kassiber 46 - Juli 2001

Gedanken zur radikal und warum es sie weiter geben muß.

Ja, tanzen!



Das letzte Lied ist lang verklungen ... Die radikal als Teil und Ausdruck einer Bewegung entstand in einer Zeit der vermeintlichen Stärke. Wie kann sich solch ein Projekt verorten, wenn es nicht so viel Bewegung gibt, wenn "eigene Schwäche" schon fast wie eine Übertreibung klingt und auch die meisten der früheren Positionen nicht so richtig aktuell erscheinen?!

Was tun? Alles einstampfen, die Klappe zumachen und sich in die scheinbare Idylle der bürgerlichen Freiheiten zurückziehen, endlich mal so richtig viel Zeit für sich selbst haben...?

Das sind die Perspektiven von vielen, es ist nicht unsere. Wir haben uns anders entschieden und wollen auch weiterhin und immer wieder Gesellschaft verändern, der Normalität trotzen, die Herrschaft nicht ernst nehmen, die Bestie ärgern und den Traum vom besseren Leben im Hier und Heute verwirklichen... Kurzum, die Verhältnisse zum Tanzen bringen.

Leider sieht es zur Zeit genau dafür nicht so richtig rosig aus, und das Selbstmitleid in den Krisenbeschreibungen scheint sich wie ein neurotischer Szeneköter in den eigenen Schwanz zu beißen: die Orientierung an gesellschaftlicher Relevanz erscheint bei realistischer Einschätzung der eigenen "Stärke" als Größenwahn. Doch ohne eine solche Perspektive gilt vielen der (Wieder-)Aufbau einer handlungsfähigen Struktur als vergebene Mühe, und ein Ausbrechen aus dem oben beschriebenen Kreislauf erscheint nicht möglich.


Wir wollen trotzdem tanzen!

Der Aufforderung zum Tanz fehlt nicht nur die Musik, sondern auch der/die/das passende PartnerIn. Auch die alten Tanzschuhe sind reichlich verschlissen, und die neuen drücken noch an den verschiedensten Stellen. Wer wirklich tanzen will, muß sich also umsehen und in Bewegung setzen. Ein neuer Saal mit Musik, die uns gefällt, muß einfach nur betreten werden, nach anderen Freundinnen und Freunden der rhythmischen Bewegungen sollte sich umgesehen werden, und die Sache mit den Schuhen wird sich dann auch irgendwie finden. Es muß ja nicht beim Standardtanz bleiben, vielleicht machen ja Formationstänze viel mehr Spaß.

Mit der radikal wollen wir also nicht warten, bis jemand im Saal das Licht anknipst, sondern dazu beitragen, rauschende Nächte zu erleben, in denen die Musik selbst bestimmt wird. Mit der radikal wollen wir nicht nur die eine oder andere Tanzstunde begleiten, sondern auch selbst suchen, wo überhaupt große Hallen bespielt werden. Mit anderen Worten: Das Projekt soll helfen, den Mangel an übergreifenden und über den Tellerrand hinausgehenden Diskussionen zu überwinden.

Damit meinen wir nicht nur einen Austausch über konstruierte Teilbereichsgrenzen hinweg, sondern auch die gemeinsame Suche nach verschiedenen Perspektiven von gesellschaftlicher Veränderung. Dabei geht es uns weniger um die Selbstgefälligkeit der einen, richtig hergeleiteten Analyse, sondern um die Handlungsfähigkeit in künftigen Auseinandersetzungen. Als vielfach bekanntes Projekt bietet die radikal auch weiterhin ein wichtiges Forum für eine tatsächlich breite Diskussion, für Wissensvermittlung und Erfahrungsaustausch. Auch in Zukunft wird die Gegenseite alle Mittel daran setzen, jeden ernsthaften Versuch, die Verhältnisse hier und woanders zu kippen, niederzuschlagen. Deshalb ist es notwendig, die Perspektive der Selbstverteidigung zu berücksichtigen und die Grauzone unserer Erscheinungsform aufrechtzuerhalten. Die radikal wird auch in Zukunft den Raum für die Vermittlung des notwendigen Know-hows und die Diskussionen darum bieten. Wichtiger erscheint es uns jedoch zunächst, Konfliktlinien in der kalten Wirklichkeit der Barbarei zu finden. Der Tunnelblick jahrzehntelanger Orientierung an Subkultur und Nischenrealität hat vielen den Blick auf das soziale Leben außerhalb der "eigenen Strukturen" verbaut - soziale Kämpfe dort werden kaum wahrgenommen oder in der Märchenwelt der Phantasien verortet. Bezogen auf diese Überheblichkeit ist die vielbeschworene Krise eine echte Chance. Da sich die soziale Wirklichkeit für viele zunehmend verschärft, sollte sie endlich auch zum Thema gemacht werden. Zudem bietet das unbekannte Feld dieser Alltagszwänge die Möglichkeit, sich erst einmal umzusehen und dort andere Kämpfe wahrzunehmen. Es kann zur Zeit nicht nur darum gehen, eigene Vorstellungen darüber, wie Kämpfe zu führen sind, selbstsicher in die Welt zu tragen. Es kann erst einmal nur darum gehen, die paralysierte Restlinke mit sozialen Kämpfen zu konfrontieren. Es gilt, in gemeinsamen Diskussionen um z.B. patriarchale, rassistische und reformpolitische Widersprüche und Herangehensweisen eine relevante Strategie zu entwickeln, statt diese Kämpfe ausschließlich mit der oft üblichen Arroganz der Nischenpolitik zu okkupieren. Wie darin trotzdem erkämpfte Positionen aufrechterhalten werden können, um in den herrschenden Diskursen eigene Dynamiken zu ermöglichen, darüber muß noch gestritten werden.

Wir wollen die radikal nutzen, um dringend überfällige Debatten innerhalb des bisher üblichen LeserInnenkreises anzustoßen. Denn es mangelt den Utopien an Glaubwürdigkeit, wenn selbst im eigenen Kreis Kollektivität, Lebensfreude und eine gemeinsame Organisation des Alltags oft nur noch hohle Phrasen sind. Auch wenn unsere Vorstellung vom besseren Leben nicht die allgemeingültige Perspektive einer befreiten Gesellschaft sein kann, so braucht es auch weiterhin Rückzugsräume, in denen alte, oft wichtige Debatten nicht immer wieder neu begonnen, sondern weitergeführt werden können.

Dazu wollen wir mit der radi unseren Teil beitragen. Wichtig ist uns dabei, sowohl sprachlich als auch inhaltlich verständlich für viele zu sein und auch "interne" Diskussionen transparent und damit nachvollziehbar zu machen.


Melodien für Millionen

In unseren bisherigen Diskussionen sind wir zu Fragen gekommen, die vielen bekannt vorkommen werden ... Doch auch ohne einen offensichtlichen Neuigkeitswert (der ja eh nur aus einer passiven KonsumentInnensicht Bedeutung hat) wollen wir die Debatte eröffnen:

- Wie kann ein Bezug zu verschiedenen Befreiungsbewegungen jenseits einer KofferträgerInnensolidarität aussehen? Wie kann der Dynamik weltweiter Repression gegen emanzipatorische Bewegungen nicht nur eine moralische Argumentation entgegengesetzt werden, sondern eine inhaltlich gefüllte Solidarität? Und was können wir aus diesen Ideen für die eigene Politik ableiten? Auch wenn sich der Zusammenhang z.B. zwischen einer polnischen Fabrikbesetzung und unserem Frust über die schon wieder steigende Miete oder das fehlende selbstverwaltete Zentrum nicht sofort und unmittelbar erschließt, ist die umfassende Unterwerfung unter die kulturelle Hegemonie der westlichen Zivilisation vielleicht ein gemeinsamer Ansatzpunkt.

- Gibt es die berühmten Kämpfe im Stadtteil, in der Schule und in der Fabrik, wo wir einfach nur so mitmischen können? Wie sehen die aus? Was machen wir darin mit unseren nicht weniger berühmten Widersprüchen? Wie können Organisationsversuche - z.B. in Callcentern, im Hauswirtschaftsbereich, in Zeitarbeitsfirmen oder den verschiedensten Zwangsarbeitsmaßnahmen von Arbeits- und Sozialämtern - aussehen? Wie können bessere Arbeits- und Lebensbedingungen von Illegalisierten durchgesetzt werden?

- Immer wieder passiert es, daß aufgrund fehlender eigener Sozialstrukturen Leute aus den Szenenischen gedrängt werden, sie sich verabschieden (müssen). Gibt es den Weg aus der Isolation in die Gesellschaft, ohne die "liebgewonnenen" Vorteile bestehender Strukturen aufzugeben oder zu verändern? Können aus unserer kleinen Welt Impulse für die Umsetzung von gesellschaftlichen Utopien gegeben werden? Wie wird das Private wieder politisch?

Alles nix Neues. Wen wundert's, schließlich hat sich die Welt in den letzten drei Wochen ja auch nicht grundlegend verändert. Was uns besonders am Herzen liegt, ist, diese alten Themen neu aufzurollen - endlich wieder zu versuchen, nicht Teil des Problems zu sein, sondern Teil der Lösung zu werden. Wir haben weder Bock auf abgehobene Theorien, die nicht in der Praxis angewandt werden, noch auf theorieloses Aufzählen von "Dingen, die wir wirklich schlimm finden". Ohne eine theoretisch fundierte Position verkommt unser Alltagshandeln zumeist zu einem Gemisch von Willkür und Moral.

Wie ihr seht, haben wir nicht nur die Weisheit mit Löffeln gefressen, sondern auch noch den Masterplan für die nächste Revolution in der Jutetasche. Trotz alledem: in einem Punkt muß die radikal die alte bleiben: Sie kann nie mehr bieten als das, was wir alle daraus machen.

By any means necessary ...

Bis zur nächsten Ausgabe wird es noch etwas dauern,


eure radieschen


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kombo(p) - 24.10.2001