kassiber 46 - Juli 2001

Die Macht der Bilder

Nach-Denken über einen Vergewaltigungsprozeß


Das Urteil im sogenannten "Toros-Prozeß" ist gefällt. Die beiden Vergewaltiger aus dem Imbiß im Bremer Viertel wurden am 30. April 2001 freigesprochen. Dies ist der Versuch, eine rückblickende Analyse des Prozesses und seiner Inhalte vorzunehmen. Eines läßt sich grundsätzlich sagen: Dieser Vergewaltigungsprozeß ist anders verlaufen, als alle vorher dachten.

Das trifft meiner Meinung nach sowohl auf die ProzeßbeobachterInnen als auch auf alle Prozeßbeteiligten zu - bis hin zur Verteidigung. So begann der Verteidiger Joester sein Plädoyer mit den Worten: "Ich habe am Anfang mit sechs bis sieben Jahren für meinen Mandanten gerechnet." So plaziert hatte diese Aussage vor allen Dingen ein taktisches Moment. Denn auf diese Weise nahm Joester das Gericht mit auf den langen Weg seiner Läuterung: von dieser anfänglichen Fehleinschätzung über seine sich mehrenden Zweifel an der Glaubwürdigkeit der Zeugin bis hin zur eindeutigen Gewißheit über die Unschuld der Angeklagten. Das war nun wirklich überzeugend - denn welcher Verteidiger irrt sich schon derart zu Ungunsten seines Mandanten? Wenn er vor diesem Hintergrund schlußendlich für Freispruch plädiert, müssen die "Fakten" ja tatsächlich unwiderlegbar sein. Dennoch war Joesters Eingangssatz nicht nur ein geschickter Schachzug. Ich denke, er hat auch einen gewissen Wahrheitsgehalt: dieser Prozeß verlief anders, als die Verteidigung zunächst befürchten mußte.

Ein Grund für diesen überraschenden Verlauf des Prozesses liegt in der einerseits unausgewogenen, anderseits sich gegenseitig verstärkenden Kombination aus inkompetenten und desinteressierten Richtern und einer hochmotivierten, erfahrenen und skrupellosen Verteidigung. Wäre einer der beiden Faktoren weniger extrem gewesen, hätten wir einen anderen Prozeß erlebt.


Eine unbeantwortete Frage

Während der gesamten Verhandlungsdauer und nach der Urteilsverkündung tauchte in Gesprächen und Diskussionen immer wieder eine Frage auf: Ist der "Toros-Prozeß" ein "besonderer" Vergewaltigungsprozeß oder eher die Regel im (hetero)sexistischen Normalzustand? War er der "normale" Ausdruck eines allgemeinen gesellschaftlichen Rollbacks (also sich wieder verschärfender Gewaltverhältnisse) oder sogar ein extremer Ausdruck desselben?

Es geht mit dieser Frage also um den Versuch, den "Toros-Prozeß" als Ganzes und grundsätzlich politisch einzuschätzen und einzuordnen. Dieses Bedürfnis ist zwar absolut nachvollziehbar, aber nur schwer zu erfüllen. Zudem birgt eine generelle Antwort auf diese Frage vor allem die Gefahr der Ungenauigkeit und Unschärfe in sich. Eine andere Möglichkeit wäre es, den Prozeß als vielschichtige Erscheinung zu sehen, die aus unterschiedlichen Elementen zusammengesetzt ist, von denen jedes einzeln betrachtet werden kann. Darüber hinaus ist es fraglich, ob die Beantwortung der Frage nach der grundsätzlichen Einordenbarkeit überhaupt so wichtig ist. Dieser Artikel jedenfalls wird sie offen lassen.

Hier soll es vielmehr darum gehen, die Haltung, die im Laufe der Verhandlung seitens des Gerichts und der Verteidigung deutlich wurde, und die Bilder, die erzeugt wurden, aufzuzeigen und zu erläutern.


Der Symbolwert

Im Laufe des Prozesses wurden viele explizite und implizite Aussagen getroffen, die weit über ihn hinausgehen. Sie machen insbesondere den gesellschaftlichen Umgang mit Tätern und Opfern und die Haltung dieser Gesellschaft gegenüber sexualisierter Gewalt deutlich. Desweiteren waren die Verhandlungstage angefüllt von Zuschreibungen und Bildern, z.B. über Lesben, über Alkohol, über Erwerbslose etc.

Der Prozeß war von daher ein repräsentativer Ausdruck der gesellschaftlichen "Normalität". Außergewöhnlich wurde er aber durch die äußerst hohe Dichte an Bildern und deren Kombination. Daraus entstand für mich, was ich den hohen Symbolwert des "Toros-Prozesses" nenne. Ich werde hier einige dieser Bilder aufzeigen.

Eine Bemerkung vorweg: Ich verwende im Folgenden den Begriff "Opfer". Dies ist nicht als generelle Zuschreibung auf einen Menschen im Sinne einer 'Identität' zu verstehen. Vielmehr soll damit der Status deutlich gemacht werden, in dem sich eine Person befindet, wenn sie sexualisierter (oder auch anderer) Gewalt ausgesetzt ist.


1. Opfer werden zu TäterInnen gemacht - und Täter zu Opfern

Diese gängige, gezielte und sehr funktionale Verdrehung der Realität kennen wir auch aus anderen gesellschaftlichen Gewaltverhältnissen, wie z.B. im Falle rassistischer Gewalt. Es sei an dieser Stelle nur kurz auf den Lübecker Brandanschlag und den Prozeß gegen eines der Opfer, Safwan Eid, verwiesen.

Eine Variante dieser Täter-Opfer-Verdrehung ist das Bild: "Das Opfer ist selbst schuld". Diese Verdrehung setzt immerhin noch voraus, daß irgendeine Situation "nicht ganz korrekt" abgelaufen ist. Im "Toros-Prozeß" wurde die vergewaltigte Frau hingegen als aktive Täterin dargestellt. Dies war nahezu während des gesamten Prozeßverlaufs sichtbar, wurde jedoch besonders deutlich im Plädoyer des Verteidigers Joester. Dort mußte er erklären, warum eine Frau eine Vergewaltigungsanzeige stellen sollte, ohne vergewaltigt worden zu sein - also ein Motiv für ihre "Tat" erfinden. Das hörte sich dann (ungefähr) so an: "Die Zeugin ist lesbisch und trinkt an jenem Abend sehr viel Alkohol. Unter diesem Alkoholeinfluß tut sie Dinge, die sie sonst nie tut. Das passiert übrigens immer bei übermäßigem Alkoholgenuß. Wir kennen das ja auch aus anderen Prozessen, da werden sogar Menschen umgebracht deswegen. Im Fall dieser Zeugin heißt das: sie hat Sex mit Männern. Erst danach, im Zuge ihrer zunehmenden Ernüchterung, wird ihr bewußt, was sie da getan hat. Schuldgefühle kommen in ihr auf. Um diese Schuldgefühle abzuwehren und zu verarbeiten, geht sie zur Polizei und erstattet eine Anzeige wegen Vergewaltigung. Mit dieser Anzeige zerstört sie in der Folge die Existenz der betroffenen Männer: sie verlieren ihre (Liebes-)Beziehungen, ihre Arbeitsstelle, ihren guten Ruf. In dem aktuellen Fall hat sie zwei unschuldige Menschen sogar für sieben Monate hinter Gitter gebracht. Die Zeugin hat durch ihr verantwortungsloses Handeln mindestens drei Männer auf dem Gewissen."

Hier wird mehr als deutlich ein Bild gezeichnet, in dem das Opfer einer Vergewaltigung als bewußt handelnde Täterin an Männern erscheint. Ganz nebenbei wird hier zudem ein gesellschaftlich weit verbreitetes, aber falsches Bild der Droge Alkohol reproduziert: die Behauptung nämlich, Menschen würden unter Alkoholeinfluß Dinge tun, die sie sonst nie täten.


2. Je schwerer das Verbrechen, desto unglaubwürdiger das Opfer

Zunächst wieder ein Beispiel aus dem Gerichtssaal: Es ist der zweite Verhandlungstag, also noch ganz zu Beginn des Prozesses. Der Verteidiger Joester befragt die betroffene Frau nach einer Aussage, die sie bei der Polizei gemacht hatte. Dort hatte sie zu Protokoll gegeben, daß sie vor neun Jahren in Bremerhaven schon einmal vergewaltigt worden war. Mit der ersten Nachfrage Joesters (und es sollten noch viele, viele kommen, aber das wußten wir damals noch nicht) war sofort eine Stimmung der Unglaubwürdigkeit im Gerichtssaal: "Ach, Sie sind schon mal vergewaltigt worden? Sie haben also schon einmal einen Mann der Vergewaltigung beschuldigt?" Die Frau sah sich in einer Situation, in der sie sich erklären und gegen eine Atmosphäre des Unglaubens ankämpfen mußte. Der Sachverhalt, daß die betroffene Frau schon einmal in ihrem Leben vergewaltigt worden war und dies angezeigt hatte, wurde also von Anfang an zu ihren Ungunsten ausgelegt.

Dies läßt sich verallgemeinern: Wenn Frauen bereits mehrmals vergewaltigt wurden oder eventuell eine lebenslange Gewaltgeschichte bzw. biographische Gewalterfahrung haben, wird dies meistens gegen sie und ihre Glaubwürdigkeit verwendet. Diese Tatsache wird nicht als das gesehen, was sie ist: ein Puzzleteil in dem großen System sexualisierter und anderer Gewalt gegen Frauen und Mädchen.

Und je schwerer die Gewalttat selbst ist, die die Frau erlebt hat und (vor Gericht) gezwungen ist zu erzählen, desto größer ist die Gefahr, daß ihr nicht geglaubt wird. Dies betrifft zum Beispiel Gewalttaten, die von organisierten Tätergruppen und Täterstrukturen ausgeübt werden, Mehrfachvergewaltigungen oder die Anwendung "klassischer" Foltermethoden. Täter planen diese gesellschaftliche Realität übrigens teilweise bei ihren Gewalttaten mit ein, da sie um die Opferfeindlichkeit, die Täterparteilichkeit und den Unglauben gegenüber Opfern wissen. Zugespitzt bedeutet dies: Je schwerer das Verbrechen, desto sicherer die Täter.

Diese Struktur kennen wir vielleicht auch von uns selbst: Es ist leichter, nicht zuzuhören und/oder nicht zu glauben, als sich mit der unglaublichen Gewalt in dieser Gesellschaft zu konfrontieren und den Überlebenden uneingeschränkt Glauben zu schenken.


3. Alles aus dem Leben des Opfers kann gegen sie (oder ihn) verwendet werden

Dies betrifft zum Beispiel, wie oben gezeigt, Häufigkeit und Art bereits erlebter Gewalttaten.

Ein anderes, besonders deutliches Beispiel im "Toros-Prozeß" war die Entscheidung der Frau, den Kontakt zu ihrer Herkunftsfamilie abzubrechen. Es gab von seiten des Gerichts und der Verteidigung nicht nur keinen Blick darauf, daß Menschen immer sehr gute Gründe haben, wenn sie sich gegen den Kontakt zu ihrer Familie oder Teilen davon entscheiden. Die Verständnislosigkeit über eine solche Entscheidung ist übrigens immer Teil eines - bewußten oder unbewußten - Täterschutzes. Der Prozeß hat darüber hinaus jedoch deutlich gemacht, daß jede/r damit rechnen muß, daß die Entscheidung zum Kontaktabbruch mit der Familie ganz konkret gegen sie oder ihn verwendet wird.

Im Prozeß wurde dies an mehreren Stellen deutlich, von denen ich nur einige nennen will. Bei ihrer ersten Stellungnahme diesbezüglich sah sich die Frau sich sofort verständnislosen, grinsenden und interpretierenden Nachfragen ausgesetzt. In der Folge wollten die Verteidiger und das Gericht die Frau dazu zwingen, die Namen und Adressen ihrer Familienangehörigen bekanntzugeben, um diese vorladen zu können. Als sie sich weigerte, wurde ihr Beugehaft angedroht. Diese Drohung stand wochenlang im Raum. Zudem versuchten Gericht und Verteidigung auch ihre Freundinnen im Zeuginnenstand über ihre Familie auszufragen ("Aber sie werden doch wohl mit Frau X. über ihre Familie geredet haben!") Schließlich führte der Verteidiger Jenkel den Kontaktabbruch der betroffenen Frau zu ihrer Familie in seinem Plädoyer als Begründung für ihre Unglaubwürdigkeit an: "Also, da hab ich ja gar kein Verständnis für, das kommt mir komisch vor ..." "Man wird doch wohl mal auf die Goldene Hochzeit gehen können!" und: "Das kam mir ja sehr seltsam vor, daß sie so auf der Nichtherausgabe der Namen beharrt hat."


4. "Unnormales" Verhalten gilt per se als unglaubwürdig

"Normales" Verhalten ist, was Verteidiger und Richter für sich als "normal" ansehen. Können sich die richtenden oder verteidigenden Männer - oder deren Gattinnen - eine Handlungsweise für sich nicht vorstellen oder erklären, ist sie auch für den Rest der Menschheit nicht vorstellbar oder erklärbar.

Die subjektive Befindlichkeit der Männer im Gerichtssaal und deren Wertvorstellungen wird permanent verobjektiviert, als generell gültiger Maßstab gesetzt und in der Konsequenz gegen das Opfer gerichtet. Die Begrenztheit der eigenen Erfahrungs- und Vorstellungswelt wird nicht nur nicht wahrgenommen, sondern mündet direkt in die Unterstellung der Unglaubwürdigkeit der betroffenen Frau.

Der Kontaktabbruch zur Familie ist dafür ein bereits ausgeführtes Beispiel. Aber dem "Toros-Prozeß" mangelte es nicht an weiteren. So wurde deutlich, daß Richter und Verteidiger ein genaues Bild davon besitzen, wie Menschen mit Gewalterfahrungen mit diesen umzugehen haben, um glaubwürdig zu erscheinen. Wie sie zum Beispiel darüber sprechen oder nicht sprechen. In seinem Plädoyer hörte sich das von Verteidiger Jenkel dann folgendermaßen an: "Ich kenne das so, daß es Frauen schwer fällt, über so eine schreckliche Geschichte zu sprechen. Da kommt es mir doch komisch vor, daß die Zeugin so schnell über die Dinge, die sie erlebt haben will, mit ihrer Freundin sprechen konnte."

Hier wird die völlig subjektive und zudem hochwidersprüchliche Definition offensichtlich: frau muß mit ihren Freundinnen über alles sprechen (z.B. über die Familie, siehe oben) und auch über die Gewalttat, denn gar nicht reden macht suspekt. Tut sie es dann, darf es nicht zu früh sein - aber auch nicht zu spät. Die Erzählung darf nicht zu lückenhaft sein - aber auch nicht zu ausführlich, denn auch das ist verdächtig. Klar ist: diese Definition ist nicht zu treffen.

"Unnormales" Verhalten ist es nach Ansicht der entscheidenden Männer im Gerichtssaal auch, spät nachts alleine von einer Party zu einer anderen gehen, wie es die Zeugin in der Tatnacht getan hat. Und dies noch dazu ohne "jemanden" kennengelernt zu haben - denn wozu sind solche schwul-lesbischen Partys schließlich da?

"Unnormal" ist schließlich auch alles, was nicht der Vorstellung eines geradlinig-bürgerlichen Lebenslaufs mit entsprechender Berufsfixierung entspricht. So war z.B. der zeitweise Aufenthalt in einer Einrichtung für Betreutes Wohnen immer wieder Anlaß für skeptische Nachfragen und für Unterstellungen ("Da muß doch ein Problem vorgelegen haben!"), ein Internatsaufenthalt wurde mal eben zum "Heim" umdefiniert, und längere Erwerbslosigkeit ist sowieso verdächtig. Ohne Unterlaß wurde nach Brüchen und Lücken in der Biographie der betroffenen Frau gesucht und, wenn auffindbar oder interpretierbar, gegen sie verwendet.


5. Traumatisches Erinnern und posttraumatisches Handeln werden den Gesetzen einer (sowieso konstruierten) "Logik" unterworfen

Erinnerungen an Traumata und Reaktionen in Folge von traumatischen Erlebnissen sind jedoch nicht "logisch"! Darüber gibt es seit ein, zwei Jahrzehnten einiges an gesicherten Erkenntnissen und anerkannter Literatur, die teilweise durchaus des Feminismus unverdächtig ist. Doch Verständnis und die Bereitschaft zur Empathie gibt es offenbar nur für die Opfer von Zugunglücken, Lawinenabgängen oder erlebnispädagogischen Höhlenbegehungen. Wenn Traumata Resultate solch "höherer Gewalt" oder einfach nur Resultate von Dummheit sind, werden sie breit thematisiert und ihre Folgen aufgefangen. Das Wort Trauma wird dann nachgerade inflationär gebraucht, und alle verstehen, wovon sie reden.

Sind die traumatisierenden Ereignisse aber psychische, körperliche und/oder sexualisierte Gewalttaten von bewußt und gezielt handelnden Tätern, werden sie gesellschaftlich tabuisiert. In der Folge wird das "Nicht-Logische" im posttraumatischen Erinnern und Handeln gegen die Opfer verwendet. Auch hier gilt: Je routinierter und organisierter die Täter sind und je planvoller sie vorgehen, desto mehr beziehen sie dieses Wissen um den gesellschaftlichen Umgang mit Traumata bewußt in ihre Taten mit ein. Je schwerer traumatisierend eine Tat für das Opfer ist, desto weniger "logisch" kann sie oder er darüber berichten.

Im Prozeß gab es von Seiten des Gerichts und der Verteidigung an keiner Stelle einen kompetenten oder auch nur menschlichen Umgang mit den traumatischen Erfahrungen der betroffenen Frau. Stattdessen wurden ihr auf der Ebene des Erinnerns Widersprüche oder Lügen unterstellt und Lücken in der posttraumatischen Erinnerung gegen sie ausgelegt.

Auf der Ebene des posttraumatischen Handelns gab es ebensowenig Kompetenz und Empathie. So hatten weder Richter noch Verteidiger eine Vorstellung davon, daß es ein durchaus verständlicher Reflex in Folge eines Traumas ist, eine Person, die frau mag, vor der erlebten Gewalttat "schützen" zu wollen. Wie, wann und warum sie das tut, ist alleine die Sache der betroffenen Frau. Aus vielen Berichten von Überlebenden unterschiedlichster traumatischer Ereignisse ist zudem bekannt, daß sie Scham über die ihnen angetanen Gewalttaten empfinden oder Schuldgefühle, überhaupt überlebt zu haben. Posttraumatisches Handeln muß immer vor diesem Hintergrund gesehen werden.

Noch ein Beispiel aus dem Verfahren: Ein von der Verteidigung mehrfach angeführter Punkt war, daß die Frau zunächst davon berichtete, der Täter habe sie angesprochen, ihr Befehle gegeben. Später sagte sie aus, daß sie nichts gehört habe. Diese "tonlose Erinnerung" in der Folge traumatisierender Erlebnisse ist durchaus typisch. Häufig verschwindet der Ton in der Erinnerung irgendwann und kommt dann auch meist nicht wieder. Für die Verteidigung war dies hingegen ein weiteres Mosaiksteinchen im Bild der Unglaubwürdigkeit des Opfers.

Aber Vorsicht: eine zu genaue, zu detailgetreue Erinnerung an eine Gewalttat ist ebenfalls suspekt und wird gegen die Opfer gewendet.


6. Opfer sind arme, bedauernswerte Geschöpfe - und sie sind nur das

Dieses Bild des "klassischen" Opfers wurde vor allen Dingen von den Richterstühlen herab sehr stark projiziert. Insbesondere der Vorsitzende Richter Oetken versuchte immer wieder, mit der betroffenen Frau das "Vater-Tochter-Spiel" zu inszenieren. Als er im Laufe der Verhandlung merkte, daß er mit seinem Vorhaben wenig Erfolg hatte, schlug seine paternalistische Haltung mehr und mehr in Ungeduld und unterdrückte Aggression der Zeugin gegenüber um. Wenn Frauen mit Gewalterfahrungen sich nicht in das gesellschaftlich zugeschriebene Bild über Opfer einfügen, sondern zeigen, daß sie Menschen mit Selbstbewußtsein, Kraft und Widerstandsgeist sind, richtet sich die Stimmung oft gegen sie.


7. Das Bild von der "Liebe" und sogenannten Liebesbeziehungen

Im Laufe der Verhandlung wurde das gesellschaftlich gängige Bild, das die Richter und Verteidiger von Liebe und Liebesbeziehungen haben, an vielen Stellen deutlich. So begriff vor allem der Vorsitzende Richter überhaupt nicht, daß ein Liebespaar nicht automatisch dieselbe "ladungsfähige Adresse" hat. Etliche Male mußten die betroffene Frau und eine weitere Zeugin die Nachfrage nach einer gemeinsamen Wohnung über sich ergehen lassen. Unverständnis und Unglauben standen greifbar im Raum.

Das prägnanteste Beispiel waren jedoch die Briefe, die einer der Täter aus dem Knast an seine (Ex-)Geliebte geschrieben hatte. Die Frau war mit den Briefen zur Staatsanwaltschaft gegangen, da sie sie in Kenntnis ihres (Ex-)Lebenspartners als Drohbriefe gelesen hatte. In den Briefen standen Sätze wie "Ich liebe dich bis zum Tod" (wessen?, die Verf.) und "Ich würde für dich töten" (wen?) und "Du wirst bestraft werden, wenn du mich verläßt" (von wem?). Gericht und Verteidigung sahen diese Formulierungen jedoch als Beweis "glühender Liebe" und machten sich über die Bedrohungsgefühle der Adressatin lustig.

Deutlich wurde an dieser Stelle der gewalttätige Liebesbegriff der betreffenden Männer: "Liebe" ist die Inbesitznahme eines Menschen. Und sie steht in naher Verbindung mit dem Tod, da Töten offensichtlich der größte Beweis von "Liebe" ist.


8. Wir wissen nichts über Lesben, aber ...

Von Beginn des Prozesses an wurde immer wieder thematisiert, daß die betroffene Frau lesbisch lebt - eine Tatsache, die für den zu verhandelnden Sachverhalt komplett unwichtig war und ist.

Über all die Monate hinweg sammelten sich im Gerichtssaal insbesondere von Seiten des Gerichts und der Verteidigung Aussagen und Bilder über "die" Lesben an, die sich zusammengefaßt folgendermaßen lesen lassen:

Wir wissen nichts über Lesben, wir kennen auch keine, weil das ist ja so eine Randgruppe, die nur unter "ihresgleichen" und in irgendwelchen geschlossenen Zirkeln lebt. Wir wissen nichts über Lesben, aber wir wissen, was Lesben nicht tun: Lesben haben keinen Sex mit Männern. Und wenn doch, ist das ein Zeichen für ihre "Anormalität" in der sowieso schon bestehenden "Anormalität", weil sie ja Lesben sind (in Verbindung mit Alkohol übrigens besonders schlimm). Wir wissen nichts über Lesben, aber wir wissen, daß alle Lesben gleich sind: Sie schauen irgendwie alle gleich aus, haben kurze Haare, tragen unweibliche Kleidung und sind sofort erkennbar - so wie die Zeugin eben. Wir wissen nichts über Lesben, aber wir wissen, daß die immer auf so schwul-lesbische Partys beziehungsweise Lesbenpartys gehen. Das brauchen die auch irgendwie, um unter "ihresgleichen" zu sein. Dort suchen sie dann nach Partnerinnen (die finden sie nämlich woanders gar nicht), und wenn sie dann keine kennenlernen, wie die betroffene Frau in der fraglichen Nacht, und alleine am frühen Morgen durch die Stadt gehen, ist das sehr suspekt. Wir wissen nichts über Lesben, aber irgendwie sehen die anders aus: zum Beispiel haben sie Bartwuchs - und den haben übrigens auch nur Lesben. Und das ist ja auch wirklich eine ganz schön peinliche Angelegenheit. Wir wissen nichts über Lesben, aber wir wissen, daß "ihre Veranlagung ihre Gründe in der Familie hat" (Zitat des Beisitzenden Richters Harms). Lesbisch-Sein hat außerdem irgendwas mit Hormonen zu tun, das wissen wir wegen den Aussagen des Alkohol-Gutachters J. von Karger bezüglich der AGS-Diagnose. Da wissen wir zwar auch nichts Genaues drüber, weil er nichts darüber wußte, aber es hat irgendwas mit Lesbisch-Sein zu tun. Und irgendwas mit Zwischen-den-beiden-Geschlechtern-stehen, also Weder-Mann-noch-Frau-sein - was sollte sonst der Ausdruck "Intersexualität"? Und mit dieser Gruppe aus den USA hat die Zeugin ja auch irgendwie Kontakt aufgenommen - wegen ihrer Hormonstörungen und ihrem seltsamen Aussehen. Hätten wir sie gleich von Anfang an mehr in "Augenschein genommen" und "sie uns mal genauer angeguckt" (Zitat Gutachter von Karger), dann hätten wir auch gleich sehen können, daß da was nicht stimmt.

Konstruiert wird hier das Bild von "den" Lesben als dem Fremden, dem Ungekannten, dem Nicht-Einordenbaren, dem Suspekten. Dem, was per se hart an der Grenze des Perversen steht. Die oben angeführten Vorstellungen und Bilder sind im Laufe der Verhandlung mal subtil, mal sehr offen geäußert worden - aber immer mit negativen Auswirkungen auf die betroffene Frau als ganze Person und auf ihre Glaubwürdigkeit im besonderen.

Das Gefüge aus erfundenem "Wissen" und Nicht-Wissen ist gefährlich und gleichzeitig hochfunktional. Es ermöglicht, daß erstens "Lesben" als Gruppe konstruiert werden können, in der für jede das gleiche gilt, und daß dann zweitens "die" Lesben als das andere, das ganz weit weg ist und gar nichts mit mir zu tun hat, als das Fremde, das Abweichende stigmatisiert werden können. Und drittens kann schließlich jede einzelne aus der Gruppe "der Lesben" mit Definitionen und Zuschreibungen belegt werden. Vor diesem Hintergrund können Bilder und generalisierende Aussagen verbreitet und je nach Interesse abwertend eingesetzt werden.


9. Der DNA-Doppel-Trick

Die zunehmende Durchsetzung von DNA-Analysen, Speichelproben, Haaranalysen etc. hat nichts mit besseren Fahndungsmöglichkeiten nach Sexualstraftätern zu tun - und schon gar nichts mit dem Schutz von Kindern. Diese Behauptungen sind nur ein Trick, um eine größtmögliche gesellschaftliche Akzeptanz für diese gentechnischen Verfolgungsmethoden zu erreichen. Es geht vielmehr um die Kontrolle derjenigen, die den gesellschaftlichen Normvorstellungen und Normierungsvorhaben nicht entsprechen. Schon jetzt wird nur noch ein kleiner Teil der DNA-Analysen im Rahmen von Ermittlungsverfahren wegen Sexualstraftaten durchgeführt. Dagegen wird der gentechnische Fingerabdruck zunehmend als politische Verfolgungsmethode eingesetzt, wie zum Beispiel gegen AsylbewerberInnen oder, wie jüngst, bei (ehemaligen) politischen Gefangenen.

Im "Toros-Prozeß" wurde zudem der zweite DNA-Trick offensichtlich: DNA-Analysen von Samen- oder anderen Körperspuren des Täters nützen auch bei Prozessen, in denen eine Sexualstraftat verhandelt wird, gar nichts. Sie haben selbst immanent keine Beweiskraft, denn immer kann vom Täter oder dessen Verteidiger das Einverständnis des Opfers zur Tat herbeigelogen werden (dies gilt zumindest bei erwachsenen Opfern).

Der Trick mit der DNA-Analyse als Mittel zum Schutz "unserer Frauen und Kinder" klappt aber deswegen so gut, weil a) das Thema sexualisierte Gewalt als "Kinderschänder"-Problematik in den Medien verhandelt wird, weil b) das Thema emotional hoch aufgeladen ist und c) diese Form der gesellschaftlichen Thematisierung von sexualisierter Gewalt den absoluten Großteil der Täter in der Gesamtbevölkerung entlastet und schützt. Denn die Täter kommen in allererster Linie aus dem Nahumfeld der Opfer - und nicht aus einem vorbeifahrenden Auto oder aus dem finsteren Wald. Durch die Lüge vom einzelnen, durchgeknallten "Triebtäter" wird der Blick abgelenkt von dem, was Gewalt in dieser Gesellschaft wirklich ist: strukturell, gezielt, absolut grundsätzlich und unabdingbar dafür, daß hier alles so funktioniert, wie es dies tut.


Xenia Toledo, Prozeßbeobachterin


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kombo(p) - 24.10.2001