Karl Lamers                                               Peter Hintze                                          Klaus-Jürgen Hedrich

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Eine Perspektive für den Balkan - Überlegungen für eine Südost-Europäische Union

 

  

 

29. Juni 2001

Platz der Republik 1, 11011 Berlin

 

 Der politische Prozess zur Befriedung und Stabilisierung der Balkan-Region muss jetzt beschleunigt werden. Weiteres Zuwarten erschwert nur eine politische Lösung. Vorstellungen einer jahrzehntelangen internationalen militärischen Präsenz im Kosovo und auf dem Balkan sind unrealistisch. Die westlichen Demokratien sind nicht bereit, die finan­ziellen und politischen Kosten einer solch langen Präsenz zu tragen und die Bevölkerung in der Region ist nicht bereit, diese zu e r tragen.

 

Die merklich abgenommene Zustimmung des Deutschen Bundestages am 1. Juni d.J. zum Antrag der Bundesregierung auf eine Verlängerung des KFOR-Mandates für die Bundes­wehr um ein weiteres Jahr (82% gegenüber 89% im Jahr 2000) - die FDP-Fraktion stimmte bis auf eine Ausnahme geschlossen dagegen - ,die Drohung der CDU/CSU-Fraktion in ihrem Entschließungsantrag, ohne deutlich bessere Ausstattung der Bundeswehr im nächsten Jahr ihre Zustimmung zu verweigern, und der nach dem Sieg Präsident Bushs gewachsene Druck der USA, ihre Truppen aus dem Balkan zurückzuziehen, sind erste öffentliche Warnsignale.

 

Ohne erhebliche Fortschritte bei der Errichtung einer selbsttragenden politischen Ordnung auf dem Balkan in absehbarer Zeit und damit die Möglichkeit zu einer drastischen Redu­zierung der militärischen Präsenz bis auf einen kleinen - für den Notfall schnell auf­wuchsfähigen - Rest, droht das Balkan-Engagement des Westens zu einem Fehlschlag und zu einer schweren Belastung vor allem für die Europäische Union zu werden, die hier vor der größten Bewährungsprobe ihrer erst im Werden begriffenen Außenpolitik steht.

 

Der Stabilitätspakt Südosteuropa verliert zunehmend an Dynamik. Eine Desillusionierung der Menschen auf dem Balkan muss jedoch vor dem Hintergrund der Notwendigkeit, dass sie sich aktiv für den Frieden und den Aufbau ihrer Länder engagieren, unbedingt verhindert werden. Ihnen muss schnell eine Perspektive auf Befriedung und Stabilisierung sowie auf eine Verbesserung ihrer Lebenssituation geboten werden.

 

Deswegen ist die vorrangige Forderung der CDU/CSU-Fraktion, den politischen Prozess auf dem Balkan zu beschleunigen und ihm eine konkrete Perspektive zu geben, nur allzu berechtigt. Wir wollen hierzu einen Beitrag leisten, mit dem wir eine intensive Diskussion in Deutschland und in Europa anzustoßen hoffen.

 

 

 

 

1.         Die Lage im Kosovo und in der ganzen Region erfordern eine Beschleunigung des politischen Prozesses.

 

1.1.      Im Kosovo halten die Spannungen zwischen Albanern und Serben unverändert an; jeder zweite KFOR-Soldat ist zum Schutz der Minderheit der weniger als 100.000 dort verbliebenen Serben abgestellt. Diese lebt in ghettoartiger Isolierung, ohne aus­reichende Sicherheit vor albanischen Übergriffen. Eine Chance zum Überleben und eine Perspektive auf eine gute Zukunft, ohne oder mindestens mit einem drastisch reduzierten Schutz durch die KFOR, werden die Serben im Kosovo, wenn überhaupt, nur wieder haben können, wenn die Kosovo-Albaner absolut sicher sein können, dass eine wie auch immer geartete Rückkehr serbischer Staatsgewalt nicht zu befürchten ist. Diese Garantie sehen sie nur in der Unabhängigkeit des Kosovo; diese aber steht im Widerspruch zur UN-Sicherheitsratsresolution 1244 und zur Position des Westens. Dessen tatsächliche Politik eines eigenen Rechts- und Währungsraums für den Kosovo sowie des Ausschlusses jeglicher jugoslawischer Staatsgewalt - alles un­vermeidliche Maßnahmen - führt jedoch zu dessen faktischen Unabhängigkeit.

 

Die für den 17. November im Kosovo vorgesehene Parlamentswahl wird von den Kosovo-Albanern zu einem Plebiszit für die Unabhängigkeit gestaltet werden. Danach werden sie demokratisch legitimiert diese Forderung verstärkt erheben. Das Aus­weichen vor der Status-Frage wird somit immer schwieriger. Es wird auch riskanter, weil es die Entfremdung zwischen der KFOR und den Albanern und damit die Gefähr­dung der KFOR-Soldaten mitsamt den Rückwirkungen auf ihre Heimatländer zu be­schleunigen droht. Vom Befreier und Geburtshelfer der Unabhängigkeit des Kosovo droht die KFOR sich in den Augen der Albaner zum Besatzer und Verhinderer des nationalen Traums zu entwickeln.

 

Der Haupteinwand gegen die Unabhängigkeit des Kosovo wird in der Gefahr mög­licher Auswirkungen auf Mazedonien und Albanien d.h. der Entstehung eines "Groß-Albaniens“ mit gerade einmal ca. 5,3 Millionen Einwohner gesehen. Richtig ist, dass nach der Lösung der slowenischen und kroatischen Frage sowie in gewisser Weise auch der serbischen Frage die "albanische Frage" zur Schlüsselfrage für die weitere Entwicklung der Region geworden ist. Das zeigt auch der plötzlich mit Gewaltsamkeit ausgebrochene Konflikt in Mazedonien. Doch fordern weder die Albaner in Mazedonien, noch die in Albanien und noch jedenfalls bislang die im Kosovo, einen Zusammenschluss des Kosovo mit Teilen Mazedoniens oder beider mit Albanien. Die wirtschaftlichen und kulturellen mentalen Unterschiede sind jedoch erheblich. Aber ausschließen lässt sich eine solche Entwicklung natürlich nicht - so ehrlich ist auch Präsident Rugova, selbst in öffentlichen Statements. Sie wird aber durch weiteres Zu­warten nicht verhindert, sondern eher befördert, denn Nichtstun heißt, dem, was man nicht will, eine Chance zu geben. Es ist schwer vorstellbar, wie man den Kosovo-Albanern die Unabhängigkeit verweigern will, nachdem man sie Slowenen und Kroaten hat gewähren müssen. Wenn man sie gewährt, müsste sie allerdings in den Rahmen einer neu zu schaffenden, regionalen Strukturreform, welche die möglichen negativen Folgen auffängt und Stabilität in der gesamten Region befördert, eingebettet werden.

 

1.2.      Die Zeit drängt umso mehr, ein solches umfassendes Gesamtkonzept für die Region zu entwickeln, als die erwähnte Gefahr einer Entfremdung zwischen der KFOR und den Kosovo-Albanern durch die positive Politik des Westens gegenüber dem demo­kratisch gewandelten Serbien und die erfolgreiche Zusammenarbeit mit ihm gegen die aufständischen Albaner in der Ground-Safety-Zone im am Kosovo angrenzenden serbischen Gebiet gefördert wird. So erfreulich die Entwicklung in Serbien natürlich grundsätzlich ist, so erschwert sie doch zugleich eine Lösung des Kosovo-Problems, insofern diese gegen ein demo­kratisches Serbien nicht möglich erscheint; gegen ein Milosevic-Serbien wäre sie leichter denkbar gewesen.

 

Die Annahme der westlichen Staatengemeinschaft, dass ein Offenhalten des Status-Frage, dass Zeitablauf und eine demokratische Entwicklung Serbiens helfen würden, das Kosovo-Problem zu lösen, stimmt somit uneingeschränkt und generell nicht. Der Zeitdruck ist jedenfalls gewachsen - die Chancen einer einvernehmlichen Lösung aber auch, letzteres allerdings nur unter der Bedingung, dass eine Lösungs­perspektive angeboten wird, die sowohl für die Kosovo-Albaner wie für Serbien an­nehmbar ist, die für Mazedonien eine Lösung des Konfliktes zwischen seiner slawischen und albanischen Bevölkerung erleichtert und für die ganze Region verheißungsvoll erscheint. Das scheint wie eine Quadratur des Kreises, ist bei näherem Hinsehen aber sehr wohl möglich, wenn der Westen seine Denkschablonen ablegt und ein wenig Phantasie einbringt; denn bei weiten Teilen der neuen ser­bischen Führung ist die Einsicht verbreitet, dass Serbien durch Milosevics nationa­listischen Größenwahn den zehnjährigen Krieg verloren, der Kosovo sich für sie vom Traum zum Alptraum entwickelt hat und Serbien für seine absolut vorrangigen Pro­bleme auf die Hilfe des Westens angewiesen ist. Jede andere Lösung als die der Un­abhängigkeit des Kosovo wäre tatsächlich eine außerordentliche politische, wirt­schaftliche und mentale Belastung Serbiens. Das aber sehen natürlich noch bei wie­tem nicht alle Serben so. Hier schlummert ein gewaltiges Revanche-Potential, das durch den unzureichenden Schutz für die serbische Minderheit im Kosovo ständig genährt wird. Ihre Sicherheit würde sich nach Gewährung der Unabhängigkeit wahr­scheinlich verbessern, wenn daneben natürlich besondere Vorkehrungen getroffen würden. Das Revanche-Potential aber würde nicht zuletzt dadurch eingedämmt, dass Serbien ein angemessener Platz in der Region gesichert wird.

 

Dabei ist von einer Feststellung auszugehen: die militärische Niederlage Serbiens hat paradoxerweise fast dasselbe zum Ergebnis, welches das Kriegsziel der serbischen Führung war: alle Serben in einem Staat zu vereinen. Insofern ist die serbische Frage gelöst. Nur ist dieser Staat nicht Groß-Serbien, sondern Klein-Serbien. In ihm leben etwa 750.000 serbische Flüchtlinge vor allem aus der Krajina, aus Bosnien, 230.000 davon allein aus dem Kosovo. Ihr Anteil an der Bevölkerung beträgt 9-10% und die Wahrscheinlichkeit, dass sie wieder in ihre Heimat zurückkehren, ist bis auf eine sehr kleine Zahl äußerst gering, die Gefahr einer Destabilisierung Serbiens durch ein so gewaltige Zahl von Flüchtlingen dagegen groß. Dem kann nur durch eine Politik aktiver Integration entgegengewirkt werden. Dazu muss die Europäische Union Ser­bien ermutigen, statt auf die jedenfalls in absehbarer Zukunft unrealistische Rückkehr dieser Flüchtlinge zu setzen.

 

In Deutschland haben wir die Erfahrung gemacht, dass Vertriebene und Flüchtlinge sogar ein besonders dynamisches Element beim Wiederaufbau der Wirtschaft sein können, deren Zustand in Serbien ähnlich katastrophal ist, wie im Nachkriegs­deutschland. Auch sonst gibt es bei allen Unterschieden im Einzelnen und in der Dimension durchaus grundlegende Parallelen zwischen Nachkriegsdeutschland und Nachkriegsserbien. Der Verlust von Territorien (Kroatien, Bosnien...,noch nicht end­gültig im Falle des Kosovo) als Folge eines in nationalistischer Verblendung ver­brecherisch geführten Krieges und die daraus folgende Notwendigkeit, die eigene Schuld einzusehen als wichtigste Voraussetzung, eine gute Zukunft gestalten zu können. In dieser Hinsicht mehren sich ermutigende Anzeichen.

 

Die wichtigste Lehre aber, welche der Westen aus der deutschen und europäischen Geschichte nach 1945 für die Behandlung Serbiens ziehen kann, ist der ungeheure Erfolg der wirtschaftlichen Hilfe der USA für den Wiederaufbau Europas einschließlich Deutschlands und noch wichtiger, ja entscheidend, das Angebot der Westmächte, dem ehemaligen Feind einen gleichrangigen Platz in einer, die Vergangenheit über­windende, zukunftsträchtigen politischen Ordnung anzubieten: Der europäischen Integration. Das Erstere, wirtschaftliche Hilfe, leisten Europäische Union und USA im Falle Serbiens auch schon jetzt. Das Zweite, Serbien eine angemessene, konkrete politische Perspektive zu bieten, steht noch aus. Das aber ist entscheidend, wie die Erfahrung zeigt, denn der politische Rahmen entscheidet auch über die wirt­schaftliche Entwicklung. Die Zeit drängt. Die nächsten Wahlen in Serbien finden in weniger als drei Jahren statt.

 

1.3.     Auch die Lage in Mazedonien zwingt dazu, j e t z t und nicht in ferner Zukunft eine Vorstellung von der politischen Ordnung auf dem Balkan zu entwickeln, in deren Rahmen das mazedonische Problem lösbarer wird.

 

Für eine Bewertung der Vorgänge in der Region muss zunächst festgehalten werden, dass die Warnungen, die Status-Frage des Kosovo noch nicht aufzugreifen, weil sonst Unruhen in Mazedonien ausbrächen, sich als eine der vielen Fehlein­schätzungen der internationalen Gemeinschaft erwiesen haben. Die Unruhen sind ausgebrochen, ohne dass die Status-Frage berührt wurde und liegen letztlich darin begründet, dass die slawisch-mazedonische (Noch-) Mehrheit den Staat als den ihren betrachtet und in der albanischen Bevölkerung eine widerwillig geduldete und ge­fürchtete (Noch-) Minderheit sieht. Insofern überrascht der Konflikt nicht. Auch wenn die Mittel der Aufständischen, und ihre Unterstützung aus dem Kosovo zu verurteilen sind - die Albaner in Mazedonien bilden ein Viertel, wahrscheinlich schon heute ein Drittel der Bevölkerung und werden in zwei bis drei Jahrzehnten wahrscheinlich die Mehrheit bilden. In ihnen eine Minderheit mit minderen Rechten, statt einer staatstra­genden Mit-Nation zu sehen, ist abwegig und nicht haltbar. Dieser Staat hat nur eine Zukunft, wenn die Noch-Mehrheit zu einer entsprechenden Verfassungsänderung mit gleichen Rechten für die Albaner bereit ist. Ob die schwache slawisch-mazedonische Politiker-Klasse dazu bereit und in der Lage ist, erscheint zweifelhaft.

 

Für beide Seiten, slawische Makedonen wie makedonische Albaner, könnte es leichter sein, den gemeinsamen Staat zu akzeptieren, wenn er in eine regionale Ord­nung eingebunden ist, die ihnen so viel Gemeinsamkeiten wie irgendmöglich mit ihren jeweiligen Verwandten jenseits der Grenzen erlaubt. Der unerwartet, obwohl vorher­sehbar, ausgebrochene Konflikt in Mazedonien muss ein weiterer Anlass sein, jetzt eine konkrete Vorstellung von einer politischen Ordnung für die g a n z e Region zu entwickeln. Niemand ist bereit, sich nach Bosnien und dem Kosovo auch noch in Ma­zedonien militärisch zu engagieren. Aber um nicht eines Tages doch noch dazu gezwungen zu werden oder zuzusehen und die Folgen eines Bürgerkrieges zu tragen, ist es höchste Zeit, die lobenswerten und richtigen Anstrengungen von Europäischer Union und NATO für eine innermakedonische Lösung durch eine regionale Konzeption zu ergänzen.

 

1.4.      Auch Bosnien-Herzegowina hat als gemeinsamer Staat von muslimischen Bosniaken, Serben und Kroaten nur eine Zukunft, wenn es in einen regionalen Rah­men eingefügt wird, der es den Serben in der Republika Srpska und den Kroaten in der kroatisch-muslimischen Föderation erlaubt, die im Daytoner-Vertrag vorgesehen­en "besonderen parallelen Beziehungen" zu Serbien bzw. zu Kroatien mit Leben zu erfüllen. Diese Bestimmungen, ungewöhnlich wie die ganze Konstruktion des bosni­schen Staates, könnte solcherart ein Vorbild für die ganze Region bilden, relativiert sie doch die Bedeutung staatlicher Grenzen und erlaubt es, Gemeinsamkeiten mit der "Mutter-Nation" zu pflegen, ohne ihr anzugehören. Heute ist Bosnien ein Protektorat der OSZE, deren Vertreter über die Einführung selbst gemeinsamer Autokennzeichen entscheiden, weil diese als Symbol der abgelehnten Einheit angesehen werden. Da die politische Grundordnung von zwei der drei ethnischen Gruppen in Bosnien abge­lehnt wird, gibt es keine selbsttragende politische und deswegen auch keine selbst­tragende wirtschaftliche Entwicklung. Trotz 5 Milliarden Dollar Investitionen der Staatengemeinschaft in fünf Jahren (laut Weltbank-Bericht), leben die Bosnier im We­sentlichen von den 400 NGOs im Lande und der SFOR. Letztere ist und bleibt, wenn keine grundlegend neuen Rahmenbedingungen geschaffen werden für eine unab­sehbar lange Zeit die einzige Garantie für die Existenz des bosnischen Staates.

           

 

2.         Die Zielrichtung des politischen Prozesses bedarf der Klärung grundsätzlicher Positionen.

 

2.1.      Den betroffenen Bevölkerungen kann keine Lösung von außen auferlegt werden. Nicht möglich wäre eine Art Wiederholung der Berliner Konferenz oder der Londoner Botschaftskonferenz. Aber ganz offenkundig sind die Betroffenen ohne Hilfe von außen unfähig, eine zukunftsweisende Idee für ihre Region insgesamt zu entwickeln. Zu tief verwurzelt sind Unverständnis, Misstrauen, ja Hass und Feindschaft. Deswegen muss der Westen, vor allem die Europäische Union eine konkrete Pers­pektive entwickeln, die für alle Betroffenen eine gerechte Lösung ihrer Anliegen und für die Region eine gute Zukunft verspricht. Sie muss in einem vielseitigen, politi­schen Prozess vermitteln und sich dann an der Umsetzung der vereinbarten Lösung politisch und finanziell beteiligen. Ein Patentrezept gibt es für den Balkan ebenso wenig, wie für andere politische Konflikte, aber die Kernidee muss einfach und ein­leuchtend sein, auch wenn es komplizierter Einzelmaßnahmen und mancher Sonder­regelungen bedarf.

 

Ein solcher Ansatz bedarf der Einigkeit des Westen und vorab in der Europäischen Union. Da Deutschland seit Beginn des Konfliktes im früheren Jugoslawien eine akti­ve, von seinen Partnern zuweilen als treibend empfundene Rolle gespielt hat, sollte es jetzt eine ebenso aktive Rolle bei der Suche nach einer langfristig tragbaren Lösung des Konfliktes übernehmen.

 

2.2.      Die Fehler und Irrtümer der westlichen Balkanpolitik beruhen nicht nur auf Unkennt­nis, Unfähigkeit und Uneinigkeit, sondern auch auf einer grundlegend falschen Wahr­nehmung der Natur der dortigen Konflikte, die korrigiert werden muss, will man zu realistischen Konzepten gelangen.

 

2.2.1.   Nicht alle Menschen, die zur selben Zeit leben, leben auch i n derselben Zeit. Der Westen aber geht von der grundlegend irrigen Annahme aus, die Völker auf dem Bal­kan lebten in der postnationalen Zeit West-Europas. In Wirklichkeit leben sie in unter­schiedlichen Stadien nationaler Selbstfindung und ihre Prioritäten sind offenkundig andere als die unsrigen. Diese Ungleichzeitigkeit ist nicht selbstverschuldet, und die Erinnerung an die eigene Vergangenheit sollte uns vor Überheblichkeit warnen.

 

2.2.2.   Das Bestehende ist nicht identisch mit dem Stabilen. Eine jede politische Ordnung ist so stabil wie sie auf dem Einverständnis der Betroffenen beruht. Das war und ist für die heutige Ordnung auf dem Balkan nicht gegeben. Deswegen ist es trotz der wider­sprüchlichen Ziele der Betroffenen besser, nach einer neuen, auf mehr Einver­ständnis beruhenden, Ordnung zu suchen, als den aussichtslosen Versuch zu unternehmen, sich am Status Quo festzuklammern, ihn quasi zu diktieren.

 

Nicht neue Grenzen an sich sind das Problem, sondern, wenn sie aus Gewalt er­wachsen und wenn sie ab- und ausschließen; nicht kleine Staaten an sich haben keine Zukunft, sondern nur nicht integrierte. Neue Grenzen hat die internationale Gemeinschaft mit der Anerkennung Sloweniens, Kroatiens, Bosniens und Maze­doniens bereits anerkannt. Die Gewährleistung des Selbstbestimmungsrechtes aber vom  Status im früheren Jugoslawien abhängig zu machen ist willkürlich - rechtlich wie politisch.


2.2.3            Niemand kann zu seinem Glück gezwungen werden. Das multi-ethnische Zusammen­leben empfinden die Völker auf dem Balkan nicht als Glück, eher als Überforderung, wenn nicht als Zumutung. Man muss dies nicht gutheißen, aber klar ist auch, dass es das multiethnische Zusammenleben in der vom Westen geträumten Weise weder auf dem Balkan, noch im Westen je gegeben hat. Der Westen hat die größte "ethnische Säuberung" auf dem Balkan, die der Kosovo-Albaner, rückgängig machen können. Alle anderen Vertreibungen und Fluchtbewegungen, einschließlich der von 100.000 Serben aus dem Kosovo, hat man weder verhindern, noch wird man sie je rückgängig machen können, von der stillen, schleichenden Separierungen ganz zu schweigen.

 

So niederdrückend diese Bilanz ist, sie steht in Übereinstimmung mit den Er­fahrungen der zahllosen Vertreibungen des vergangenen Jahrhunderts und damit allerdings auch der Erfahrung, dass Trennung Grundvoraussetzung für Versöhnung ist. Die Realitäten auf dem Balkan zum Ausgangspunkt für politische Gestaltung zu nehmen, heißt nicht, nachträglich die Mittel zu legitimieren, mit denen sie geschaffen worden sind, sondern nur Konsequenzen aus der Einsicht zu ziehen, dass wir zu mehr nicht in der Lage sind. Und was man nicht kann, das muss man auch nicht.

 

2.2.4.            Sympathie und Antipathie für das ein oder andere Volk auf dem Balkan sind unan­gebracht und ein schlechter Ratgeber. Die Erfahrung zeigt hinlänglich, dass die Be­reitschaft zu Gewaltanwendung keine Frage ethnisch bedingter Veranlagung, sondern der Stärkeverhältnisse ist.

 

2.2.5.            Militärisch gestützte Protektorate von unabsehbar langer Dauer sind keine Lösung. Sie "erziehen" zur Unmündigkeit und ziehen die Ablehnung der Betroffenen auf sich. Jede politische Ordnung ist nur so weit zukunftsfähig, wie sie den Betroffenen die Chance gibt, eigenverantwortlich zu handeln und sie gleichzeitig zwingt, mit anderen zu kooperieren.

 

 

3.         Der Balkan erfordert eine übergreifende Kooperationsstruktur

 

3.1.      Auch wenn man die Fragmentierungen der bisherigen politischen Strukturen im frühe­ren Jugoslawien als Folge verspäteter Nationenbildung und insofern als historisch notwendig und in den Fällen Slowenien und Kroatien auch als gelungen ansieht, so sind die Gefahren und Nachteile doch nicht zu übersehen. Gefahren ergeben sich vor allem aus den nicht oder noch nicht gelungenen und den weiter zu befürchtenden Ergebnissen des Zerfalls-Prozesses, nicht nur auf dem Gebiet des früheren Jugos­lawiens, sondern auch in seiner Nachbarschaft. Obwohl inzwischen eine weitgehende Separierung der Ethnien stattgefunden hat und auch in Zukunft zu erwarten ist, so macht es doch auch ihre jetzige räumliche Verteilung nicht möglich, staatliche Gren­zen exakt entlang dieser ethnischen Grenzen zu ziehen. Es verbleiben Minderheiten, die es zu schützen gilt und die einen Herd neuer zwischenstaatlicher Konflikte bilden können, wenn sie sich als Teil einer benachbarten Mutter-Nation verstehen.

 

Aus Gründen der Stabilität wie der Überlebensfähigkeit der entstandenen und wahr­scheinlich weiter entstehenden neuen politischen Strukturen bedarf die Region des Balkan deswegen einer übergreifende Kooperationsstruktur.

 

 

4.         Wir schlagen die Bildung einer Südost-Europäischen Union für den Balkan vor

 

4.1.      Die Südost-Europäische Union (Südost-EU) soll

 

-  einen Ordnungsrahmen für die Teilnehmerstaaten bilden;

-  die wirtschaftlichen, politischen und psychologischen Nachteile der fragmentierten,

   kleinteiligen Struktur der Region aufheben, indem sie zuständig wird für alle Fragen

   der regionalen Kooperation und dadurch den Grenzen ihren trennenden Charakter

   nimmt und sie durchlässig macht;

-  bestehende staatliche Strukturen (zum Beispiel Mazedonien und Bosnien) zu er-

   halten helfen und ein Auffangnetz, bzw. einen Stabilitätsrahmen für die Fälle bieten,
   dass dies nicht gelingt und die Fragmentierung fortschreitet oder sich andere 

   Entwicklungen aus der jetzigen Struktur ergeben;

-  den Schutz der jeweiligen Minderheiten supranational verankern und ihnen helfen,

   ihre Rechte durchzusetzen.

 

4.2.      Die Südost-EU soll nach dem Modell der Europäischen Union im Prinzip wie die EU organisiert sein. Die EU kann einen ständigen Ko-Vorsitz der Südost-EU stellen, der im Falle einer Nichteinigung ihrer Mitglieder unter näher zu bestimmenden Voraussetzungen ein Alleinentscheidungsrecht hat. Die Südost-EU erhält einen eigenen Status innerhalb der EU.


4.3.      Die Südost-EU bildet zunächst eine Freihandelszone jedoch mit der Zielbestimmung eines Binnenmarktes. Sie ist zuständig für alle Fragen der wirtschaftlichen Koopera­tion und für solche der inneren Sicherheit, die von transnationaler Bedeutung sind (supranational organisiertes Verbrechen). Sie ist auch zuständig für Fragen der äußeren Sicherheit im Verhältnis zueinander, d.h. für sicherheitspolitische Vereinbarungen untereinander, Abrüstung und Rüstungskontrolle sowie vertrauens­bildende Maßnahmen.

 

4.4.      Die Minderheiten erhalten eine eigene Vertretung in der Südost-EU (Ausschuss). Sie erhalten ein kollektives und individuelles Klagerecht entweder bei einem bestehenden internationalen Gericht oder bei einem zu schaffenden Südost-EU-Gerichtshof. Aus­gehend von den einschlägigen Konventionen des Europarates werden ihre Rechte in

den Teilnehmerländern konkretisiert. Minderheiten werden von Mit-Staatsnationen abgegrenzt. Für die serbische Minderheit im Kosovo und die dortigen serbischen Kulturgüter bedarf es eines internationalen Schutzes.

 

4.5.            Teilnehmer in der Südost-EU sind die aus dem früheren Jugoslawien hervorgegangenen Staaten sowie Albanien, Rumänien und Bulgarien, Ungarn und Griechenland. Die beiden Letzt­genannten sind durch Nachbarschaft und Minderheiten involviert, sie können stabili­sierend und wie Ungarn durch seine Minderheiten-Politik beispielgebend wirken. Eine individuelle Mitgliedschaft der Teilnehmerländer in der EU ist möglich. Griechenland ist bereits Mitglied, Ungarn und Slowenien werden bald folgen. Für die anderen gilt, dass ihre vorherige Mitgliedschaft in der SOEU Bedingung für eine spätere Mitgliedschaft in der EU ist und diese beschleunigt.

 

 

5.         Den Stabilitätspakt zur Südost-EU weiterentwickeln

 

Es genügt nicht, den Völkern auf dem Balkan einzelne Projekte der Kooperation - wie im Stabilitätspakt - vorzuschlagen und sie zur Zusammenarbeit einzuladen, sondern man muss ihr Zusammenwirken organisieren und institutionalisieren. Es reicht nicht, ihnen eine ferne und vage europäische Perspektive zu geben, sondern man muss ihnen heutige und konkrete Optionen geben, die sie in die Lage versetzen, ihr Schicksal selbst in die Hand zu nehmen und ihre Zukunft selbst zu gestalten.

 

Deshalb gilt es nicht nur, die im Rahmen des Stabilitätspaktes Südosteuropa ange­kündigten Infrastruktur- und wirtschaftlichen Projekte schneller als bislang zu reali­sieren, sondern den Stabilitätspakt Südosteuropa insgesamt politischer auszurichten, ihn zu institutionalisieren und zur SOEU weiterzuentwickeln.

 

Die westliche Politik kann nicht länger warten und sich gegen Realitäten stellen, son­dern muss diese erkennen und anerkennen, um sie zu überwinden. Mehr als 10 Jahre nach dem Ausbruch des Konfliktes im früheren Jugoslawien ist das Fehlen eines Gesamtkonzeptes für einen politischen Prozess zur Befriedung und Stabili­sierung der gesamten Region nicht mehr entschuldbar. Eine zeitnähere politische Lö­sung des Konfliktes auf dem Balkan ist möglich und nötig, um die internationale mili­tärische und zivile Präsenz auf dem Balkan im Westen legitimieren und ihre Akzeptanz bei der Bevölkerung vor Ort erhalten zu können.