Ein Auszug aus - kassiber 30 - Dezember 96
(gegenüber der Papierausgabe gekürzt um
einige Zitate aus der AedW kekuerzt) 

Betrachtungen zu "Die Aesthetik des Widerstands"

"Wir brauchen die Mythen nicht, die uns nur verkleinern wollen ..."


"Rings um uns erhoben sich die Leiber aus dem Stein, zusammengedraengt zu Gruppen, ineinanderverschlungen oder zu Fragmenten zersprengt, mit einem Torso, einem aufgestuetzten Arm, einer geborstenen Huefte, einem verschorften Brocken ihre Gestalt andeutend, immer in den Gebaerden des Kampfs, ausweichend, zurueckschnellend, angreifend, sich deckend, hochgestreckt oder gekruemmt, hier und da ausgeloescht, doch noch mit einem freistehenden Fuss, einem gedrehten Ruecken, der Kontur einer Wade eingespannt in eine einzige gemeinsame Bewegung. Ein riesiges Ringen, auftauchend aus der grossen Wand, sich erinnernd an seine Vollendung, zuruecksinkend zur Formlosigkeit ..." (Beginn der AedW)

Am 8.November waere der Schriftsteller Peter Weiss 80 geworden.
Hier soll im folgenden "die Rede von einer Aesthetik sein, die nicht nur kuenstlerische Kategorien umfassen will, sondern versucht, die geistigen Erkenntnisprozesse mit sozialen und politischen Einsichten zu verbinden - der Schoepfung einer kaempfenden Aesthetik gleichkommend" (siehe Notizbuecher zu AedW).
Peter Weiss wurde am 8. November 1916 in Nowaves in der Naehe Berlins geboren. Der Vater, Ungar juedischer Herkunft, war Textilfabrikant, die Mutter ehehmals Schauspielerin. 1934 emigrierte die Familie zunaechst nach England, dann nach Boehmen, schliesslich nach Schweden. Peter Weiss begann seine kuenstlerische Taetigkeit als Maler, spaeter als Experimentalfilmer. Erst spaet wurden erste, meist surrealistisch gepraegte Stuecke und Prosatexte veroeffentlicht. Nach "Marat - de Sade" folgten Dokumentarstuecke (u.a. "Die Ermittlung", "Vietnam-Diskurs"). "Trotzki im Exil" fuehrte zu schweren Konflikten des in Stockholm lebenden Kuenstlers mit der DDR-Kulturpolitik (die Zusammenarbeit wurde unterbrochen), aber (bei der Urauffuehrung in Duesseldorf) auch mit der APO. Es folgten dann das Romanfragment "Rekonvaleszenz", das Stueck Hoelderlin und die Arbeit an der "Aesthetik des Widerstands". Am 10. Mai 1982 verstarb in Stockholm der deutschsprachige Schriftsteller Peter Weiss. Ein Jahr zuvor, im Mai 1981, war nach fast zehnjaehriger Schreibarbeit der dritte Band seines insgesamt 950 seitigen Romans "Die Aesthetik des Widerstands" (AedW) veroeffentlicht worden. Der Titel verweist sowohl auf einen Kunst- und Kulturbegriff, den "der Widerstand" zu entwickeln hat, wie andererseits auf die durch das Buch vorgenommene Darstellung und Wuerdigung antifaschistischer Untergrundtaetigkeit. Der Text handelt in der Zeit von 1936 bis 1945 im faschistischen Berlin, im Spanien des Buergerkriegs und in Stockholm. Hauptakteure sind KommunistInnen, u.a. Mitglieder der deutschen Gruppe der sogenannten "Roten Kapelle" (1).. Zur Sprache kommt die Geschichte der Arbeiterbewegung, kommt geschichtliche Diskussion, die bis ins antike Pergamon zurueckfuehrt; zum anderen sind immer wieder Kunstwerke Thema, sei es Géricaults Gemaelde "Das Floss der Medusa", sei es Gaudis Kathedrale "Sagrada Familia" in Barcelona, Picassos "Guernica" oder Kafkas Roman "Das Schloss".
Der Roman ist von Peter Weiss akribisch entlang recherchierter Fakten entwickelt, keine der zahlreichen Figuren ist erfunden. Auch den Ortsbeschreibungen liegen detaillierte Nachforschungen zugrunde. Diese Fakten aber sollen keinesfalls fuer sich sprechen. Weiss braucht die kleinen, exakten Wirklichkeitsfragmente vielmehr, um sie zu einer sehr subjektiv gepraegten Romanwelt ganz neu zusammenzusetzen. Die dazu notwendige Brechung wird ueber ein Erzaehl-Ich erreicht: "beschrieben wird, was das Ich des Buchs ueber diese Gestalten denkt, was es von ihnen haelt, wie es sie einschaetzt - sie werden gesehn von einer anonymen Figur - gehen also ein in eine Anonymitaet -". (2).
Die folgenden Betrachtungen sollen entlang der Diskussion um den mythischen Herakles einen zur Lektuere einladenden Ueberblick geben.

Bloecke

Die Konfrontation mit den ersten Textbloecken der "Aesthetik des Widerstands" wirkt erschlagend. In ihrer Verdichtung setzen sie der LeserIn Widerstand entgegen. In einer geballten, umfassenden Satzreihe wird ein unbeweglicher Steinblock beschrieben: der Pergamon-Altar, ausgestellt auf der Ostberliner Museumsinsel. Die fast durchgaengige Partizipform der Verben ("ausweichend", "zurueckschnellend") enthebt die Vorgaenge der Zeitlichkeit. Doch bleibt die Darstellung gleichzeitig anschaulich, lebendig, zieht in Bann. Stillstand und Dynamik sind eigentuemlich ineinander verwoben, wenn die mythische Schlacht der Goetter gegen die Giganten beschrieben wird: "eingespannt in eine einzige Bewegung ... rangen sie miteinander, ... traeumend, reglos in wahnsinniger Heftigheit." (AedW I, S. 8)
Wirkt die Darstellung zunaechst zeitlos, erschliesst sich der LeserIn nach und nach die Ausgangssituation des Romans: Mitten im faschistischen Berlin, im Jahre 1936, betrachten drei junge Kommunisten, Coppi, Heilmann, und das Erzaeht-Ich, das steinerne Monument. Es ueberwaeltigt sie, wie die faschistische Wirklichkeit ihre Widerstandsversuche zu ueberwaeltigen droht. Der steinerne Fries, in Auftrag gegeben durch die Oberen Pergamons, soll ewige, unueberwindbare Herrschaft symbolisieren. Der Fries vom Sieg der Goetter gegen die Giganten, erkennen die Jugendlichen nach und nach, ist ein absichtsvoll geschaffenes Werk antiken Klassenkampfs. Das Erbe der Koenige von Pergamon haben die Nazis angetreten - fuer eine Hoffnung der Unterdrueckten bietet das Kunstwerk zunaechst keinen Angriffspunkt. Die Goetter sind siegreich und maechtig, weil nur sie ueber den Raum zur vernichtenden Bewegung verfuegen. Den Giganten haften alle Eigenschaften des Steines an: Sie sinken ermattet, geschlagen, hinunter zur Erde, zusammengepresst durch die ueberlegene Gewalt; stumm, und schon erkaltend, sehen sie dem sicheren Tod entgegen. Die Jugendlichen identifizieren sich mit diesen Giganten, die dem Mythos nach den Erdgeborenen verwandt sind. Die abgebildete bedraengte Lage entspricht ihrer verzweifelten Situation.
Aus den Eigenschaften des Steins laesst sich eine Art Grammatik ableiten, die weit in den Roman "Die Asthetik des Widerstands" hinein die Lage der Aufstaendischen kennzeichnet. Jene koennen sich nur in - immer wieder dargestellten - engen, niedren Arbeiterkuechen besprechen, waehrend der Feind die Plaetze und Anhoehen bevoelkert. Die leise Konspiration, das lautlos hinterlassene Flugblatt praegen ihren Kampf, wo der Faschismus droehnend seine Staerke beweist. Der Steinfries mit seinem Goetterhimmel scheint aehnlich unangreifbar zu sein wie die bedrohliche, vernichtende nationalsozialistische Macht. Der Mythos praesentiert sich als Instrument der Herrschenden, unbrauchbar fuer den Befreiungskampf:
"Coppi wies daraufhin, dass demnach die ganze Goetterordnung laengst nur noch ein Bestandteil des Ueberbaus war, von den Regenten zur Einschuechterung verwendet, gleich der Religion, mit der die Aufgeklaerten die Unwissenden einschlaeferten."(AedW I, S. 37)

Bewegung

Doch damit finden sich die Jugendlichen, findet sich insbesondere Heilmann nicht ab. Vielmehr suchen sie, sich den Mythos verfuegbar zu machen. Zwar repraesentiert der ursruengliche Steinblock ein Geschichtsbild, das alle Vergangenheit als in sich aufgehoben und in ihre endgueltige Form gebracht betrachtet. Doch die Geschichte des Altars, die sich die Jugendlichen nach und nach erarbeiten, repraesentiert nicht solche Stillstellung. In ihr sind Momente der Veraenderung aufuzufinden. Die Figuren waren, erfahren Coppi, Heilmann und Erzaehl-Ich, urspruenglich "farbig bemalt und mit gehaemmerten Metallen ausgelegt", der Altar wurde zu den Weltwundern gezaehlt - versank dann aber "im Schutt eines Jahrtausends". Die Zerstoerungen am Altar deuten auf dessen Vergaenglichkeit hin und machen es Coppi moeglich, ihn als "freistehenden Wert" zu begreifen, "jedem angehoerend, der davor hintritt." (AedW I, S. 12) Doch nicht nur durch Verschuettung wurde der auf ewig konzipierte Fries zerstoert - Erdgeborene hatten daran aktiven Anteil. Arbeiter auf dem Burgberg nutzten die Quadern "als Baumaterial, sie vermauerten diese mit der glatten Rueckseite nach aussen und schlugen zuvor noch Koepfe und Glieder ab, weil alles Hervorragende das Einfuegen behinderte." (AedW I, S. 36)
Eine der Beschaedigungen am steinernen Fries wird Heilmann ganz besonders zum Angriffspunkt, das mythische Geschehen so umzudeuten, dass nicht die Goetter, sondern die Erdgeborenen siegreich werden sollen. Am Hauptfries, zwischen den Figuren des Zeus und der Hera, ist eine Leerstelle. Es fehlt der Halbgott Herakles, der der Ueberlieferung nach zum Sieg der Goetter gegen die Giganten Entscheidendes beitrug. Nur ein Erdgeborener, hatte den Goettern ein zum Kampf um Rat befragtes Orakel verkuendet, koenne den endgueltigen Tod der Giganten herbeifuehren. Herakles verriet seine menschlichen Anteile, seine erdgeborene Verwandtschaft, und verhalf den Goettern zum Sieg, was jene ihm nach seinem Tod durch die Apotheose, die Erhoehung in den Olymp, dankten. Im Fries ist allein die Pranke von Herakles' Loewenfell erhalten, das Symbol seiner Tatkraft. Sie scheint nun jedem verfuegbar zu sein, der sie zu ergreifen vermag.
Dass nun "grade er, der unseresgleichen war, fehlte, und dass wir uns nun selbst ein Bild dieses Fuersprechers des Handeln zu machen hatten", nennt Coppi "ein Omen" (AedW I, S. 11). Kommt Herakles den Unterdrueckten zur Hilfe, so koennen die Goetter nicht siegen. Es entsteht die Chance, der ewigen Stillstellung im Gestein zu entgehen, vielmehr die darin stillgestellte Bewegung freizusetzen. Der Mythos soll nicht mehr die Geschichte der Sieger feiern, sondern als uneingeloeste Forderung an die Zukunft gelesen werden.
Heilmann macht sich an die Arbeit einer Umdeutung, die ihn bis zu seinem Tod, der Hinrichtung in Ploetzensee, immer wieder beschaeftigen wird. Stellt der Mythos dar, wie der Halbgott zum Gott avanciert, sucht Heilmann nun umgekehrt, ihn zum Menschen werden zu lassen. Seine Goettlichkeit soll zum Ausgangs- statt zum Endpunkt werden. Die mythische Heldensage wird so verwandelt in den Versuch, die juedisch-christliche Vorstellung vom Messias ihres religioesen Inhalts zu erheben, sie in profanisierter Form linkem Denken anzueignen.

Abschied vom Heldenmythos

So macht sich Heilmann daran, den Erzaehlungen ueber den antiken Herakles einen ganz neuen Sinn zu geben (vgl. AedW I, S. 18ff). Ist dort die Rede davon, dass Herakles in geistiger Umnachtung Frau und Kinder erschlug, so unterstellt er dieser Handlung nun ein ganz anderes Motiv. Die Tat gilt ihm als Befreiung von Verstrickung in das Leben der herrschenden Klasse, in der sich Herakles zuvor befunden habe. In der mythischen Erzaehlung werden Herakles zur Busse seiner Tat zwoelf Aufgaben gestellt, die er willig erfuellt. Heilmann aber betrachtet Herakles' Demut nun als Verstellung, als Teil eines ausgekluegelten Planes. Nur zum Schein unterwerfe er sich dem Diktat des Koenigs Eurystheus, beabsichtige dabei, ueber ansteckende Tatkraft und Naturbeherrschung den Unterdrueckten zur Aktivitaet gegen jenen zu verhelfen. Das Konzept der mythischen Erzaehlweise, das die Einheit von Innerem und Aeusserem, von Motiven und Handlungen voraussetzt, ist so zwar noch nicht aufgehoben, aber doch in Frage gestellt.
Dennoch scheitert der erste Versuch einer Umdeutung schliesslich. Herakles wirft sich in der Sage, nachdem ihm seine Frau Deianeira ein mit dem Blut des Kentauren Nessos vergiftetes Hemd uebergab, auf den brennenden Scheiterhaufen; ihn ereilt die Todesart aller Querulanten. Im Mythos ist sein Misslingen durch die Apotheose, die Himmelfahrt, unwirksam. Indem sich Herakles dem Opfertod in den Flammen uebergibt, ermoeglicht er Zeus, ihn in den Olymp aufsteigen zu lassen. Die Apotheose aber ist das Gegenteil der von Heilmann angestrebten Bewegung eines saekularen Messianismus. Wuerde er Herakles in den Olymp aufsteigen lassen, waere jener als Verraeter entlarvt, so dass die Befreiungspotenz den Unterdrueckten nicht zukommen koennte. Herakles wird also durch die Flammen vernichtet. Er kann sich selbst davor nicht retten, geschweige denn, dass er zum Retter der Unterdrueckten taugte. In der Suche nach einer Loesung erwaegt Heilmann fuer einen Moment, umgekehrt die Unterdrueckten zu den Rettern des Herakles werden zu lassen. Die Moeglichkeit blitzt auf, dass statt dem Helden ein Kollektiv handlungsfaehig werden koennte. Doch das ueberlieferte Material laesst eine solche Loesung nicht zu, "niemandem gelang es, ihm das mit demvergifteten Blut des Nessos getraenkte Hemd von der Haut zu reissen ..." (AedW I, S. 25). Der erste Versuch, sich den Mythos anzueignen, ist gescheitert.
In der Folge des Romans trennen sich die Wege der Jugendlichen. Waehrend Heilmann und Coppi in Berlin die Untergrundtaetigkeit fortsetzen, meldet sich das Erzaehl-Ich als Freiwilliger der Internationalen Brigaden des spanischen Buergerkriegs. In einem Lazarett hinter der Front, der "Villa Candida" erreicht ihn ein Brief Heilmanns' der erneut sucht, den mythischen Herakles dem Widerstand zuzuschlagen (AedW I, S. 314ff). Darin wird das Konzept des eindeutigen Helden nun aufgegeben. Was waere, fragt Heilmann' wenn Herakles nicht uneingeschraenkt tatkraeftig, er vielmehr "von Furcht und Schrecken geplagt war und seine Handlungen nur dazu dienten, die eigene Schwaeche und Vereinsamung zu ueberwinden." (AedW I, S. 314). Die durch Herakles besiegten Feinde und Bestien werden unter Zugriff auf psychoanalytische Theorie als Traumungeheuer, die Kaempfe als Traumerlebrisse identifiziert. Als zentrales Merkmal des Traums erscheint dabei die Schmerzunempfindlichkeit' die Anaesthesie: ... und ich erwache erst, wenn ich schon zerrissen sein musste, aber keine Wunde, kein Schmerz ist vorhanden." (AedW I, S. 315) Solche Eigenschaften des Traumes kommen auch dem Kunstbegriff zu, dem sich Heilmann nun anzunaehern beginnt - unter Verabschiedung des mythischen Konzepts: "Was ich jetzt ueber Herakles lese, kommt nicht mehr aus dem Mythos, hat zwar noch epische Zuege, ist aber gepraegt von der Unvollkommenheit". (AedW I, S. 316)
Er naehert sich mit neuem Blick, mit neuen Massstaeben dem Herakles, nicht mehr den eindeutigen Helden suchend und nicht mehr die Eindeutigkeit in der Form. Und an einem unerwarteten Punkt findet sich ein Schluessel zum Verstaendnis der Heldensaga: an der Frage des Maennlichkeitsduenkels' des Geschlechterkampfs. Brillant stellt die Romanfigur Heilmann in ihrem Brief nun dar, wie die Mythengeschichte vom heldenhaften Herakles sich aus "groesster panischer Angst" und "Abscheu vor der Frau" erklaeren laesst. Seine Beziehungen zu Frauen sind gepraegt von Gewalttaetigkeit. Als auf seinen Reisen die Herrscherin Omphale das Geschlechterverhaeltnis verkehrt, und der Sklave Herakles Frauengewaender zu tragen hat, ist er in seinem maennlichen Duenkel tief verunsichert: ... musste ... den Pantoffelhelden abgeben, ... verspottet, wenn er nicht faehig war, ihren Geluesten nachzukommen." Auch das Ende des Helden erfaehrt eine voellig neue Deutung. Seine Frau Deianeira (heisst: die "Toeterin des Mannes") pflegt eine Liebschaft mit dem Kentauer Nessos. Sie beseitigt den herrischen Herakles, indem sie ihm "alle vorderasiatischen Geschlechtskrankheiten" weitergibt, die "der bruenstige Pferdemann, nach jahrelangen Umtrieben mit Herden von Getier, in sie hineingestossen hatte." (AedW I, S. 318) Herakles aber sucht, um fuer die Nachwelt seinen Ruf zu retten, dieses schaendliche Ende zu vertuschen. Sein "Heldentod" erweist sich als der kroenende Hoehepunkt seiner Lebensluege' in Verdeckung grosser Angst die Selbststilisierung zum Heroen zu betreiben.
Doch versucht Heilmann nun nochmals, ausgerechnet am soeben diskreditierten Tod des Herakles, eine Rettung des Vorbildes zu erreichen. "Groesse, fast Erhabenheit" sieht er darin, dass "kein Gegner stark genug" sei, wie jener im Todeskampf, "da die Pein ins Unermessliche steigt", sich selbst in die Flammen zu legen, und dabei noch in "verzuecktes Laecheln" zu verfallen (AedW I, S. 319). Unvermittelt wird Herakles hier als Maertyrer, als ein Heiliger wieder zum Leitbild erhoben.

Die geheime Hauptfigur: Marcauer

Dass der junge Kommunist Heilmann dem Maertyrertod des Herakles verpflichtet bleibt, zeigt einerseits an, dass er die Beschaeftigung mit dem Mythos nicht aufgeben will, ohne an seine Stelle eine fortschrittliche Kunstkonzeption setzen zu koennen. Vor allem aber ist hier eine Verknuepfung zur Auseinandersetzung um Stalinismus hergestellt. Im Romankontext steht Heilmanns Brief im unmittelbaren Zusammenhang mit dem Themenkomplex Moskauer Prozesse. In die Villa Candida dringen durch die Uebertragungen Radio Moskaus die Schauprozesse zu den mitten im Buergerkrieg befindlichen InternationalistInnen vor. In Diskussionsrunden versuchen sie, diese Nachrichten zu verarbeiten und zu bewerten. Dabei stehen diese Diskussionsrunden selbst, trotz der Liberalitaet des dem Lazarett vorstehenden Arztes Max Hodann, unter der Drohung moeglicher Repression. Eine Figur, die Kommunistin Marcauer, durchbricht furchtlos solche Selbstzensur. Sie kritisiert im Kontext der Moskauer Prozesse nicht nur massiv die Richter und Verurteilungen, sondern kennzeichnet als Ursache der Unterwerfung ein patriarchales System, an dem selbst die Angeklagten in ihrem scheinbar selbslosen Opfertod fuer Familie, Partei und Staat noch teilhaetten. Den Atavismus solcher Verhaltensweisen erklaert sie aus einer Analyse, die stalinistische Strukturen auf fortexistierende patriarchale Herrschaftsstrukturen zurueckfuehrt. Dieser Atavismus entspricht der Haltung des Herakles, wie sie ueber den unmittelbar angefuegten Heilmannbrief danebenmontiert ist.
Marcauer faellt, wie der Roman nahelegt, wegen dieser Aeusserungen der stalinistischen Repression zum Opfer. Hodann und das Erzaehl-Ich wagen nicht, dieser Repression etwas entgegenzusetzen. Das Erzaehl-Ich vedraengt das Ereignis, zieht auch nicht im Stillen, fuer sich selbst, zumindest theoretische Schlussfolgerungen aus dem Tod der Genossin. Hodann und das Erzael-Ich vermoegen sich so wenig den sie umgebenden Systemmechanismen zu entziehen, wie Heilmann zur eigentlich logischen Konsequenz eines Abschieds vom Leitbild Herakles faehig ist.
Die Textstelle zur Kommunistin Marcauer ist kurz, jene Figur findet im Roman "Die Aesthetik des Widerstands" nicht eigentlich einen Ort. Die AedW ist ein realistischer Roman, und fuer eine feministische Position, der auch noch anarchistische Denkelemente innewohnen, ist in jener Etappe realkommunistischer Bewegung keine Entfaltungsmoeglichkeit auszumachen, nicht einmal ein Raum fuer ihre Existenz. Umso bedeutsamer ist es, festzuhalten, dass die Herakles-Sage, welche die drei Baende der AedW strukturiert, an ihrem entscheidenden Wendepunkt Marcauers Inhalte spiegelt, dass jenem dadurch ein Resonanzboden unterlegt ist, der den Versuch solch feministischer Stalinismuskritik zu einem ganz wesentlichen Textinhalt der AedW verstaerkt. Die Genossin Marcauer wird solcherart zu einer geheimen Hauptfigur des Romans "Die Asthetik des Widerstands".
Ueberhaupt muss die AedW, in der, wie in der Realitaet, maennliche Figuren ueberwiegenden Raum beanspruchen, gegen den Strich auf die besondere Bedeutung hin gelesen werden, die in ihr dargestellte Frauenfiguren gewinnen. Das gilt fuer Karin Boye, die schwedische Schriftstellerin des utopischen Romans "Kalllocain", die Suizid begeht, wie fuer Rosalinde von Ossietzky, die als Frau ebenfalls doppeltem Exil ausgesetzt ist, da die "Maennerwelt" ihren Werten, ihrer Existenz keinen Ort zuerkennt. Es gilt besonders fuer Lotte Bischoff, die aus dem schwedischen Exil in den Berliner Unter-grund zurueckkehrt, und dort als Einzige der Verhaftung und Hinrichtung zu entkommen vermag. Eine weitere Zentralfigur der AedW ist die Mutter des Erzaehl-Ichs, die, in einer juedischen Gruppe einem Akt der Massenvernichtung schon zugedacht, schon mit blossen Haenden das eigene Grab schaufelnd, doch ueberlebt, und in einen Stupor, einen Zustand nach innen gekehrter Umnachtung verfaelllt. Sie wird, den Toten zugewandt, zur stummen Zeugin unsagbarer Vernichtung.
In einigen Textstellen ist die Mutter-Figur in Zuegen der Ge gezeichnet, der Daemonin der Erde, die Heilmann, Coppi und Erzaehl-Ich am Pergamon-Fries wahrgenommen, aber nicht ins Zentrum ihres Interesses gerueckt hatten. Dabei hatte sie, die Erdgoettin, in mehrfacher Weise die ansonsten vorherrschenden Gesetze des Frieses aufgesprengt. Die Figur, heisst es in den Eingangspassagen, durchbricht den Rahmen der Darstellung, den "Sims", der "den Kaempfenden der Boden ... war ...; "nur an einer einzigen Stelle", durch sie, "war der Grund durchbrochen" (AedW I, S. 8), da sie, aus der Erde kommend, tief in diese ragend dargestellt ist. Weiter befindet gerade sie, die Erdvebundendste, die Erdgoettin selbst, sich nicht, wie die Erdgeborenen, in Bewegung nach unten, aus dem Bild, sondern als einzige ihrer Art "stieg die Daemonin der Erde auf'. Obwohl auch sie verletzt ist, "eine Wunde klaffte vom Kinn bis zum Kehlkopf' (AedW I,S. 10), und sie fuer ihren Sohn Alkyoneus um Gnade fleht, verfuegt sie noch ueber Raum, anstatt schon der Zerstoerung anheimzufallen. Der Held Herakles wird in der "Aesthetik des Widerstands" kritisch ueberwunden, und wie auf einen Fluchtpunkt verweist der Roman auf die Hoffnungstraegerin Ge.

Vom Stein- zum "Lebensfries"

Vor Heilmann vollzieht Coppi die Konsequenz, den antiken Helden Herakles explizit aus der Rolle eines Vorbilds zu entlassen. In einem letzten Streitgespraech, unmittelbar vor der Entdeckung und Verhaftung der Konspirateure, vor dem Ende der deutschen Spionage- und Widerstandsgruppe der "Roten Kapelle", betont er:
"Wir brauchen die Mythen nicht, die uns nur verkleinern wollen, wir genuegen uns selbst." (AedW, S. 169)
Heilmann antwortet auf dieses Problem ein letztes Mal in der Todeszelle. In der Nacht vor der Hinrichtung verfasst er einen Abschiedsbrief an das Erzaehl-Ich, an die Romanleserln - "Heilmann an Unbekannt" (AedW III, S. 199 ff). Darin beschreibt er an sich selbst einen idealistischen Zug: "Ihr hattet recht, wenn ihr mich fuer einen Schwaermer hieltet, denn, das sehe ich erst jetzt ein, es war an dem Sonntagmorgen, dem dreissigsten August, etwas von einem Heiligen in mir, ich haette mich opfern wollen, fuer Harro, fuer Libertas, fuer all die andern ... (AedW III, S. 205). Die endgueltige Abkehr vom Heroismus des Herakles leitet sich in diesem Brief ab aus der Annaeherung an Libertas Schulze Boysen, eine Angehoerige der Widerstandsgruppe, die in der Verhaftung, um vielleicht Folter und Hinrichtung zu entgehen, Aussagen gemacht hatte. Heilmann akzeptiert nun dieses Gegenbild zum Maertyrertod: "War mir der Verrat von allen Schaendlichkeiten die aergste gewesen, und galt mir strengste Verlaesslichkeit als Voraussetzung fuer die Erfuellung unserer Absichten, so entband ich sie von allen ethischen Geboten, es gab ja genug andre unter uns, die sich daran hielten ..." (AedW S. 206)
Das Verhalten der Libertas wird nicht seinerseits idealisiert, aber sie bleibt eingereiht in das Spektrum des Widerstands. Ihr Lebenskonzept kann, in seiner Mangelhaftigkeit, ebenso Gueltigkeit beanspruchen, wie andere; ihm wohnen, neben den Maengeln, auch Staerken inne: "Und es mag sein, dass Libertas in vielem unserem Anliegen am naechsten kam, denn bei unsern Gespraechen ueber das kuenftige Staatswesen hatte sie immer wieder aus Rosas Schriften vorgelesen, mit der Freude dessen, der etwas zum ersten Mal sieht und seine Entdeckung verkuendet, und vielleicht haetten wir in ihr eine jener erkennen muessen, fuer die gilt, dass es Freiheit nicht gebe ohne die Freiheit des Andersdenkenden." (AedW III, S. 210) Libertas wie Herakles erliegen nur auf verschiedene Weise der Gefahr, den Herrschenden zu erliegen. An die Stelle der Einzelheldln tritt in der "Asthetik des Widerstands" das Kollektiv, in dem die verschiedenen Staerken und Schwaechen ineinanderwirken und sich positiv ergaenzen koennen.
In seiner Todeszelle ist Heilmann eingeschlossen von maechtigen Mauern, er ist wie in die Verdichtung eines maechtigen Steinblocks hineingezogen. In seinem Abschiedsbrief beschreibt er Versuche, die Gefangenschaft aufzuloesen, sich gedanklich, in seinen Visionen, ueber die Mauern hinauszulehnen - er schreibt ueber "den Stein, den wir schmecken, und der durch unsre gedankliche Anstrengung manchmal schon poroes zu werden scheint, wie Teig, in den die Finger sich hineinwuehlen koennten, und fuehlen die Haende dann doch die Haerte ..." (AedW III, S. 204). Ihm bleibt bewusst, dass solche Vision die Veraenderung der Realitaeten nicht ersetzen kann -"Das Leben aber, in welche Kerker auch immer geworfen, ist kein Traum. Ich bin kein Christ, ich lebe im Diesseits." Dennoch gewinnt ihm die Dimension des Traums entscheidende Bedeutung, in Anlehnung an Hoelderlin und Rimbaud sieht er in dessen Gesetzmaessigkeiten ganz entscheidende Merkmale der Kunst (vgl. AedW III, S. 208). Die Umrisse einer Kulturdefinition entstehen, die dem Traum zugehoerige Wahnehmungsmechanismen mit dem Bewusstsein und dem Handeln in der aeusseren Realitaet verbinden will.
Ist der "steinerne" Mythos nun also aufgeloest in den "Lebenfries" (AdW III, S. 200), so ist der Arheitsprozess am Mythos doch nicht einfach negiert, sondern in ein neues Kunstkonzept aufgehoben. Und es kann davon ausgegangen werden, dass die durch Heilmann angesprochenen Zuege eines solchen Kunstbegriff auch dem vom Surrealismus kommenden Autoren Peter Weiss eignen - in der letzten bekanntgewordenen Aeusserung Peter Weiss' zur "Asthetik des Widerstands" betonte jener, der Roman muesse "vom Element des Traums" her verstanden werden (3)..
Das Ineinandergreifen fiktiver und realer kuenstlerischer Arbeitsprozesse wird am Romanende noch weiter vorangetrieben. Im vorletzten Satz des Textes heisst es: ... "wuerde meine Hand auf dem Papier lahm werden ... ich wuerde mich vor den Fries begeben ..." (AedW III, S. 267). Damit ist das Erzaehl-Ich nicht mehr der Autor der nun folgenden Friesdarstellung, Peter Weiss selbst tritt nun der Leserln als Autor gegenueber. Der Roman sucht, sich ueber die eigenen Grenzen, die eigene Stillstellung in das reale Leben hinauszulehnen. Der Fries, um den es nun geht, ist nicht mehr steinern, stillgestellt, vielmehr bunt, laut und bewegt. Die Versteinerung ist zerbrochen, pulverisiert, und die Reste dieses zersetzenden Arbeitsprozesses sollen mit der so unheroischen, aber schwungvollen Bewegung des Hinwegfegens beseitigt werden.
Freilich kann das Buch in die Lebensrealitaet der Leserln nicht wirklich eindringen - "Der Leser muss sich eben selber da herausziehen, muss sehen, wie er aus eigener Kraft weitermachen kann, nicht?" (4). Tatsaechlich aber loeste der Text "Die Asthetik des Widerstands" seit seinem Erscheinen viele Diskussionen und Arbeitsprozesse aus, nicht zuletzt in zahlreichen Lesegruppen. Nichts ist jedenfalls falscher, als die vom buergerlichen Feuilleton kurz nach Erscheinen vorgenommene Charakterisierung als "linkem Heimatroman". Schrieb Weiss seinen Text auch aus sozialistischer Grundhaltung, geht es dem Kunstwerk doch gerade darum, solche Erfahrung zu ueberliefern, die in die politische Theoriebildung (noch) nicht eingeflossen ist. Linksdogmatischen Kritikerlnnen eines solchen kuenstlerischen Projekts hielt Wolfgang Kehn einmal die Frage entgegen, "ob die marxistische Theorie und die sozialistische Praxis der Gegenwart fuer die von Weiss ... aufgeworfenen Probleme ueberhaupt Loesungen bereithaelt, an denen Weiss aus Unkenntnis oder Unverstaendnis vorbeigeht, oder ob Weiss nicht vielmehr - unbeschadet seiner Theorieschwaeche - gerade an ungeloeste Fragen dieser Theorie und Praxis mit jenem fremden Blick ruehrt, der den bestallten "Huetern des Marxismus abhanden gekommen ist." Mit Kehn waere daran festzuhalten, dass "Dichtung als revolutionaere Praxis ... da wieder in ihr Recht" tritt, "wo die andere Moeglichkeit, die revolutionaere Aktion, in Ermangellung revolutionaerer Theorie blind bleiben muesste." (5). Peter Weiss war Literat, nicht Theoretiker, die "Aesthetik des Widerstands" ist ein Roman, kein unterhaltsameres Geschichtsbuch. Und doch, und gerade deshalb koennte es Beleg dafuer sein, welche Bedeutung die Auseinandersetzung mit Literatur fuer eine um erneuerte Theorie ringende radikale Linke gewinnen kann. (6). Solche Ressourcen des Romans drohen verlorenzugehen, wo Weiss, wie durchaus droht, zum Klassiker kanonisiert wirrd. Die sich nach Annexion der DDR in vergroesserten Deutschland vollziehende Rechtsentwicklung duerfte eher zur weitgehenden Missachtung dieses linken Autors durch das buergerliche Feuilleton fuehren. Die verklaerenden Lobeshymnen an den Exilanten Peter Weiss verstummten auch 1996 nicht. Wie auch immer: Nur, wem diese Gesellschaft mit den ihr innewohnenden Tendenzen zur Barbarei so zuwider ist, wie sie es Peter Weiss zeitlebens geblieben ist, wird den Roman "Die Asthetik des Widerstands" bis in seine Tiefenstrukturen hinein wirklich erfassen, und wird solches Erarbeiten in seine Praxis aufnehmen koennen.

be./Gruppe K, Hamburg (redaktionell ueberarbeitet)


Anmerkungen:
(1). In AK 338' S. 17 f veroeffentlichte B./Westberlin ein Interview mit Hans Coppi ueber die Gesichichtschreibung ueber diese Gruppe. Der Interviewte ist Sohn der in Ploetzensee hingerichteten Hilde und Hans Coppi; jener Hans Coppi ist Vorbild der "Coppi"-Figur der AedW.
(2). Peter Weiss in einer Eintragung in sein Notizbuch, September 1980; "Notizbuecher 1971-1980", Frankfurt am Main 1981, S. 927.
(3). ln "gleichlautenden Briefen an die Universitaeten von Marburg und Rostock" vom 2.5.1982, nach: Robert Bio-Biographisches Handbuch zu Peter Weiss' "Aesthetik des Widerstands", Hamburg 1989, S. 164.
(4). Peter Weiss im Interview mit Burkhanrdt Lindner' in: Karl-Heinz Goetze, Klaus R. Scherpe, "Die Aesthetik des Wicdrstands lesen", Westberlin 1981, S. 287.
(5). Bezog sich bei Kehn auf Hoelderlin;Kehn S. 53 und 109.
(6). Ein Text, an dem das Verhaeltnis literarischer zur historisch-materialistischer Geschichtskonstruktion vertieft diskutiert werden koennte, sind Walter Benjamins Thesen "Ueber den Begriff der Geschichte", verfasst 1940. Ein Auszug der vielleicht die denkerische Naehe zur Konstruktion der AedW aufscheinen laesst: "Vergangenes historisch artikulieren heisst nicht, es erkennen 'wie es denn eigentlich gewesen ist'. Es heisst, sich einer Erinnerung bemaechtigen, wie sie im Augenblick einer Gefahr aufblitzt. Dem historischen Materialismus geht es darum, ein Bild der Vergangenheit festzuhalten, wie es sich im Augenblick der Gefahr dem historischen Subjekt unversehens einstellt. Die Gefahr droht sowohl dem Bestand der Tradition wie ihren Empfaengern. Fuer beide ist sie ein und dieselbe: sich zum Werkzeug der herrschenden Klasse herzugeben. In jeder Epoche muss versucht werden, die Ueberlieferung von neuem dem Konformismus abzugewinnen, der im Begriff steht, sie zu ueberwaeltigen. Der Messias kommt ja nicht nur als der Erloeser; er kommt als der Ueberwinder des Antichrist. Nur dem Geschichtsschreiber wohnt die Gabe bei, dem Vergangenen den Funken der Hoffung anzufachen, der davon durchdrungen ist: auch die Toten."


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kombo(p) - 07.02.1997