Eine Revolution des Lebens – Interview mit Salih Muslim

Am Sonntag, dem 10. November 2014 besuchte Saleh Muslim Mohamed, der Ko-Vorsitzende der PYD (Partei der Demokratischen Einheit) als Repräsentant der unabhängigen Gemeinschaften von Rojava (Syrisch-Kurdistan) und ihres bewaffneten Arms, der YPG (Volksverteidigungseinheiten) und der YPJ (Frauenverteidigungseinheiten), die Niederlande.

Muslim sprach über den Kampf von Rojava gegen den Islamischen Staat (IS) und die Entwicklung von demokratischer Autonomie während der Rojava-Revolution.
Der Künstler Jonas Staal* interviewte ihn danach.

In Ihrem Vortrag heute machten Sie klar, dass die Auseinandersetzungen in Rojava nicht nur um den Kampf gegen den Islamischen Staat (IS) gehen, sondern auch als Kampf für eine spezifische Idee – für das Modell der demokratischen Autonomie. Was genau ist dieses Modell der demokratischen Autonomie, das im Herzen der Revolution von Rojava liegt?

Der Grund warum wir angegriffen werden ist das demokratische Modell, das wir in unserem Gebiet aufbauen. Viele lokale Kräfte und Regierungen wollen diese alternativen demokratischen Modelle nicht sehen, die in Rojava entwickelt werden. Sie haben Angst vor unserem System. Inmitten des Bürgerkriegs in Syrien haben wir drei unabhängige Kantone in der Rojava-Region geschaffen, die nach demokratischer, autonomer Ordnung funktionieren. Zusammen mit den ethnischen und religiösen Minderheiten der Region, mit AraberInnen, TurkmenInnen, AssyrerInnen, ArmenierInnen, ChristInnen, KurdInnen, haben wir eine kollektive politische Struktur für diese Kantone verfasst - unseren Gesellschaftsvertrag. Wir haben einen Volksrat aufgebaut mit 101 RepräsentantInnen von allen Kooperativen, Komitees und Versammlungen, die jeden unserer Kantone leiten. Und wir haben das Modell der Ko-Präsidentschaft entwickelt- jede politische Einheit hat jeweils eine weibliche Präsidentin und einen männlichen Präsidenten- und eine Quote von 40% Gender-Repräsentation, um die Geschlechtergleichheit in allen Formen des öffentlichen Lebens und der politischen Repräsentation durchzusetzen. Im Wesentlichen haben wir eine Demokratie ohne den Staat entwickelt. Das ist eine einzigartige Alternative in einer Region, die heimgesucht wird von der Freien Syrischen Armee mit ihren internen Konflikten, vom Assad-Regime und dem selbsternannten Islamischen Staat. Ein anderer Ausdruck für dieses Konzept des Demokratischen Konföderalismus oder der Demokratischen Autonomie heißt radikale Demokratie, also die Menschen zu mobilisieren um sich selbst zu organisieren und selbst zu verteidigen mittels Volksarmeen wie den Volksverteidungseinheiten (YPG) und den Frauenverteidigungseinheiten (YPJ). Wir praktizieren dieses Modell der Selbstverwaltung und Selbstorganisation ohne den Staat, so wie wir es sagen. Andere Leute werden von Selbstverwaltung in der Theorie sprechen, doch für uns ist die Suche nach Selbstverwaltung unsere tägliche Revolution. Frauen, Männer, alle Bereiche unserer Gesellschaft sind nun organisiert. Der Grund dafür, dass Kobanê weiter standhält, sind diese Strukturen, die wir aufgebaut haben.

In Ihrem Vortrag kamen die Worte „Demokratie“, „Freiheit“ und „Menschlichkeit/Menschheit“ sehr oft vor. Können Sie uns erklären, was Sie als den fundamentalen Unterschied betrachten zwischen kapitalistischer Demokratie und dem, was sie gerade als „demokratische Autonomie“ beschrieben haben?

Jeder weiß wie die kapitalistische Demokratie um die Stimmen spielt; es ist ein Wahlspiel. An vielen Orten drehen sich Parlamentswahlen nur um Propaganda, sie richten sich an die unmittelbaren Eigeninteressen eines Abstimmenden. Bei demokratischer Autonomie geht es um das Langfristige. Es geht darum, dass Menschen ihre Rechte verstehen und ausüben. Die Gesellschaft dazu zu bringen, dass sie sich politisiert, das ist der Kern des Aufbaus von demokratischer Autonomie. In Europa finden wir eine Gesellschaft, die nicht politisiert ist. Bei politischen Parteien geht es nur um Überzeugungsarbeit und individuelle Vorteile, nicht um tatsächliche Emanzipation und Politisierung. Echte Demokratie beruht auf einer politisierten Gesellschaft. Wenn Sie jetzt nach Kobanê gehen und die KämpferInnen der YPG und der YPJ treffen, werden Sie feststellen, dass die genau wissen, warum sie kämpfen und für was sie kämpfen. Die sind nicht dort für Geld oder Vorteile. Sie sind dort für Grundwerte, die sie gleichzeitig ausüben. Es gibt keinen Unterschied zwischen dem, was sie tun und dem, was sie repräsentieren.

Aber wie kann eine Gesellschaft bis auf dieses Niveau des politischen Bewusstseins politisiert werden?

Wir müssen Bildung schaffen, vierundzwanzig Stunden am Tag, um Diskutieren zu lernen, um zu lernen, wie kollektiv entschieden werden kann. Wir müssen die Idee ablehnen, dass wir auf irgendeinen Anführer warten sollen, damit der kommt und den Leuten sagt, was sie tun sollen. Stattdessen gilt es zu lernen, wie Selbstverwaltung als eine kollektive Praxis auszuüben ist.
Im Umgang mit den täglichen Angelegenheiten, die uns alle angehen: die müssen erklärt werden, kritisiert und gemeinsam geteilt. Von der Weltpolitik der Region bis zu einfachen menschlichen Grundwerten werden alle Angelegenheiten auf kommunaler Ebene diskutiert. Es muss eine gemeinschaftliche Bildung geben, damit wir wissen, wer wir sind, warum wir mit bestimmten Feinden konfrontiert sind und für was wir eigentlich kämpfen.

Wer ist der Ausbilder in einer Gemeinschaft, die sich im Krieg befindet und vor einer humanitären Krise steht?

Die Leute selbst bilden sich gegenseitig. Wenn man zehn Menschen zusammensetzt und sie nach der Lösung für ein Problem fragt oder ihnen eine Frage vorstellt, dann kümmern die sich gemeinschaftlich um eine Antwort. Ich glaube, dass sie auf diese Art die richtige finden. Die gemeinschaftliche Diskussion wird sie politisieren.

Was Sie als das Herz der demokratischen Autonomie beschreiben ist dem Wesen nach das Modell der Versammlung.

Ja, wir haben Versammlungen, Komitees; wir haben jede mögliche Struktur zur Ausübung der Selbstverwaltung in allen Bereichen unserer Gesellschaft.

Was betrachten Sie als die Voraussetzungen, damit ein solches demokratische Experiment stattfinden kann?

Es ist ein langfristiger Prozess. Ich selbst bin seit Jahrzehnten in dieser Bewegung, in diesem Kampf. Ich war im Gefängnis, ich wurde gefoltert. Also wissen die Leute aus meiner Gemeinschaft, warum ich das mache, was ich mache. Ich bin dort nicht um Geld einzusammeln oder um persönlich zu profitieren. Der Grund, warum mich damals die syrische Regierung eingefangen und gefoltert hat, war, dass ich die Leute unterrichtet habe. Und ich bin nur eine Person, so viele Freunde haben das selbe wie ich durchgemacht. Viele sind zu MärtyrerInnen geworden, da sie durch die Folter des Regimes umgekommen sind. Demokratische Autonomie ist keine Idee, die in einem Tag umgesetzt werden kann; es ist eine Herangehensweise, ein Prozess, der Erklärung und Bildung braucht. Es ist eine Revolution, die alles von unseren Leben erfasst.

Es gibt viele StudentInnen, Intellektuelle und KünstlerInnen, die nach Rojava schauen, die nach Kobanê schauen und erkennen, dass das Versprechen eines staatenlosen Internationalismus auf eine gewisse Weise seinen Weg zurück in unsere Zeit gefunden hat. Was sagen Sie den Leuten, die nicht in Rojava sind, jedoch deren Revolution als einen Horizont sehen. Was können die tun?

Also, geht nach Kobanê. Trefft die Leute und hört ihnen zu, versteht, wie sie ihr politisches Modell zustande brachten. Sprecht mit der YPG und YPJ und erfahrt, was die machen. Fragt sie, trefft deren Gesellschaft. In naher Zukunft werden es die Bedingungen erlauben, dass Ihr hingeht, und ihr könnt vom Modell der demokratischen Autonomie erfahren, das unter den schlimmsten Umständen verteidigt wurde, die man sich vorstellen kann. Unter Lebensgefahr, mit Mangel an Wasser und Nahrung. Geht und sprecht mit den Menschen und Ihr werdet verstehen, wie und warum sie es getan haben. Und wie unsere Gesellschaft als Ergebnis dessen aussieht.

Glauben Sie, dass demokratische Autonomie ein Modell sein könnte, welches auf globaler Ebene eingeführt wird?

Ich glaube, dass die demokratische Verwaltung, die wir eingeführt haben, eine ist, an der alle fühlen, dass sie beteiligt sind, also ja, das ist ein Modell für die Welt. Es gab viele Vorurteile über unsere Revolution, aber wenn Leute von außerhalb zu Besuch kamen und sich mit unseren Gemeinschaften zusammensetzten, begannen sie zu glauben, dass demokratische Autonomie die richtige Sache war. Sogar Menschen aus Damaskus haben sich unserer Revolution angeschlossen. Jede und jeder kann kommen und selbst sehen, dass unsere Revolution täglich erkämpft und umgesetzt wird. Es ist eine Revolution des Lebens, und als solche ist unser Kampf ein Kampf für die Menschheit/Menschlichkeit.

Original des Interviews hier: http://tenk.cc/2014/11/a-revolution-of-life/

(*) Jonas Staal ist bildender Künstler und schreibt gerade an seiner Doktorarbeit zu „Kunst und Propaganda im 21. Jahrhundert“ an der Universität Leiden. Er ist Gründer der künstlerischen und politischen Organisation „New World Summit“, http://newworldsummit.eu die sich für Organisationen einsetzt, die aus demokratischen Prozessen ausgeschlossen worden sind.

TENK, 10.11.2014, ISKU

ISKU | Informationsstelle Kurdistan