radio st. paula

Es lebe die Mehrheit?

Die aktuelle Situation im fsk verkompliziert sich zunehmend und ist für viele schon länger kaum noch nachvollziehbar, nicht nur für Außenstehende. Ausgelöst wurde der gegenwärtige Konflikt durch ein Interview in der Sendung "Afrika, Asien, Lateinamerika - IN KONTAKT" vom 11. April 2002, in dem antisemitische Äußerungen seitens des Interviewten gemacht wurden. Diese Auseinandersetzung ist nicht die erste ihrer Art in linken Gruppen und Projekten und auch nicht im fsk. Sie findet somit in einem historisch-politischen und sozialen Kontext vor dem Hintergrund projektspezifischer Probleme statt.

Für radiostpaula war fsk als Projekt immer ein Bündnis von verschiedenen Gruppen mit unterschiedlichen Positionen, mit denen es Kompromisse zu schließen galt, um gemeinsam auf einer Frequenz als legales freies Radio zu senden. Inhaltliche und politische Differenzen mit anderen Sendenden und anderen Radiogruppen sind da selbstverständlicher, vielleicht manchmal störender Teil des Radio-Alltags. Wie in jedem sog. linken Projekt. Inzwischen sehen wir die Basis für eine weitere Zusammenarbeit in den derzeitigen Strukturen aus verschiedenen Gründen nicht mehr gegeben.

Bisher sind alle Aktiven allein über die Delegierten der fünf Radiogruppen an den Beschlüssen in dem Entscheidungsgremium des Projekts, der AnbieterInnengemeinschaft (ABG), beteiligt. Diese Organisationsstruktur des fsk sehen wir als gescheitert an. Die gegenwärtige Selbstverwaltung ist nicht nur unfähig, Konflikte in einer konstruktiven Auseinandersetzung auszutragen. Aufgrund der mangelnden Vertretung aller fsk-Aktiven liefern die "Mehrheits"-Entscheidungen der ABG noch nicht einmal ein realistisches Abbild des fsk, wenn sie schon nicht als Konsens zu Stande kommen.

In den derzeitigen Konflikten ist auf der Ebene der fsk-Gremien keinerlei "Bewegung" oder auch nur Dialogbereitschaft auszumachen. So gibt es - von Seiten der Sendenden der In-Kontakt Gruppe - keine Auseinandersetzung mit der Kritik an den antisemitischen Äußerungen in der IN-KONTAKT Sendung. Vielmehr wird die Kritik abgeblockt und stattdessen u.a. auf den Rassismus im fsk verwiesen und die Verfahrensweise der sog. Sendeaussetzung kritisiert. Was zweifelsohne alles richtig ist, aber mitnichten eine angemessene Reaktion auf die Antisemitismus-Kritik darstellt. Noch einmal kurz zur Erinnerung: In dem Interview äußerte der Gast, dass er von Paul Spiegel als Vorsitzendem des Zentralrats der Juden in Deutschland eine Stellungnahme gegen die Politik der israelischen Regierung vermissen würde. Womit eine unsägliche Verbindung von jüdischen (Mit-)Menschen mit der israelischen Regierung hergestellt und ihnen eine angebliche Verantwortung für die israelische Repressionspolitik unterstellt wird. Außerdem zog er einen Vergleich zwischen dem Widerstand im Warschauer Ghetto und dem der Menschen in Djenin. Über diesen Vergleich findet eine Gleichsetzung des Holocaust mit der Repression gegen PalästinenserInnen statt, was eine Verharmlosung der nationalsozialistischen Vernichtungspolitik nach sich zieht.

Die andere Seite, die derzeitige Mehrheit in den Entscheidungsgremien, beruft sich auf eben diese angebliche Mehrheit, die vielfach auf sehr lancierte Art und Weise zustande kommt. Diese "Mehrheitsbeschlüsse" halten wir politisch und strukturell für fragwürdig und unbrauchbar, auch wenn sie formal den Satzungen des fsk entsprechen mögen. Vielmehr scheinen andere Entscheidungsstrukturen für ein sog. linkes Projekt adäquater als das Pochen auf gute alte demokratische Grundprinzipien, die jeden Kegelverein zieren mögen. So wird seit geraumer Zeit jeder Versuch, die derzeitigen Strukturen in Frage zu stellen, mit der Aufforderung beantwortet, die Autorität der ABG und alle ihre "Mehrheitsbeschlüsse" anzuerkennen. Dies wird als die Voraussetzung einer weiteren Mitarbeit im fsk und Grundlage jedes weiteren Gesprächs definiert, anstatt sich kritisch mit Teilen der fsk-Selbstorganisation auseinander zusetzen. Zumal diese Selbstorganisation den strukturellen Rassismus im fsk mitbedingt, der z. B. bei einem Blick auf die Anzahl der in der AnbieterInnengemeinschaft stimmberechtigten MigrantInnen unter den Delegierten offensichtlich wird. Es wird nicht eindeutig benannt, dass dieser desolate Zustand durch die weiße deutsche Mehrheit im fsk und ihren, bewussten oder unbewussten, Rassismus verursacht wird. Vielmehr wird die Ursache bei den MigrantInnen selbst gesucht, die sich ja beteiligen und in die Strukturen einfügen könnten, wenn sie denn nur wollten.

Selbst konkrete Rassismusvorwürfe, wie die im Papier "Rassismus im FSK" von Voz Latina und Radyo Göçmen vom 15. Juli 2002, werden in Antwortpapieren als Missverständnis abgetan.

Die Nicht-Beteiligung an der Selbstverwaltung wird ausschließlich mit dem Desinteresse der ausgegrenzten Aktiven erklärt, anstatt die Strukturen, die zur Ausgrenzung oder zum resignierten Desinteresse führen, zu kritisieren. Dieses Muster verhindert jede weitere selbstkritische Diskussion und verstärkt die gefestigten informellen Strukturen um ein weiteres. Die alte Realität, außerhalb schöner Konzeptpapiere, ist, dass eine große Anzahl der sendenden und redaktionell arbeitenden fsklerInnen nicht an den Entscheidungen beteiligt ist oder sein will. Etliche sind in keiner Radiogruppe, weil sie sich in keiner der Gruppen und ihren Positionen wiederfinden. Mindestens genauso viele sind aus ähnlichen Gründen nur formal Mitglied in einer der Radiogruppen, um die fsk-Kriterien zu erfüllen. Es fehlt an gegenseitigem Respekt im Umgang miteinander, insbesondere auf der ABG. Respekt ist für uns die unabdingbare Basis für gemeinsame politische Arbeit.

Trotz dieser offensichtlichen Mängel der Strukturen, die darüber hinaus auch nicht zufällig sondern gezielt diskriminierend wirken, besteht bei weiten Teilen der in der ABG vertretenen fsk-Aktiven kein Problembewusstsein dafür, dass das Modell sich in der Praxis als unzulänglich herausgestellt hat. Vielmehr wurde bewusst gerade jetzt in dem aktuellen Konflikt, der sehr schnell in der Sendeaussetzung der gesamten Sendung von In-Kontakt mündete, die Auseinandersetzung auf die formale Ebene verschoben, d. h. es wurde auf die Einhaltung desolater fsk-Strukturen und die Erfüllung von Formalia bestanden. Hier war es die Redaktion des Früh-fsk, auf dessen Sende-Schiene In-Kontakt lief, die - aus Ruinen auferstanden - die Entscheidungen der ABG nach außen und innen politisch legitimieren sollte. In dem ersten Papier "Transparenzversuche" wurde das Prozedere der Früh-fsk-Redaktion sogar als selbstverständlicher Teil von redaktioneller Arbeit und die In-Kontakt-Sendenden, insbesondere der Moderator, als "Sendezeit-Erschleicher" dargestellt.

Statt auf eine Lösung der Probleme hinzuarbeiten, wird in jeder Auseinandersetzung bewusst und konsequent eskaliert. Immer nur von Teilen, aber mit schlussendlicher Zustimmung der "Mehrheit", wird dabei mit Beleidigungen, Unterstellungen und politischer Diffamierung gearbeitet und zudem Fakten geschaffen wie z.B. die temporäre Sendeaussetzung, ohne die Betroffenen bzw. die Radiogruppen zuvor über einen derartigen Antrag zu informieren. Die Entwicklung dieses Konfliktes war schon hier absehbar und mit Sicherheit teilweise gewollt. Es kam zu einer Übertretung des Sendeverbots und in der Woche darauf zu der Konstellation: Sitzblockade, um die "rechtmäßige" Entscheidung der ABG durchzusetzen, trifft auf In-Kontakt und UnterstützerInnen, die ihre Sendung und Meinungsfreiheit durchzusetzen gedachten. Die Situation, die daraus entstand, hat mit den ursächlichen Konflikten nicht mehr viel zu tun, erlaubt aber viel emotionale Entrüstung.

Zu dem bereits erwähnten ist ein weiterer Konflikt hinzugekommen, der eher strukturell zu sehen ist, aber durchaus über eine projekt-politische Dimension verfügt. In einer ähnlich überstürzten Entscheidung wurde zu der bestehenden Musikredaktion eine zweite gegründet und dieser zudem eine ganz erhebliche Anzahl von Sendezeit zugesprochen, die der alten Redaktion entzogen wurde. Der Aufbau von Parallel-Strukturen passt sich unserer Meinung nach dem Ausbau der Informellen an.

Seit mindestens drei Jahren werden immer wieder dieselben Phänomene in nahezu denselben Konflikten reproduziert. Wir wollen nicht weiter daran mitarbeiten, diese Strukturen im fsk fortzuführen. In den bestehenden Verhältnissen sehen wir kein Fortkommen und keinen Raum für wirkliche Veränderungen. Auch die Zuschreibungen an uns als FrauenLesbenRadiogruppe im gemischten Projekt, die insbesondere in den Zeiten der akuten Krisen immer wieder wahre Blüten treiben, sind wir mehr als leid. In der bestehenden Situation wird radiostpaula jegliche Position abgesprochen, da wir uns nicht auf eine der vermeintlichen Seiten stellen.

Im August wird radiostpaula die geplanten Sendungen aussetzen und stattdessen diese Stellungnahme senden.

Wir wollen autonome Strukturen im fsk, wir fordern die Hälfte des Radios.

radio st. paula
30.7.2002

Kontakt für eure Reaktionen und Kritik: radio st. paula

[Korrektur am 4.8.2002: Im ursprünglichem Text vom 30.7 hatten wir "Paul Spiegel als Vorsitzender der jüdischen Gemeinde in Deutschland" geschrieben, ein Titel, der in dem Interview am 11.4.2002 benutzt wurde, aber nicht richtig ist. Korrekt wäre entweder "Vorsitzender des Zentralrats der Juden in Deutschland" oder "Vorsitzender der jüdischen Gemeinde Düsseldorf" gewesen, deshalb haben wir in unserer Stellungnahme die Formulierung zu "Vorsitzender des Zentralrats der Juden in Deutschland" geändert.]

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Zuletzt geändert: 28.7.2003