Déja vu
Maxime Butkevitch und Gisela Neunhöffer

Die Anschläge in jenem September waren vorher unvorstellbar in ihrem Ausmaß und ihrer Brutalität. Es gab keine Bekennerschreiben oder Erklärungen dazu. Der Sinn, die Ziele und Einzelheiten des Geschehenen blieben infolgedessen unklar. In den Tagen danach ähnelte die öffentlichen Meinung einer Massenpsychose. Sicherheit zu gewährleisten wurde unerwartet die Aufgabe jedes und jeder einzelnen, falls nötig auch mit harten Maßnahmen auf Kosten von Grundrechten und - freiheiten. Als Ausgangspunkt der Angriffe, die von unbekannten Personen geplant worden waren, wurde ein gewisses Gebirgsland identifiziert, gegen das eine große Militäroperation eingeleitet wurde. Diese Militäroperation, verschämt als antiterroristische bezeichnet, wurde zu einem echten Krieg - dem Zweiten Tschetschenienkrieg, einem langwierigen, guerilla-ähnlichen Krieg, der bis heute andauert. Diejenigen, die für die Bombenanschläge auf Wohnblöcke in Russland im September 1999 verantwortlich sind, sind jedoch immer noch nicht gefunden worden. Niemand wurde vor Gericht gestellt.
Es gibt einige auffallende Parallelen zwischen den Ereignissen im Herbst 1999 in Russland und im Herbst 2001 in den USA, die einen gewissen Déja-Vu-Effekt hervorrufen.
In Russland wurden 1999 die Verantwortlichen für die Anschläge sofort benannt: die bewaffneten tschetschenischen Verbände, die in den Konflikt in der Russischen Teilrepublik Dagestan verwickelt waren, und die Führung der Tschetschenischen Republik im allgemeinen. Die Anschuldigung blieb unbewiesen, überzeugte aber dennoch mit Hilfe des Propaganda-Apparates die überwältigende Mehrheit der Bevölkerung. Noch vor vier Wochen konnten viele US-BürgerInnen die Haltung der RussInnen zum Zweiten Tschetschenienkrieg nicht verstehen. Heute, unter massivem Propagandadruck, beziehen viele von ihnen eine ähnliche Position.
Ähnlich ist es mit wachsenden rassistischen Tendenzen: In Russland verstärkte der Krieg die anti-tschetschenischen Stimmungen, nach den Ereignissen in New York trugen die Ausdrucksformen von Intoleranz und ihre extremen Formen - Anschläge auf Moscheen, arabische Personen und Mitglieder anderer ethnischer oder religiöser Gruppen östlicher Herkunft - den Charakter einer gewissen "Orientophobie".
Auch in anderen Bereichen des öffentlichen Lebens sind ähnliche Entwicklungen zu beobachten. Der Umschwung im Informations- und ideologischen Inhalt der Massenmedien ist besonders auffällig. Die Nachrichten von den brutalen Anschlägen und über die erwarteten US-Reaktionen füllen immer noch die ersten Seiten aller Zeitungen und sind die Hauptthemen in Fernseh- und Radiosendungen. Über den einigermaßen erbärmlichen Zustand der US- und Weltwirtschaft im Laufe diesen Jahres zum Beispiel wird nur noch vergleichsweise wenig berichtet, und wenn doch, so wird das Thema immer in Zusammenhang mit den verschärfenden Auswirkungen der Anschläge gebracht. Niemand redet mehr von der Kritik an US-Präsident Bush, seiner reaktionären Linie vor allem in der Außenpolitik, aber auch seinen zahlreichen Versprechern und Ausrutschern - der noch vor kurzem so belächelte und verhasste Bush ist anscheinend in die Rolle des Hauptfeuerwehrmanns und des Beschützers - nicht nur Amerikas, sondern der ganzen "westlichen Zivilisation" hineingewachsen. Das ist dem Effekt, den die Anschläge in Russland und der Beginn des Tschetschenienkrieges für Vladimir Putin, den bis dahin fast unbekannten damaligen Premierminister und zukünftigen Präsidenten Russlands, hatten, nicht unähnlich.
Keine Parallele haben allerdings die Anschuldigungen gegen den russischen Geheimdienst FSB, die Anschläge selbst inszeniert zu haben, um Putin aufs Schild zu heben. Es gibt keine ernsthaften Beschuldigungen, die CIA habe etwas mit den Anschlägen auf das WTC und das Pentagon zu tun. Aller Wahrscheinlichkeit nach ist der amerikanische Staat nicht in die Anschläge verwickelt - dennoch können sie für die herrschenden amerikanischen PolitikerInnen die selben nützlichen Auswirkungen haben wie die Anschläge in Wolgodonsk und Moskau für Putin.
Die Reaktionen weisen ebenfalls vielfache Parallelen auf: in einer erstaunlichen Geschwindigkeit ist die Konstruktion von "wir" und "sie" in den Köpfen verfestigt worden. Sie - das sind die Bösen, leicht identifiziert als wilde, "unzivilisierte" Bergbewohner, als dunkelhäutig und, natürlich, als Islamisten. Jeder/m ist klar, wer die Verdächtigen sind, und es spielt praktisch keine Rolle, dass immer noch keine Beweise über die Schuld von irgendjemand veröffentlicht wurden. Es geht dabei nicht nur um Bin Ladens "Al Quaida"-Gruppe, sondern um jede "Nation", die sie beherbergt, oder noch allgemeiner alle, die nicht auf "unserer" Seite sind im Kampf des Guten gegen das Böse.
Auch wenn von Zeit zu Zeit betont wird, dass "wir nicht gegen den Islam oder die arabischen Völker kämpfen", macht die erneuerte Kalte-Kriegs-Rhetorik sehr klar, wer "sie" sind. Wir - das sind alle, die vereint hinter dem amerikanischen Präsident kompromisslos diese Kräfte bekämpfen. In dieser Rhetorik, die zum Beispiel in der Ansprache von Bush und dem Videoband von Bin Laden nach den Angriffen auf Afghanistan von beiden Seiten benutzt wurde, gibt es keinen Platz für eine dritte Kraft oder auch nur eine dritte Meinung. Es war diese Art von Polarisierung, die einer der Hauptgründe für das fast vollständige Fehlen einer Friedensbewegung in Russland 1999-2001 war. Die Reaktionen sind entsprechend: ein großer Teil der Bevölkerung der so genannten "zivilisierten Welt" fordert Vergeltung und ist nur zu bereit, dafür einige der Regeln zu vergessen, die normalerweise als Beleg für die Überlegenheit dieser Zivilisation angeführt werden: Rechtsstaatlichkeit, der Vorrang von Vernunftentscheidungen über "archaische" Emotionen, das Prinzip des Individualismus, inbegriffen die individuelle Verantwortung für das eigene Handeln, sowie den schlichten Grundsatz, keinen Massenmord zu begehen. Im Russland des Zweiten Tschetschenienkrieges war und ist es einfach, Stimmen zu finden, die einen Genozid an allen Tschetschenen befürworten. Aber es bereitet auch keine große Mühe, nach dem 11. September in der "zivilisierten Welt" Menschen zu finden, die ein Schild mit dem einen Wort "Bomben" hochhalten. Natürlich wird die Vergeltung nicht Vergeltung genannt, die Zivilisiertheit des eigenen Vorgehens wird betont, und auch hier gibt es Parallen: wieder wird der Euphemismus "antiterroristische Maßnahme" benutzt; es wird davon gesprochen, es sei keine große Bodenoperation geplant, sondern die Aktivitäten der Streitkräfte würden sich auf Luftschläge gegen militärische Ziele und Kommunikationslinien der bewaffneten Kämpfer konzentrieren.
Während der Staat demonstrativ Handlungsfähigkeit zeigt, herrscht gleichzeitig bei vielen ein Gefühl von Depression und Unfähigkeit, selbst zu handeln, sowohl unter Leuten, die für die den Vergeltungsschlag eintreten als auch unter denen, die gegen Militär-Aktionen sind. Vor diesem Hintergrund ist es nicht schwierig, die Aufrüstung der Sicherheitsapparate und die Ausweitung ihrer Befugnisse zulasten grundlegender Menschen- und Bürgerrechte auf Schutz vor staatlicher Überwachung durchzusetzen. Polizei, Militär und Geheimdienst scheinen die einzige Antwort auf die Kräfte des Bösen und der Zerstörung. Und wiederum weist die Rhetorik eine fatale Ähnlichkeit mit der Rede vom starken Staat in Russland auf, wo gelegentlich das Pinochet-Regime als positives Beispiel zitiert wird. Ein starker Staat meint in diesem Kontext unausweichlich einen starken Repressionsapparat.
Die PolitikerInnen selbst nehmen die Parallelen sehr klar wahr. Präsident Putin wirbt schon lange um Zustimmung für seine Tschetschenienpolitik, indem er auf die Gefahren des internationalen Terrorismus im allgemeinen und der Bin Laden-Connection im besonderen hinweist. Russische Nachrichtenagenturen berichteten schon 1999: "Russland und die USA haben einen gemeinsamen Feind - den internationalen Terrorismus'. Dies betonte am 12. September der russische Premierminister Vladimir Putin nach seinem Gespräch mit US Präsident Bill Clinton. Auf Fragen nach der Beziehung Usama bin Ladens und seiner Anhänger zu den Ereignissen im Kaukasus sagte der russische Regierungschef: (...) Wir wissen, dass bin Ladens Leute vor Ort sind, und das sollte unseren amerikanischen Partnern nicht gleichgültig sein.'"
Während seines kürzlichen Besuchs in Deutschland erhielt Putin nun endlich das Versprechen von Bundeskanzler Schröder, das Problem Tschetschenien werde in Zukunft "differenzierter" betrachtet. Eine neue antiterroristische Internationale hat sich schnell formiert, und sie ist nur allzu bereit, einige "Unregelmäßigkeiten" zu tolerieren, solange sie von befreundeten Staaten begangen werden und nicht von unbotmäßigen bewaffneten Banden.
Sich klar zu machen, was in Tschetschenien passiert, ist wie den Mittelteil des Buches zu lessen, das die Vereinigten Staaten nun in Afghanistan zu schreiben beginnen, allerdings mit einigen Änderungen. Während Tschetschenien daran interessiert war und ist, von anderen, auch westlichen Regierungen anerkannt zu werden, haben sich die Taliban darum nie ernsthaft bemüht. Der Krieg und seine Begleiterscheinungen haben die Industrie und Infrastruktur Tschetscheniens zerstört und seinen BewohnerInnen nur Handel, halblegale und auch illegale Aktivitäten als Mittel zum Überleben gelassen. Afghanistan dagegen ist immer noch ein traditionelles Agrarland, das weder eine Industrie noch eine Infrastruktur von der Art Tschetscheniens hatte. Eine drei Jahre andauernde Dürre hat unter diesen Bedingungen schon für eine Mehrheit der AfghanInnen zu einem Leben am Existenzminimum geführt, und die Einstellung der humanitären Hilfen und Zerstörung der wenigen existierenden Kommunikations- und Versorgungswege kann den Tod für sehr viele Menschen bedeuten, ganz abgesehen von den direkten Opfern militärischer Angriffe.
Es ist leider unwahrscheinlich, dass humanitäre Überlegungen jenseits von Kosmetik den Erzählstrang jenes Buches beeinflussen werden. Washington hat seinen Wunsch geäußert, die Taliban durch ein anderes Regime in Kabul zu ersetzen. Moskau versucht schon wesentlich länger "Terroristen zu bestrafen", und immer noch haben die föderalen Truppen, auch nachdem ein örtliches loyales Regime eingesetzt wurde, keine Kontrolle über die Situation in der Tschetschenischen Republik. Die Macht ist je nach Tages- oder Nachtzeit zwischen ihnen und den tschetschenischen Brigaden aufgeteilt. Die Mehrheit der tschetschenischen Feldkommandanten sind am Leben und in Freiheit, im Gegensatz zu hunderten oder tausenden tschetschenischer ZivilistInnen. Mehr als 100 000 TschetschenInnen sind aus ihrem Land geflüchtet. Internationale BeobachterInnen sprechen von einer "humanitären Katastrophe", die TschetschenInnen von "Genozid". Die - ständig wachsende - Zahl der Getöteten auf beiden Seiten ist unbekannt - oder zumindest unveröffentlicht. Tschetschenien wird wahrscheinlich noch für viele Jahrzehnte eine Quelle von Spannungen sein, die in die Nachbarländer immer mehr Flüchtlinge aus den Reihen der Überlebenden und immer mehr ausgelaugte junge Menschen mit vom Krieg verkrüppelter Psyche exportieren wird.
Das alles wirkt wie eine Warnung - sogar mehr noch als die Vietnam-Erfahrung - an die US-Regierung mit ihrem "Krieg gegen den Terrorismus". Nicht nur weil Afghanistan auch mit modernsten Waffen wohl nicht so leicht zu besetzen ist. Nicht nur weil von Beginn an klar ist, dass die deAnschläge Verdächtigten nicht in einem einzelnen Land oder einer bestimmten Weltregion ansässig sind, sondern über die ganze Welt verteilt. Sondern auch weil im Drang nach Vergeltung es einmal mehr unmodern geworden ist, das Problem an seine Wurzeln zu verfolgen, zu ethnischen Vorurteilen, Rassismus und sozialer Ungleichheit.
Das Spielfeld der amerikanischen Regierung ist - anders als das der russischen - nicht "nur" ihr eigenes Territorium plus ein gewisser "Hinterhof", sondern der gesamte Globus. Entsprechend beschäftigen ihre Reaktionen auf die Ereignisse vom 11.9. die ganze Welt - wiederum im Unterschied zu dem größtenteils vergessenen Krieg in den Bergen des Kaukasus. Es bleibt zu hoffen, dass es einen weiteren entscheidenden Unterschied gibt: dass es dieses Mal genug Menschen geben wird die bereit sind zu handeln, die Logik der Eskalation und der Polarisierung zu durchbrechen.


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