Tschetschenien: Bevölkerung zwischen allseitigem Terror und Überlebensstrategien.
Lokale, russlandspezifische und internationale Dimensionen von Krieg und sozialem Widerstand.

Die Kriege und Auseinandersetzungen in Tschetschenien werden auf dem Rücken der Bevölkerung ausgetragen. Die Perspektive der in Tschetschenien lebenden Menschen kommt allerdings in Berichterstattung und Debatten hierzulande kaum vor. Wir wollen mit unserer Veranstaltung die Realität der tschetschenischen Bevölkerung ins Zentrum der Aufmerksamkeit rücken - die Menschen als Objekt der Politik, vor allem aber als handelnde Subjekte mit ihren Spielräumen und Möglichkeiten.
Die tschetschenischen Gesellschaften haben in der Auseinandersetzung mit den wechselnden Zentralmächten teils an patriarchalen und traditionell- solidarischen hierarchischen Strukturen festgehalten, teils fand ein sozialer Aufbruch statt. Neben den Umbrüchen der Gesellschaft in Tschetschenien entwickelte sichschon zu Zeiten der Sowjetunion ein Migrationssystem, das sich seit Beginn der kriegerischen Auseinandersetzungen in den neunziger Jahren ausweitet: TschetschenInnen in vielen größeren russischen Städten, zahlreiche Anlaufpunkte von Familie und Community sind über zehntausende Kilometer hinweg entstanden. Heute leben die BewohnerInnen von Grosny in Kriegssruinen. Andere sind in Nachbarländer und -regionen ausgewichen, wo sie Unterschlupf in Flüchtlingslagern gefunden haben - doch die ersten LagerbewohnerInnen werden nun genötigt, nach Tschetschenien zurückzukehren. Die sogenannte innerrussische Fluchtmöglichkeit ist ebenfalls prekär: TschetschenInnen, die in Moskau oder Petersburg leben, sind in die Illegalität gezwungen und von Razzien bedroht. Manche haben sich nach Westeuropa durchschlagen können, um dort Asyl zu finden, doch die Gefahr der Abschiebung ist hoch.
Der Tschetschenienkrieg hat auch eine internationale Dimension: ist ein Vergleich mit Kosovo, Afghanistan oder Irak sinnvoll? Die Strategien der Kriege gegen die Bevölkerungen scheinen sich anzugleichen, und auch die Lager- und Flüchtlingspolitik, die ein Bestandteil all dieser Kriege geworden ist, hat in der kaukasischen Region längst einen internationalisierten Zuschnitt erfahren. Inguschetien, das Nachbargebiet mit den meisten tschetschenischen Flüchtlingslagern, ist zum Aufmarschgebiet zahlreicher internationaler Organisationen geworden. Die Flüchtlinge sollen aufgehalten, ihre Flucht- und Migrationswege militärisch-polizeilich blockiert werden. Unterscheidet sich die russisch-internationale Flüchtlingspolitik um Tschetschenien von den anderen aktuellen Kriegsszenarien?
Wie verändern sich durch diese äußeren Bedingungen die inneren Verhältnisse der tschetschenischen Gesellschaften - in Grosny, im benachbarten Inguschetien, in Petersburg oder im polnischen Transit? Was macht tschetschenische Gesellschaftsstrukturen jenseits von korrupten und/oder islamistischen Warlords und ihren Kampfverbänden aus? Wie sieht der Alltag der Menschen aus, die in ihrer legalen Kommunikations- und Bewegungsfreiheit drastisch eingeschränkt werden, wie organisieren sie ihre Verbindungen nach draußen, ihren kleinen Handel, ihren Austausch, ihr Einkommen? Wie und wo wollen die Menschen leben, welche Forderungen stellen sie? Wo finden sie Unterstützung und Solidarität?
Die Veranstaltung soll eine kritischen Blick auf den Tschetschenienkrieg bieten und zugleich, wenn möglich, Handlungsvorschläge entwickeln für eine politische Praxis gegen den Krieg in Tschetschenien und für die Unterstützung all jener, die unter fürchterlichen Bedingungen Perspektiven für das eigene Leben zu erkämpfen versuchen. Dabei soll auch die zwiespältige Haltung der deutschen und europäischen Politik gegenüber dem russischen Vorgehen in Tschetschenien sowie der verbreitete ethnisierende Befreiungsnationalismus von deutschen UnterstützerInnen tschetschenischer Unabhängigkeitsbestrebungen kritisch betrachtet werden.


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