Der Frieden weckte Hoffnungen bei den Familien, aber für die Kinder hat sich nicht viel verändert

Interview mit Prof. Nükhet Sirman

Die Zahl der Jugendlichen, die sich der PKK anschließen, hat trotz des Friedensprozesses nicht abgenommen, sagt Professor Nükhet Sirman von der Frauenfriedensinitiative. „Die Familien, die Aufrufe starten, um ihre Kinder zurückzubekommen, hatten Hoffnung auf Veränderungen, aber die derzeitigen Gegebenheiten habe sich für die Kinder nicht verändert“, sagt Sirman, Professorin für Anthropologie.

Nach Nükhet Sirman, Professorin für Anthropologie an der Boğaziçi-Universität, sahen die Familien, deren Kinder sich der verbotenen PKK angeschlossen haben, wegen des Friedensprozesses eine Möglichkeit zur Veränderung und haben deswegen ihre Stimme erhoben, um ihre Kinder zurückzubekommen.

Die Hoffnung auf Veränderung fehlt jedoch bei der jüngeren Generation, die sich entschieden hat, in die Berge zu gehen, weil sich die gegenwärtigen Bedingungen für sie nicht verändert haben, sagt Sirman, Mitglied der Frauen für den Frieden, einer Initiative, die das Ziel hat, Frauen in den Friedensprozess einzubeziehen.

Wie schätzen Sie die aktuelle Entwicklung bezüglich der „Jugendlichen in den Bergen“ ein? Der Staat sagt, sie seien entführt worden, was die PKK bestreitet. Doch wir erleben das erste Mal, dass Mütter Proteste organisieren, um ihre Kinder zurückzubekommen.

Ich habe 2010 in kurdischen Wohnvierteln von Mersin Feldstudien durchgeführt. Während der Semesterferien gingen 134 Jugendliche aus Mersin in die Berge. Ich war zu Besuch bei einer Familie als es plötzlich ein Tumult ausbrach. „Wir können Fırat nicht finden“, hieß es. Sofort dachten alle, dass er sich der PKK angeschlossen habe. Zwei Tage darauf stellte sich heraus, dass er in Istanbul war. Er war durch eine Prüfung gefallen und aus Furcht vor dem Vater weggelaufen.

Dies zeigt, dass Familien ständig befürchten, dass ihre Kinder weggehen könnten. Sie gehen seit 30 Jahren. Der Grund, warum die Familien heute darüber sprechen, ist der Friedensprozess. Ich habe mit diesem jungen Mann gesprochen: Sein Schulalltag war geprägt von Zusammenstößen. Er sagte, wenn Du zur Schule gehst, müssen sich alle Jugendlichen irgendwann entscheiden, ob sie gehen oder bleiben sollen.
Ich persönlich glaube nicht, dass die PKK irgend jemanden entführt hat. Es bestehen Zweifel daran, ob die Jugendlichen im letzten Fall die notwendige geistige Reife haben. Diese Kinder, viele von ihnen aus Mersin und Diyarbakır, arbeiten unter furchtbaren Bedingungen wenn sie neun oder zehn Jahre alt sind. Es ist lächerlich zu sagen, dass sie getäuscht wurden, damit sie weggehen. Diese Kids bekämpfen die Polizei tagtäglich. Sie leben in einer anderen Welt. Welches Leben wird ihnen geboten, damit sie nicht in die Berge gehen? Wie sieht ihre Zukunft aus? Wie viele werden die Schule abschließen und die Universität besuchen können?

Wenn die Familien nicht möchten, dass ihre Kinder in die Berge gehen, warum haben sie ihre Stimme nicht früher erhoben?

Wie hätten sie das mitten im Krieg tun sollen? Dazu gab es keine Möglichkeit. Sie wollten ihre Kinder immer zurück. Zurzeit finden keine Kämpfe statt. Es ist leichter, solche Aufrufe während eines Waffenstillstands zu machen.

Ein Jugendlicher, der [aus den Bergen] zurückgekommen war, wurde zu einer Haftstrafe von 47 Jahren verurteilt. Wenn du das weißt und dein Kind zurückkommen möchte, würde ich auch, um es vor einer Inhaftierung zu schützen, zur Polizei gehen und behaupten, mein Kind ist entführt worden, Solange es kein Gesetz gibt, das den Jugendlichen eine Wiederaufnahme in die Gesellschaft ermöglicht, werden sie sagen, dass ihre Kinder entführt wurden. Die Aufrufe werden jetzt gemacht, weil die Eltern auf Veränderungen hoffen, weil sie ein Gelegenheitsfenster gefunden haben.

Man könnte erwarten, dass die Zahl derjenigen, die in die Berge gehen, während eines Friedensprozesses abnimmt. Das scheint jedoch nicht der Fall zu sein.

Überhaupt nicht. Seit Beginn des Prozesses wird ihre Zahl auf 2000 geschätzt. Zunächst gibt es einen Waffenstillstand, aber nichts ist konkret. Die Situation hat sich für die Jugendlichen nicht geändert: die Erniedrigungen, die sie in den Städten erfahren, halten an. Auch Armut ist ein großes Problem. Sie sehen für sich keine Zukunft.

Der Friedensprozess hat nicht viel für die Jugend verändert, aber er hat bei Eltern Hoffnungen geweckt?

Ja, absolut.

Wo steht der Friedensprozess Ihrer Meinung nach derzeit?

Wir wissen, dass Friedensprozesse überall auf der Welt sehr viel Zeit brauchen, um in Gang zu kommen und umgesetzt zu werden. Im Durchschnitt wird ein Friedensprozess fünf Mal aufgehoben bis er schließlich funktioniert.

Das Gute an diesem Prozess ist, dass der Waffenstillstand unter allen Umständen eingehalten wurde. Keiner hat Waffen eingesetzt und es scheint auch niemand darauf hin zu wirken. Das heißt, dass sich sowohl die türkische Regierung als auch die PKK dem Waffenstillstand verpflichtet fühlen und das ist sehr gut.

Friedensprozesse müssen legalisiert werden, sie müssen transparent und gesellschaftlich erwünscht sein, andernfalls werden sie sich nicht durchsetzen und scheitern. Ein weiterer Grund für ein mögliches Scheitern ist die Unfähigkeit, die Trauer der Frauen zu berücksichtigen. Friedensprozesse, welche die Trauer der Frauen nicht berücksichtigen, werden nicht erfolgreich sein. Frauenkörper werden zu Schlachtfeldern, aber nicht nur ihre Körper, auch ihre Seelen werden zerschmettert.

Ihre Seelen müssen geheilt werden. Solange dies nicht geschieht, fühlen sich weder Frauen noch Männer bestätigt. Wir haben auch festgestellt, dass Frauen nicht immer auf der Seite der Verlierer stehen, da sie auch sehr an Stärke gewinnen. In der PKK sind ebenso viele Frauen wie Männer organisiert und diese Frauen werden nicht wieder an den heimischen Herd zurückkehren.

Befreiende Wirkung auf kurdische Frauen

Letztes Jahr erklärten uns Frauen in Lice, dass die PKK nicht bloß eine Kraft ist, die die türkische Armee bekämpft, sondern eine Kraft, die Frauen in ihrem täglichen Leben unterstützt. Eine Frau sagte: „Solange meine Tochter da oben mit ihrer Waffe ist, solange bin ich hier stark.“ Die hiesige Präsenz der PKK war eine Kraft, die die sozialen Beziehungen reguliert hat.

Es gab weniger Diebstähle und so gut wie keine Kämpfe um Ländereien. Als die PKK ihren Rückzug begann, bekamen wir in Lice Geschichten über Leute zu hören, die wegen Land miteinander kämpften. In Doğu Beyazıt begannen die Ehemänner zu fragen: „Musst du so oft zu den Parteiversammlungen gehen? Warum bleibst du nicht zuhause und passt auf die Kinder auf?“ Die PKK ist eine Kraft, die die Frauenrechte schützt.

Sie behaupten also, dass es wegen des Rückzugs der PKK Rückschritte bei den Frauenrechten gegeben hat?

Der Rückzug hat die Beziehung zwischen den Streitkräften und der lokalen Bevölkerung verändert. Davor konnten die Streitkräfte nicht in das Alltagsleben der Menschen vordringen: sie bleiben in ihren Kasernen und waren wenig sichtbar. Jetzt haben sie begonnen herauszugehen. Das hat zur Folge, dass Frauen belästigt werden. Und sie bauen diese großen Gebäude (Kalekol). Eine Frau sagte uns: „Wenn wir früher in unserem Garten arbeiteten, sagte mein Mann ´arbeite unter den Bäumen`. Nicht einmal das ist mehr möglich. Sie können uns von überall arbeiten sehen.“ Wir haben viele Geschichten über die Kalekols (Kasernen) gehört. Die Menschen schlafen gerne auf den Dächern, wie können sie das tun, wenn über ihnen eine Kaserne steht und sie von dort beobachtet werden? Leute aus Lice und Tunceli sagten uns, dass sie sich durch die Kalekols gestört fühlen.

Also hat der Friedensprozess widersprüchliche Aspekte, positive und negative.

Selbstverständlich, das ist normal. Das habe wir bei bei den meisten Friedensprozessen erlebt. Darum gibt es so viele Rückschläge. Sie gehen zu Bruch und müssen erneut begonnen werden. Das geschieht (derzeit) in der Türkei.

Wovor möchten Sie hinsichtlich des Friedensprozesses warnen?

Zuerst: Sicherheitsmaßnahmen müssen human und geschlechtersensibel sein. Baut eure Kalokols nicht so, dass Soldaten die Frauen angaffen können und so neue Spannungen aufgebaut werden. Wenn sich die PKK zurückzieht, müsst ihr das Sicherheitspersonals reduzieren und nicht aufstocken.

Den Frauen das Kurdischsprechen zu erlauben ist eine geschlechtersensible Sicherheitsmaßnahme. Die Legalisierung aller weiteren Schritte ist eine andere. Zurzeit hat nur der [Geheimdienst] MIT ein Gesetz, das seine Aktivitäten legalisiert, aber niemand sonst.

Wir müssen eine Wahrheitskomission ins Leben rufen. Eine Wahrheitskomission, die sich mit den Kriegsverbrechen befasst. Eines der größten Probleme ist die Straflosigkeit, die eine Rehabilitierung verhindert.

Nükhet Sirman ist Professorin für Anthropologie am Fachbereich Soziologie der Boğaziçi- Universität. Sie forschte zu Frauen- und Familien-Betrieben in der Baumwollproduktion in der Türkei, zur feministischen Bewegung und verschiedenen Aspekten von Geschlechterfrage und Nationalismus. Sie ist Mitherausgeberin von „Türkischer Staat, türkische Gesellschaft“ und hat zahlreiche Artikel über Liebe und Nationalismus, Lebensgeschichten von Frauen, Geschlecht und Staatsbürgerschaft geschrieben. Vor kurzem hat sie eine Studie unter kurdischen [Binnen-MigrantInnen in der Provinz Merdin abgeschlossen und arbeitet an einem Buch über das Leben nach erzwungener Migration. Als Feministin arbeitet sie für die Frauenbibliothek, KADER (eine NGO, die sich für mehr weibliche Parlamentsabgeordente einsetzt). Nükhet Sirman ist Mitglied der Frauenfriedensinitiative.

Hürriyet Daily News, 09.06.2014

ISKU | Informationsstelle Kurdistan