Geschosse wurden gezielt für die Verwendung mit der von Heckler & Koch entwickelten MZPL konzipiert.

Insgesamt steht für diese Waffe mittlerweile ein beachtliches Arsenal verschiedener Munitionsarten zur Verfügung. Neben den bereits genannten sind dies insbesondere Leucht- und Signalgeschosse, Nebelmunition und Blitz- Knall- Patronen (5), die in ihrer Wirkung den von der GSG 9 bei der Erstürmung einer entführten Lufthansa- Maschine 1977 in Mogadischu erstmalig eingesetzten Blendschockgranaten ähnlich sind.

Zusätzlich zu diesen bereits existierenden Waffen, erteilte die Innenministerkonferenz im Juni 1984 dem Rüstungskonzern "Messerschmidt- Bölkow- Blohm" (MBB) einen ca. 2,3 Millionen schweren Forschungsauftrag zur Entwicklung eines "Wirkkörperwerfers" nebst passender Munition. (siehe Artikel "Schuss in den Ofen")

... für den Polizeialltag und für den grauen Alltag

Aber nicht nur für "Krawalle" sind Gummigeschosse erdacht und z.T. auch schon im Einsatz. Für den alltäglichen Polizeieinsatz wurden sie ebenso entwickelt, wie für ängstliche Bürger, die einen Waffenschein und eine handelsübliche Jagdwaffe besitzen.

Zwar ist das Angebot an Gummigeschossen inzwischen recht vielfältig, sucht man allerdings nach Testergebnissen, so ist man auf private Waffenjournale angewiesen, oder darauf, sich interne Studien auf Umwegen zu beschaffen - amtliche Veröffentlichungen gibt es nicht. Aus gutem Grund! Die behauptete Harmlosigkeit dieser Waffen liesse sich dann nicht mehr aufrecht erhalten.

Quellen:

  1. Ruhe oder Chaos, Hamburg 1982; They shoot Children, London 1982
  2. Deutsche Polizei, 5181
  3. Der Tagesspiegel, 5.7.86
  4. Interner Bericht der TKIAK II an die IMK (Herbst 1981)
  5. Bereitschaftspolizei - heute, 6/85
  6. Interner Vermerk der PFA (Frühjahr 1986)

MZP 1 im Einsatz

 

Premiere: Die MZP 1 im Einsatz gegen Brokdorf- Demonstranten (1986)