Ein Auszug aus - kassiber 45 - Mai 2001

Bilder als Appetitanreger: Die Mobilmachung für den Kosovo

Es begann mit einer Lüge


Anfang des Jahres zeigte die ARD einen Film von Jo Angerer und Matthias Werth mit dem Titel "Es begann mit einer Lüge", in dem die beiden Journalisten darüber berichten, wie mit gezielten Falschinformationen und wüsten Konstrukten der NATO-Überfall auf den Kosovo der Öffentlichkeit verkauft wurde. Im Folgenden dokumentieren wir eine gekürzte und redaktionell z.T. stark überarbeitete Fassung des Textmanuskripts zum Film. (kassiber-Redaktion)

"Liebe Mitbürgerinnen und Mitbürger, heute Abend hat die NATO mit Luftschlägen gegen militärische Ziele in Jugoslawien begonnen. Damit will das Bündnis weitere schwere und systematische Verletzungen der Menschenrechte unterbinden und eine humanitäre Katastrophe im Kosovo verhindern. Der jugoslawische Präsident Milosevic führt dort einen erbarmungslosen Krieg. Wir führen keinen Krieg, aber wir sind aufgerufen, eine friedliche Lösung im Kosovo auch mit militärischen Mitteln durchzusetzen." (Gerhard Schröder 24. März 1999)

Im Folgenden soll gezeigt werden, wie schon vom ersten Tag des Kosovo-Krieges an die Bevölkerung getäuscht wurde, wie Tatsachen verfälscht und Fakten erfunden, wie manipuliert und auch gelogen wurde, und schließlich, weshalb Bomben auf Belgrad fielen.

Die NATO behauptet, sie habe die Bomben geworfen, um das Leben der Kosovo-Albaner zu schützen - vor den Serben. Doch als die ersten Bomben einschlugen, sah man zunächst Bilder von Serben, die voller Angst in ihre Keller und in die wenigen Bunker der Stadt flohen, von serbischen Kindern voller Furcht, ihr Leben könne enden, noch bevor es richtig begonnen hatte. Bilder des jugoslawischen Fernsehens zwar, aber zu "echt", um als "serbische Propaganda" bagatellisiert werden zu können. Daß Bilder eine große Macht auf die öffentliche Meinung ausüben, wußte auch der oberste NATO-Sprecher, und er hätte darum lieber andere gezeigt: "Das Wichtigste ist, daß der Feind nicht das Monopol auf die Bilder haben darf, denn das rückt die Taktik der NATO in das Licht der Öffentlichkeit und nicht die bewußte Brutalität von Milosevic. [...] Beim nächsten Mal, wenn die ARD, CNN oder die BBC ein Bild von einem zerschossenen Flüchtlingstreck zeigen, dann will ich sagen können: Ja, das stimmt. Ich entschuldige mich, ich kann das erklären. Aber sehen Sie hier: Ein Massengrab, Leute, die absichtlich umgebracht und in dieses Grab geworfen wurden! Auf welcher Seite stehen Sie also?" ( Jamie Shea, NATO-Sprecher). Bilder von Massengräbern standen der NATO aber nicht zur Verfügung.


"Humanitäre Katastrophe"

Verteidigungsminister Rudolf Scharping erklärte 1999, weshalb er deutsche Soldaten in den Kosovo-Krieg geschickt hat: "Wir wären ja auch niemals zu militärischen Maßnahmen geschritten, wenn es nicht diese humanitäre Katastrophe im Kosovo gäbe mit 250.000 Flüchtlingen innerhalb des Kosovo, weit über 400.000 Flüchtlingen insgesamt, und einer zur Zeit nicht zählbaren Zahl von Toten." (Rudolf Scharping 27. März 1999)

Nicht zählbare Tote schon vor Beginn der NATO-Bombardierung? Die OSZE, Organisation für Sicherheit und Zusammenarbeit in Europa, müßte davon doch gewußt haben. Denn ihre Beobachter hatten penibel die Vorkommnisse im Kosovo gemeldet. Ihr Fazit für den März 1999: 39 Tote im gesamten Kosovo - bevor die NATO-Bomber kamen. Drohte also eine "humanitäre Katastrophe"? Der damals leitende deutsche General bei der OSZE, und eine amerikanische Diplomatin, die damals im Kosovo war, erinnern sich: "Die Legitimationsgrundlage für die deutsche Beteiligung war die sogenannte 'humanitäre Katastrophe'. Eine solche humanitäre Katastrophe als völkerrechtliche Kategorie, die einen Kriegseintritt rechtfertigte, lag vor Kriegsbeginn im Kosovo nicht vor." (Heinz Loquai, General a. D. - OSZE). "Bis zum Beginn der NATO-Luftangriffe gab es keine humanitäre Krise. Sicher, es gab humanitäre Probleme, und es gab viele Vertriebene durch den Bürgerkrieg. Aber das spielte sich so ab: Die Leute verließen ihre Dörfer, wenn die Serben eine Aktion gegen die UCK durchführten - und kamen danach wieder zurück. Tatsache ist: Jeder wußte, daß es erst zu einer humanitären Krise kommen würde, wenn die NATO bombardiert. Das wurde diskutiert: In der NATO, der OSZE, bei uns vor Ort und in der Bevölkerung." (Norma Brown, US-Diplomatin im Kosovo). Ein eindeutiges Urteil! In keinem einzigen Bericht der OSZE findet sich auch nur ein Indiz für eine drohende humanitäre Katastrophe. Was die internationalen Fachleute beobachteten, waren Situationen wie diese: Rebellen der sogenannten Kosovo-Befreiungsarmee UCK kämpften gegen reguläre jugoslawische Truppen. Ein Bürgerkrieg - so die OSZE. Vor diesen Kämpfen flohen die Dorfbewohner. Später kehrten sie dann meist in ihre völlig zerstörten Häuser zurück.

Die NATO in Brüssel kannte die Berichte der OSZE. Sie deckten sich mit ihren eigenen Beobachtungen, blieben aber intern. Diese Erkenntnisse wurden damals nicht auf einer der vielen NATO-Pressekonferenzen veröffentlicht. Mehr noch: Auf der letzten Tagung des NATO-Rates vor Kriegsbeginn, am 14. März 1999, wurde berichtet: Die Gewalt gehe eher von terroristischen Aktionen der UCK aus, die Serben übten dann allerdings mit unverhältnismäßiger Härte Vergeltung. Dennoch drohte die Lage im Kosovo zu der Zeit nicht außer Kontrolle zu geraten. Dennoch bereitete sich die NATO-Führung längst auf einen Angriff gegen Jugoslawien vor.

Auch im deutschen Verteidigungsministerium war zur gleichen Zeit keine Rede von einer drohenden humanitären Katastrophe: In den Unterlagen des Bundesministers für Verteidigung zur Lage im Kosovo stand nämlich etwas ganz anderes, als was Rudolf Scharping in der Öffentlichkeit verkündet hatte: "In den vergangenen Tagen kam es zu keinen größeren bewaffneten Auseinandersetzungen zwischen serbisch-jugoslawischen Kräften und der UCK ... Die serbischen Sicherheitskräfte beschränken ihre Aktionen in jüngster Zeit auf Routineeinsätze wie Kontrollen, Streifentätigkeit, Suche nach Waffenlagern und Überwachung wichtiger Verbindungsstraßen." (aus den geheimen Lageberichten des Verteidigungsministeriums)

Dennoch liefen die Vorbereitungen für den Angriff weiter. Als dann jedoch die ersten Bomben fielen, sank in den NATO-Ländern die Unterstützung für den Krieg. Die Stimmung in der Bevölkerung drohte sogar zu kippen. Jamie Shea, NATO-Sprecher: "Die politischen Führer spielten nun die entscheidende Rolle für die öffentliche Meinung. Sie sind die demokratisch gewählten Vertreter. Sie wußten, welche Nachricht jeweils für die öffentliche Meinung in ihrem Land wichtig war. Rudolf Scharping machte wirklich einen guten Job. Es ist ja auch nicht leicht, speziell in Deutschland, das 50 Jahre lang Verteidigung nur als Schutz des eigenen Landes gekannt hatte, statt seine Soldaten weit weg zu schicken. Psychologisch ist diese neue Definition von Sicherheitspolitik nicht einfach. Nicht nur Minister Scharping, auch Kanzler Schröder und Minister Fischer waren ein großartiges Beispiel für politische Führer, die nicht der öffentlichen Meinung hinterher rennen, sondern diese zu formen verstehen. [...] Wenn wir die öffentliche Meinung in Deutschland verloren hätten, dann hätten wir sie im ganzen Bündnis verloren."

Der Kampf um die öffentliche Meinung war härter geworden. Und die Gangart auch. Schlichte Meinungsmache, Kriegspropaganda für den Hausgebrauch - das reichte jetzt nicht mehr.


Vergleich mit dem deutschen Faschismus: Die Legende von Pristina

Im Mittelpunkt stand das Fußballstadion. Hier sollten die Serben ein KZ für Kosovo-Albaner betrieben haben - ganz nach Nazi-Manier. Mit dieser Behauptung ging Rudolf Scharping im April 1999 an die Öffentlichkeit: "Viel wichtiger ist die Frage: Was geschieht jetzt im Kosovo? Wenn ich höre, daß im Norden von Pristina ein Konzentrationslager eingerichtet wird, wenn ich höre, daß man die Eltern und die Lehrer von Kindern zusammentreibt und die Lehrer vor den Augen der Kinder erschießt, wenn ich höre, daß man in Pristina die serbische Bevölkerung auffordert, ein großes ‚S' auf die Türen zu malen, damit sie bei den Säuberungen nicht betroffen sind, dann ist da etwas im Gange, wo kein zivilisierter Europäer mehr die Augen zumachen darf, außer er wollte in die Fratze der eigenen Geschichte schauen." (Rudolf Scharping 28.03.1999)

Das "S" zum Schutz der Serben hat in Pristina auf keiner einzigen Tür geprangt. Doch Rudolf Scharping berichtet sogar noch in seinem späteren Kriegstagebuch über den NATO-Einsatz im Kosovo von mehreren Tausend Leuten, die hier interniert gewesen seien. Und der deutsche Außenminister Joschka Fischer bemühte sogar mehrfach den Vergleich zwischen Serben und Nazis und rief zum Krieg auf mit den Worten: "Nie wieder Auschwitz!" Bis heute bleiben Joschka Fischer und Rudolf Scharping bei ihrer Darstellung: "Ich habe mich so geäußert, daß der Verdacht besteht, daß im Stadion von Pristina Menschen festgehalten werden. Das beruhte auf Zeugenaussagen, die sich bezogen auf entsprechende Internierung in den Gängen des Stadions, in den Geschäften, die unterhalb der Tribünen waren. Wir haben versucht, das aufzuklären. Bilder davon konnten wir nicht gewinnen. Aber die Zeugenaussagen standen." (Rudolf Scharping)

Zeugen aus Pristina also. Wenn einer aber etwas mitbekommen hat, dann müßte es Shaban Kelmendi gewesen sein, ein kosovarischer Politiker. Sein Haus liegt direkt am Stadion, und während des Krieges hat er Pristina keinen Tag verlassen: "Wie Sie sich selbst überzeugen können, blickt man von hier aus genau auf das Stadion. Man kann alles sehen. Es hat damals dort keinen einzigen Gefangenen oder eine Geisel gegeben. Das Stadion hat immer nur als Landeplatz für Helikopter gedient. Sie sehen ja, da landen immer noch Helikopter. Wie damals. Das haben wir alle hier sehen können. Die Helikopter landeten dort, und die Leute stiegen ein, Soldaten halt." (Shaban Kelmendi, Augenzeuge)

Das Fußballstadion von Pristina - ein Konzentrationslager, wie Rudolf Scharping es vollmundig verkündet hatte? Im besten Fall gutgläubig weitergetragene Propaganda, wahrscheinlich aber schlicht eine frei erfundene Greuelgeschichte. Nicht die einzige Kriegslüge, die man in die Welt setzte, um die Unterstützung der Öffentlichkeit aufrechtzuerhalten.


Beispiel Rugovo

Rugovo hat für den Kosovo-Krieg eine besondere Bedeutung. Begonnen hatte die Geschichte auf dem Bauernhof von Shefget Berisha. Eine Geschichte, die später im fernen Deutschland Schlagzeilen machte. Es war der 29. Januar 1999, zwei Monate vor Beginn der NATO-Luftangriffe. Plötzlich hörten die Nachbarn von Shefget Berisha Schüsse. Was war passiert? Remzi Shala, Augenzeuge: "Damals am 29. Januar ist folgendes passiert: Es war ein Freitag. Morgens kurz nach fünf ging es drüben im Haus meines Nachbarn Shefget Berisha los. Es waren Schüsse aus Maschinengewehren, drei oder vier Stunden lang. Wir waren wach geworden und hörten das alles. Erst nach drei oder vier Stunden hörte die Schießerei auf. So gegen zehn Uhr kam eine Gruppe Polizisten aus dieser Richtung dort auf uns zu. Mein Vater und ich haben sie gesehen. Als sie dann so ungefähr bis auf fünfzig, sechzig Meter an mich heran gekommen waren, blieb mir nur noch weg zu laufen. Ich lief weg in die andere Richtung." Ein zerschossener roter Kleinbus erinnert noch heute an jenen Tag. Doch was war genau in Rugovo geschehen? Ein Massaker der Serben an unschuldigen Zivilisten, sagte Rudolf Scharping. Zwei Monate später, am 27. April 1999, präsentierte der Verteidigungsminister mit theatralischer Betroffenheit Fotos als Beweise. "Deshalb führen wir Krieg", titelte auch die Presse und veröffentlichte die Bilder Scharpings. In einem internen Lagebericht des Verteidigungsministerium dagegen hieß es: "Verschlußsache - nur für den Dienstgebrauch. Am 29. Januar ´99 wurden in Rugovo bei einem Gefecht 24 Kosovo-Albaner und ein serbischer Polizist getötet." Nach der Informationsquelle für Ereignisse in Rugovo befragt, beruft sich Scharping auf "OSZE-Beobachter, die als erstes am Ort waren". Der erste OSZE-Beobachter vor Ort war der deutsche Polizeibeamte Henning Hensch. Sein offizieller Ermittlungsbericht zu Rugovo: "Am Tatort fanden wir einen roten Van, zerschossen, mit offenen Scheiben und insgesamt vierzehn Leichen in diesem Fahrzeug, und drei Leichen lagen außerhalb des Fahrzeuges. In der ‚Garage' genannten Stallung auf der Rückseite der Farm befanden sich fünf UCK-Fighter in den typischen Uniformen, den dunkelblauen mit dunkelgrün oder grün eingefärbten Uniformen, die dort im zehn Zentimeter hohen Wasser lagen. Und dann ging es noch etwa 300 Meter weiter zu einem zweiten Tatort, an dem wir wiederum vier Leichen fanden, und darüber hinaus sind die Leichen, die der Verteidigungsminister zeigen ließ, dort von den serbischen Sicherheitsbehörden und von mir und meinen beiden russischen Kollegen abgelegt worden, weil wir sie von den verschiedenen Fundorten oder Tatorten zusammengesammelt hatten." So also entstanden diese Bilder einer angeblichen Exekution, die der Minister präsentierte. Bilder, die mit den tatsächlichen Ereignissen nichts zu tun hatten. Auch Heinz Loquai, General a. D. (OSZE) schätzt das so ein: "Es war auch ganz klar, daß das kein Massaker an der Zivilbevölkerung war, denn nach den OSZE-Berichten haben Kommandeure der UCK ja selbst gesagt, es seien Kämpfer für die große Sache der Albaner dort gestorben. Also zu einem Massaker hat es eigentlich der deutsche Verteidigungsminister dann interpretiert." Angesichts des Widerspruchs zwischen dem OSZE-Ermittlungsbericht und der Darstellung von Scharping kam Henning Hensch seiner Sorgfaltspflicht nach, indem "der Verteidigungsminister noch am Tage der ersten Veröffentlichung [...] von mir darüber in Kenntnis gesetzt worden ist, daß die Darstellung, die da abgelaufen ist, so nicht gewesen ist." Frage heute an Scharping: "Waren diese Schilderungen, die damals gemacht worden sind zu den Vorgängen in Rugovo, aus ihrer Sicht heute korrekt, und sind nach wie vor so gültig?" Rudolf Scharping: "Ja, die sind völlig korrekt."


Mit den UN wenn möglich, ohne sie wenn nötig

New York, April 1999. Während Scharping von einem Massaker berichtet, das keines war, und von einem KZ, das es nie gab, war der Kosovo-Krieg weiter in vollem Gange. In Deutschland wie in den USA wurde für diesen Krieg Stimmung gemacht. Das war auch notwendig, denn der Krieg der NATO war völkerrechtswidrig: Nur die Vereinten Nationen, deren Hauptquartier hier in New York ist, hätten ein Mandat für den Angriff geben dürfen. Doch dieses Mandat hat es nie gegeben. Bereits 1993 hatte US-Präsident Bill Clinton die Grundzüge der US-amerikanischen Außenpolitik in einem geheimen Regierungsdokument festgelegt. "Mit den Vereinten Nationen wenn möglich, ohne sie wenn nötig" lautete der Titel. "Die NATO", heißt es darin, "soll die Entscheidungskriterien für die UN festlegen und nicht umgekehrt".

Der Kosovo-Einsatz ohne UN-Mandat - ein klarer Bruch des Völkerrechts. Ein der wichtigsten politischen Berater der US-Regierung, Wayne Merry, der Zugang zu geheimen Planungsunterlagen der US-Regierung über die Hintergründe des Kosovo-Krieges hatte, weiß zu berichten: "Manche Regierungsleute aus dem Außenministerium reden davon, daß Kosovo nur der Auftakt ist für zukünftige Kriege der NATO, die noch viel entfernter sein werden. Für Washington ging es nicht um die Demonstration der amerikanischen Führungsrolle in der NATO. Die wurde nie bestritten. Man wollte zeigen, daß die NATO überhaupt noch einen Zweck hat. Und dieser Zweck ist etwas ganz anderes, als die rein defensiven Aufgaben, für die die NATO gegründet wurde." (Wayne Merry, Berater der US-Regierung)

In den USA mag die NATO als neuer Weltpolizist vielleicht eine selbstverständliche Vorstellung sein. Doch der deutschen Öffentlichkeit wäre die nur schwer zu vermitteln gewesen. Zumal der Kosovo-Krieg inzwischen immer heftiger kritisiert wurde - vor allem, nachdem NATO-Flugzeuge die militärischen Ziele der Serben verfehlt und statt dessen versehentlich Flüchtlingstrecks angegriffen hatten. "Kollateralschäden" nannten dies die Militärs. Dann war Schadensbegrenzung angesagt: "Nach dem Angriff auf den Flüchtlingskonvoi bei Djakovica, dem ersten ‚Unfall' des Krieges, fiel die öffentliche Zustimmung in vielen Ländern, auch in Deutschland, um 20 bis 25 Punkte. Wir mußten sechs Wochen hart arbeiten, um die öffentliche Meinung zurückzugewinnen. Milosevic machte den Fehler, die Flüchtlinge aus dem Kosovo nach Albanien und Mazedonien zu treiben. An der Grenze waren Fernsehteams, die das Leiden filmten. Und so stellte sich die öffentliche Meinung wieder hinter die NATO." (Jamie Shea, NATO-Sprecher)

Jeden Abend und in jeder Nachrichtensendung war es nun zu sehen: Bilder albanischer Flüchtlinge an der jugoslawisch-mazedonischen Grenze, Leid, Flucht und Vertreibung. Doch in Deutschland haben diese Bilder offenbar nicht ausgereicht. Nun hieß es, von langer Hand hätten die Serben die Vertreibung dieser Menschen und die ethnische Säuberung des Kosovo geplant. Mord und Vertreibung im Kosovo erhielten einen Namen:


"Operationsplan Hufeisen"

"Ich will Ihnen ausdrücklich auch für morgen eine genaue Analyse dessen ankündigen, was sich auf der Grundlage des Operationsplans Hufeisen in den Monaten seit Oktober 1998 im Kosovo vollzogen hat. Er zeigt sehr deutlich, daß in klar erkennbaren Abschnitten die jugoslawische Armee, die jugoslawische Staatspolizei begonnen hat, in der Zeit von Oktober bis zum Beginn der Verhandlungen in Rambouillet, die Vorbereitungen für die Vertreibung der Bevölkerung nicht nur zu treffen, sondern diese Vertreibung auch schon begonnen hat. Er zeigt im übrigen sehr deutlich das systematische und ebenso brutale wie mörderische Vorgehen, das seit Oktober 1998 geplant und seit Januar 1999 ins Werk gesetzt worden ist." (Rudolf Scharping, 07.04.1999)

Das sollte der Operationsplan sein: Wie ein Hufeisen umschließen serbische Truppen albanische Zivilisten und treiben sie aus dem Kosovo. Schon seit Januar '99, also vor Beginn der NATO-Angriffe, seien die Serben "planmäßig" vorgegangen, hieß es in der Broschüre des Verteidigungsministeriums. Und zum Beleg ein Foto. Doch die Datenzeile weckt Zweifel, denn sie zeigt das Aufnahmedatum: April '99, also erst nach Beginn der NATO-Luftangriffe, und schon deshalb ist das, was in Randubrava, dem Dorf auf dem Foto, geschah, kein Beweis für den Hufeisen-Plan.

Wurde die Zivilbevölkerung wirklich "planmäßig" aus Randubrava vertrieben? Ein Augenzeuge berichtet: "Die Bewohner haben das Dorf am 25. März nach den Luftangriffen der NATO verlassen. Abends gegen zwanzig Uhr haben wir den Befehl von der UCK erhalten, die Bevölkerung zu evakuieren. Am 26. März hat es keine Dorfbewohner mehr hier gegeben, wir hatten sie alle in das Dorf Mamush gebracht. Dann erst beschossen uns die Serben mit Granaten. Wir waren UCK-Soldaten, wir haben uns verteidigt, aber es war unmöglich. Wir waren den Panzern und Kanonen gegenüber machtlos. Aber wir haben standgehalten, so lange wir konnten. Hier aus meinem Dorf waren wir 85 UCK-Soldaten, aber es gab auch noch andere von außerhalb. Insgesamt waren wir hier 120 Soldaten von der vierten Kompanie der 129. Brigade der UCK." (Shaip Rexhepi, Augenzeuge)

Mit einer "planmäßigen" Vertreibung der Zivilbevölkerung hat das wenig zu tun. Hatte Verteidigungsminister Scharping in seiner Broschüre die Unwahrheit verbreitet? Rudolf Scharping auf die Frage, wie er sich darüber informiert habe, was in diesem Ort geschehen ist: "Das sind Ergebnisse der Luftaufklärung, das ist ja nicht so schwer, entsprechende Bilder zu bekommen, jedenfalls solange sie keine geschlossene Wolkendecke haben. Im übrigen gibt es Zeugenaussagen, die man heranziehen kann, es gibt Menschen, die geflohen sind, es gibt andere, die zum Teil unter Lebensgefahr berichtet haben. Dazu gehörte in der Zeit vor dem Ausbruch der kriegerischen Maßnahmen auch das sehr vielfältige Informationsangebot, will ich's mal nennen, das über die unbewaffneten Beobachter der OSZE an uns herankam."

Doch nicht nur das Dorf Randubrava führt Rudolf Scharping in seiner Broschüre als Beweis für den Hufeisen-Plan an. Auch ein Dorf namens Sanhovici soll vor den NATO-Luftangriffen zerstört worden sein. Doch auch diesmal war das entsprechende "Beweis"-Foto später entstanden: im April 1999, also ebenfalls nach Kriegsbeginn. In Wirklichkeit heißt das Dorf aus der Aufklärungsbroschüre des Verteidigungsministeriums allerdings nicht Sanhovici, sondern Petershtica. In Sanhovici alias Petershtica sollen die Serben angeblich zu einer besonders tückischen Zerstörungsmethode gegriffen haben: "Zunächst stellt man [also die Serben] eine brennende Kerze auf den Dachboden, und dann öffnet man im Keller den Gashahn..." (nach der Broschüre des Verteidigungsministeriums). Auf diese Weise also sollen die Serben hier gewütet haben. Ihre Aktionen waren laut Scharping "von vornherein Teil der sogenannten Operation Hufeisen", also der planmäßigen Vernichtung vor Beginn der NATO-Bombardierung.

In Petershtica erinnert man sich aber völlig anders: "Das war alles schon im Juni 1998 passiert. Damals waren da eine Menge Leute von der jugoslawischen Armee, die dort vom Dorf Zboc aus auf uns zu kamen. Aber wir hatten die Armee zurückgeschlagen. Dann hatten sie angefangen, uns mit schweren Waffen zu beschießen - vier Wochen lang. Es gab so gut wie keine Stelle mehr, wo keine Granate eingeschlagen war. So war es in diesem Ortsteil hier und im gesamten Dorf." (Fatmir Zymeri, Augenzeuge)

Die Zerstörungen gingen also auf Juni 1998 zurück. Laut Scharping hatte Milosevic den sogenannten Hufeisen-Plan jedoch erst ein halbes Jahr später, im Dezember 1998, entworfen. Zwei Jahre nach dem Krieg noch einmal die Frage an Rudolf Scharping: Was war denn nun mit dem Hufeisen-Plan?

"Wir hatten geheimdienstliche Informationen, ich erhielt sie Anfang April 1999 über den Außenminister. Ich habe dann unsere Fachleute gebeten, nicht nur diese Informationen auszuwerten, sondern sie zu vergleichen mit den Erkenntnissen aus der elektronischen Aufklärung, also auch dem Abhören von Funkverkehr serbischer Einheiten und Paramilitärs. Das ist geschehen, und erst als dieser Abgleich gezeigt hat, daß die Informationen richtig sind, haben wir sie auch öffentlich verwendet." ( Rudolf Scharping)

OSZE-Mitarbeiter haben da ganz andere Erinnerungen: "Ich habe dann um ein Gespräch im Verteidigungsministerium nachgesucht, das habe ich bekommen, das war im November, und dort hat man mir gesagt, es habe kein ‚Operationsplan Hufeisen' vorgelegen, sondern was man hatte, war eine Darstellung der Ereignisse, die im Kosovo abgelaufen sind, und diese Darstellung der Ereignisse konnte man aufgrund der OSZE-Berichte und anderer Berichte nachvollziehen. Aber es gab keinen ‚Operationsplan Hufeisen', so jedenfalls die Fachleute im Verteidigungsministerium. [...] Man hat in der Vergangenheit oft der deutschen Generalität den Vorwurf gemacht, daß sie dort auch geschwiegen habe, wo sie etwas hätte sagen sollen. Und ich wollte in dieser Situation auch etwas sagen und die Manipulation und Propaganda nicht als solche stehen lassen." (Heinz Loquai, General a. D. - OSZE)


Bleibt noch die Sache mit der Physik ...

Und was war mit den Kerzen auf den Dachböden und dem Gashahn im Keller, von denen Scharping berichtete? "Nein, so gerieten die Häuser in unserem Dorf nicht in Brand. Das passierte auf unterschiedliche Art und Weise, aber nicht so. Die wurden anders in Brand gesetzt. Die Häuser hatten durch Granatenbeschuß Feuer gefangen, diese Fälle gab es. Das geschah, als die Granaten ins Heu einschlugen, auf die Zäune und so. Auf gar keinen Fall aber durch solch eine Methode mit den Kerzen." (Fatmir Zymeri, Augenzeuge)

Frage zur Informationsbroschüre des Verteidigungsministeriums: "Da war eine Bildunterschrift drunter, dort stand, die Serben kommen in Dörfer, öffnen die Gashähne in den Kellern und stellen eine brennende Kerze auf den Dachboden. Es gibt Zweifel, daß diese Methode überhaupt funktioniert." Rudolf Scharping: "Welche Zweifel sind das denn?" "Wenn man in den Kellern den Gashahn aufdreht und oben eine Kerze hinstellt, das funktioniert [...] technisch überhaupt nicht, weder chemisch noch physikalisch noch überhaupt. Das weiß eigentlich jeder Oberbrandmeister." Rudolf Scharping: "Dann würde ich Ihnen raten, diesen Test noch einmal zu machen. Aber nicht mit einem Gashahn im Keller, sondern mit einer Flasche." "Ja, das ist das gleiche, das funktioniert beides nicht." Gas ist nämlich schwerer als Luft. In einer Neuauflage der Broschüre vom Mai '99 finden sich zwar noch die Abbildungen der beiden Dörfer, aber ohne die verräterischen Text- und Datenzeilen. Die sind entfernt worden. [...]


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kombo(p) - 16.05.2001