kassiber 47 - Dezember 2001

Kleines Who's Who für Afghanistan

Wer wird Statthalter der Zivilisation?


Neben dem greisen Ex-König und einigen anderen einflußreichen Personen oder Clans gilt zur Zeit vor allem die Nordallianz als offizieller Favorit sowohl der USA als auch Rußlands und der EU (1) in Bezug auf die Frage, wer eigentlich die verbliebenen Trümmer in Afghanistan künftig verwalten solle. In ihrem Interesse natürlich und unter den Augen ihrer Militärs, auch wohl auch einiger UN-Truppen.

Zwar wurde durch das unerwünscht frühe Einrücken der Truppen der Nordallianz in Kabul zum ersten Mal deutlich, daß das Band zwischen den imperialistischen und den lokalen Kriegsherren doch recht lose geknüpft ist und die Gemeinsamkeiten in der Zielsetzung arg begrenzt sind. Schon tauchen in den westlichen Medien Berichte über einzelne Gruppen der Allianz auf, die sie als Statthalter der vermeintlich "zivilisatorischen" Herrschaft zu disqualifizieren scheinen. Bisher gilt die Nordallianz jedoch nach wie vor als Partner und genießt entsprechende militärische wie finanzielle Förderung. Da stört auch nicht, daß über die neuen "Friedenshüter" seit geraumer Zeit ausführliche Berichte zu systematischen Menschenrechtsverletzungen während des Bürgerkrieges in Afghanistan vorliegen. Das gilt vor allem für den Zeitraum von 1992 bis 1996, als nach dem Zusammenbruch der sowjetnahen Najibullah-Regierung und vor der Machtübernahme durch die Taliban die einzelnen in der Nordallianz zusammengeschlossenen Gruppen versuchten, das Land unter sich aufzuteilen. Immer wieder wurden neue Greueltaten dokumentiert: Massenexekutionen, Plünderungen und Brandschatzungen, Vergewaltigungen, bewaffnete Angriffe auf die Zivilbevölkerung, auf öffentliche Märkte usw. Allein bei der Einnahme von Kabul 1994 wurden mindestens 25.000 ZivilistInnen getötet. (2)

Die Allianz selbst ist ein bunt zusammengewürfelter Haufen. Jeder einzelnen Fraktion geht es darum, möglichst viel Macht auszuüben. Schon deshalb stürmten alle so schnell wie möglich auf Kabul: Da gibt es Posten zu besetzen. Alte und neue Rivalitäten unter den Warlords und Parteien ebenso wir unter den ausländischen Kriegsmächten werden jedoch dafür sorgen, daß - sicher unter weiterhin ständig wechselnden Bündnissen - die Kämpfe noch lange Zeit andauern. Dazu braucht es keine Taliban, die sich als Guerilla in die Berge zurückziehen. Etwas anderes war aber auch nicht zu erwarten von diesem Angriffskrieg, und es wurde auch nicht erwartet. Ein militärischer Angriff auf Afghanistan, um die Taliban zu entmachten, war übrigens bereits vor dem 11. September geplant, wenn auch noch nicht in der jetzigen Form. (3)

Die in der nächsten Zeit in den hiesigen Zeitungen auftauchenden "Guten" werden mit großer Sicherheit gerade unter den Gruppen zu finden sein, die den auswärtigen Mächten aktuell am besten dienen können, vor allem wohl mit der Sicherung der begehrten Öltransporte. Ihre Namen werden wechseln und im allgemeinen schlecht im Gedächtnis von Personen haften bleiben, die des Arabischen oder Persischen nicht mächtig sind. Im Folgenden bieten wir daher eine kurze Übersicht über die verschiedenen Fraktionen bzw. Personen, die der Nordallianz angehören oder sonst irgendwie versuchen werden, sich in dem gebeutelten Land noch ein paar fette Pfründe zu sichern. Um wenigstens in etwa den Überblick zu behalten. Zuschreibungen ethnischer Zugehörigkeiten übernehmen wir an dieser Stelle, obwohl wir sie für problematisch halten (sh. Artikel "Die gefährliche Ethnisierung eines Konflikts"). Da sowohl Name als auch Taten der Taliban in der letzten Zeit zur Genüge in den Medien erschienen sind, lassen wir sie hier mal weg. Als "die Guten" werden sie ja wohl auch nicht auftauchen, höchstens vielleicht einzelne Überläufer aus ihren Reihen.


Die Nationale Islamische Vereinte Front zur Rettung Afghanistans (Nordallianz)

Als die Taliban 1996 die afghanische Hauptstadt Kabul einnahmen, bildeten ihre Gegner eine Allianz mit dem Namen Nationale Islamische Vereinte Front zur Rettung Afghanistans, kürzer: Vereinte Front, mittlerweile bekannter unter dem Namen Nordallianz. Offizieller Führer der Nordallianz ist -> Burhanuddin Rabbani.

Die Nordallianz unterstützte bisher die von den Taliban abgesetzte Regierung, den Islamischen Staat von Afghanistan (ISA). Rabbani war 1991 zum Präsidenten der Republik gewählt worden, weigerte sich aber, nach Ablauf seiner einjährigen Amtszeit sein Amt aufzugeben. Er gilt der sog. internationalen Staatengemeinschaft noch immer als Präsident des ISA.

Obwohl Rabbani offizieller Führer sowohl der Nordallianz als auch seiner Partei Jamiat-e Islami-e Afghanistan ist und außerdem als Präsident des ISA gilt, lag die tatsächliche Macht - bis zu seiner Ermordung am 10. September - in den Händen seines engsten Mitarbeiters, Kommandant -> Ahmad Schah Massud, der auch den Posten des Verteidigungsministers des ISA innehatte.

Die in der Nordallianz vertretenen Gruppen waren in der Zeit nach der sowjetischen Invasion und vor Gründung der Allianz ebenso wie die Taliban vom pakistanischen Geheimdienst (und damit implizit von den USA) unterstützt und ausgerüstet worden. Seit Gründung der Allianz empfangen sie vor allem Waffenlieferungen aus Rußland und dem Iran. (4) Spätestens seit diesem Jahr werden sie auch von den USA militärisch unterstützt, wahrscheinlich aber schon seit längerer Zeit.

Die genaue Zusammensetzung der Nordallianz veränderte sich von Zeit zu Zeit. Die wichtigsten Fraktionen sind aber:


Jamiat-e Islami-e Afghanistan (Islamische Partei Afghanistan)

Hat mit der gleichnamigen pakistanischen Partei nichts zu tun!
* Führer: -> Burhanuddin Rabbani
* mächtigste Person (bis zu seiner Ermordung): -> Ahmad Schah Massud
* eine der ältesten islamischen (nationalistischen) Parteien Afghanistans
* gegründet in den 1970ern von Studenten der Universität Kabul, wo ihr Führer, Rabbani, Dozent an der Fakultät für islamisches Recht war

Hezb-e Wahdat-e Islami-e Afghanistan (Hizb-e Wahdat; Islamische Einheitspartei)

* Führer: Muhammad Karim Khalili
* Gründer: Abdul Ali Mazari
* 1988 unter iranischem Druck zustandegekommene Dachorganisation von acht schiitischen Parteien aus der zentralen Region Hazarajat; nach wie vor Basis v.a. unter den Hazara
* einflußreichste schiitische Partei in Afghanisten
* wurde während des "Bürgerkriegs im Bürgerkrieg" nach dem Sturz der Regierung Najibullah vor allem vom damaligen Verteidigungsminister -> Gulbuddin Hekmatjar bekämpft
* nach wie vor massive - auch militärische - Unterstützung durch den Iran, obwohl der iranischen Regierung die Kontrolle über die Partei entglitten ist. Außerdem beträchtliche Unterstützung durch lokale Hazara-Kaufleute.


Junbish-e Milli-e Islami-e Afghanistan (Nationale Islamische Bewegung von Afghanistan)

* Gründer und wichtigster Führer: -> Abdul Rashid Dostum
* Zusammenschluß v.a. von ehemaligen Milizen des Sowjetregimes (vorwiegend Usbeken), die Anfang 1992 gegen Präsident Najibullah gemeutert hatten. Außerdem ehemalige Anführer und Verwalter des alten Regimes aus verschiedenen ethischen Gruppen, dazu einige usbekische Guerillakomandeure.
* von 1992-1997 stärkste Kraft im Norden, aber durch interne Streitigkeiten aufgerieben
* 1998: Verlust des gesamten Gebietes; etliche Anführer sind seitdem zu den Taliban übergewechselt
* seit dem Fall von Mazar-i Sharif 1998 vorwiegend inaktiv, trotz der Rückkehr Dostums nach Nordafghanistan im April 2001


Harakat-e Islami-e Afghanistan (Islamische Bewegung von Afghanistan)

* Führer: Ayatollah Muhammad Asif Muhsini [HRW]
* prominentester Kommandant: General Anwari
* islamische Partei, die sich nie der Hezb-e Wahdat angeschlossen hat
* von 1993-95 alliiert mit dem -> Jamiat-e Islami
* Führung besteht mehrheitlich aus Schiiten, die nicht den Hazara zuzurechnen sind
* Unterstützung v.a. aus dem Iran


Ittihad-e Islami Bara-ye Azadi Afghanistan (Islamische Union für die Befreiung von Afghanistan)

* Führer: Abdul Rasul Sayyaf
* beträchtliche Unterstützung durch Saudi-Arabien während des Krieges gegen die sowjetische Besetzung
* in den Truppen kämpfen auch viele arabische Freiwillige


Wichtige Personen aus der Nordallianz sind:

Burhanuddin Rabbani:

* 1940 in der nordöstlichen Provinz Badachschan geborener, tadschikischer Sunnit
* bis 1973 Lektor für islamisches Recht in Kabul, wo er die Partei -> Jamiat-e Islami-e Afghanistan gemeinsam mit Studenten gründete, deren Führer er seitdem ist
* hatte bereits 1974 vom pakistanischen Peschawar aus den Kampf gegen das damalige Regime unter Muhammad Daud aufgenommen
* offizieller Führer der Nordallianz
* 1991 zum Präsidenten des ISA gewählt, hat das Amt trotz Taliban-Herrschaft offiziell nicht aufgegeben


Ahmad Schah Massud:

* aus dem Pandschir-Tal; Sunnit und Tadschike (wie Rabbani),
* Verteidigungsminister des ISA
* engster Mitarbeiter von Rabbani und mächtigste Person im ISA, in der Nordallianz und der -> Jamiat-e Islami-e Afghanistan
* Massuds traditioneller Einfluß lag in den Nordostprovinzen Parwan und Takhar, wo er Ende der 1980er eine regionale administrative Struktur etablierte, den Shura-ye Nazar-e Shamali (Kontrollrat des Nordens). Massuds Kräfte erhielten massive militärische Hilfen, v.a. aus dem Iran und aus Rußland.
* am 10. September von den Taliban ermordet


Abdul Raschid Dostum

* 1954 in der Provinz Dschusdschan geboren, Usbeke
* Karriere vom Security Guard bis zum Anführer der stärksten Miliz unter dem damaligen Präsidenten Najibullah ("Usbeken-Miliz")
* hatte bis 1997 ein eigenständiges Regime in den an Usbekistan angrenzenden Nordprovinzen um die Stadt Masar-i-Scharif
* nach Eroberung der Nordprovinzen durch die Taliban türkisches Exil, 1997 zurückgekehrt
* Warlord par excellence, der schon häufig die Fronten gewechselt hat
* Unterstützung v.a. durch die usbekische Regierung in Taschkent
* im April 2001 nach Nordafghanistan zurückgekehrt; seit Mitte September wieder der Nordallianz angeschlossen


Ahmad Wali Massud

* ein Bruder des am 10. September ermordeten Militärführers der Nordallianz
* Vertreter der Nordallianz in London


Wer könnte noch eine Rolle spielen?


Mohammed Zahir Khan Schah

* 1914 in Kabul geborener Nachkomme einer paschtunischen Königsfamilie
* seit 1933 König; die Macht wurde de facto aber bis in die 50er Jahre von seinen Onkeln ausgeübt
* später übernahm Mohammad Sahir die Rolle des aufgeklärten, dezent pro-kapitalistischen Monarchen: ernannte einen Bürgerlichen zum Ministerpräsidenten, erließ 1964 eine Verfassung, die "Elemente einer konstitutionellen Monarchie" (ntv) enthielt
* 1973 wurde Zahir von seinem Vetter und Schwager Mohammed Daud Khan gestürzt, der eine "links-neutralistische" Militärregierung errichtete. Mohammed Zahir befand sich gerade in Italien und lebt seitdem in Rom.


Gulbuddin Hekmatjar

* 1940 geborener Paschtune
* seit 1970 Mitglied der radikalen Muslim-Bruderschaft
* nach Sturz der Regierung Najibullah Verteidigungsminister in Afghanistan
* erhielt während des Krieges gegen die Sowjetunion den Löwenanteil der US-amerikanischen Waffen- und Finanzhilfe
* hat sich nach dem 11. September mit den Taliban verbündet und ist mit der Allianz verfeindet


Familie Modjaddedi

* einflußreiche Familie indischer Abstammung; königstreu, seit langem erzkonservativ
* führt eine Organisation von Islamgelehrten
* steht dem mystischen Sufi-Orden Nakschbandije nahe


Karina Gerke


Anmerkungen:
(1) Im Oktober 1998 vereinbarten die USA gemeinsam mit Rußland und sechs Anrainerstaaten eine - auch militärische - Unterstützung der Nordallianz (6+2-Gespräche). Eine ähnliche Rolle spielte ein Treffen von europäischen Regierungsmitgliedern mit Ahmad Schah Massud Anfang April diesen Jahres.
(2) Vgl. die Berichte von Human Rights Watch (www.hrw.org/)
(3) Laut einer Meldung des BBC vom 18.9.2001 wurde der Sender von einem ehemaligen pakistanischen Diplomaten darüber unterrichtet, daß er bereits Mitte Juli von Seite amerikanischer "senior officials" davon unterrichtet worden war, daß die USA eine Militärintervention in Afghanistan planen. Die Militäroperation sollte von Militärbasen in Tadschikistan aus erfolgen und unter Unterstützung von Usbekistan sowie Rußland erfolgen, das 17.000 Soldaten an der Grenze auf Abruf bereitgestellt hatte. (siehe http://news.bbc.co.uk/hi/english/world/south_asia/newsid_1550000/1550366.stm)
(4) Informationen von Human Rights Watch zu Waffenlieferungen aus Rußland und Iran finden sich unter: www.hrw.org/reports/2001/afghan2/


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kombo(p) - 10.02.2002