Kalkan: Wenn es so weitergeht, wird die Guerilla aktiv in den Prozess
eingreifen
Im Gespräch mit
der Nachrichtenagentur Firat (ANF) erklärte das Exekutivratsmitglied
der Gemeinschaft der Gesellschaften Kurdistans (KCK) Duran Kalkan, dass
bei einem Beharren der türkischen Regierung auf ihrem derzeitigen Kurs,
die Guerillakräfte der HPG (Volksverteidigungskräfte) aktiv in den gegenwärtigen
Prozess eingreifen könnten. „Wenn tatsächlich keine Schritte in Richtung
einer wirklichen Lösung getätigt, keine Antworten auf die Lösungsvorschläge
unseres Vorsitzenden Apo (Abdullah Öcalan) gegeben und der Terror gegen
die Zivilbevölkerung aufrechtgehalten werden, wird sowohl die Guerilla
als auch das Volk aktiv in den Prozess eingreifen“, so Kalkan. Auch
könne die KCK keinen vermeintlichen Friedenskurs der türkischen Regierung
anerkennen, wenn dieselbe Regierung in Rojava (Nordsyrien) gegen die
dortigen Selbstverwaltungsstrukturen einen Kriegskurs fahre.
Im Folgenden geben wir eine gekürzte Version des Interviews mit Duran
Kalkan, das im Original am 08. Mai 2014 auf Firatnews erschienen ist,
wieder:
In den vergangenen
Tagen hat eine Delegation der BDP und HDP erneut Herrn Öcalan auf der
Gefängnisinsel Imralı besucht. Einige Teile der dort geführten Gespräche
wurden in die mediale Öffentlichkeit getragen. Eine wichtige Aussage Herrn
Öcalans aus diesem Gespräch war, dass in der näheren Zukunft sowohl tiefgreifende
Verhandlungen als auch Auseinandersetzungen beginnen könnten. Können Sie
etwas dazu sagen?
Wir befinden uns in einer ernstzunehmenden und äußerst kritischen Phase.
Die ungelösten gesellschaftlichen Probleme kulminieren und sorgen in der
Gesellschaft für eine sehr gereizte Grundstimmung. Gleichzeitig verblasst
die Hoffnung auf eine Lösung dieser Fragen. Besser gesagt, wird dafür
gesorgt, dass die Hoffnung verblasst. Wir sagen nicht, dass es gar keine
Hoffnung gibt, denn es gibt Lösungsprojekte und es werden auch Bemühungen
für die Lösung aufgebracht. Doch wenn es um die Umsetzung der Lösungsprojekte
geht, tauchen die Probleme auf.
Denn gewisse Kreise versperren penetrant die Wege zu einer Lösung. Sie
profitieren nämlich vom Umstand der Lösungslosigkeit. Sie wollen, dass
die Widersprüche und das Konfliktpotential erhalten bleiben. Und die kurdische
Frage ist die schwerwiegendste gesellschaftliche Frage der Türkei. (…)
Diese Kreise haben nicht nur Angst, dass ihre Profitquellen bei einer
Lösung versiegen, sie befürchten zugleich, dass all ihre dreckigen Spiele
der Vergangenheit an die Öffentlichkeit gelangen werden.
Wer sind diese
Kräfte, von denen Sie sprechen?
Es gibt sowohl globale als auch regionale Kräfte, die sich der Lösung
in den Weg stellen. Unser Vorsitzender hat erklärt, dass er unter den
Bedingungen auf der Gefängnisinsel Imralı nicht mehr für eine Lösung tun
kann, als er es bisher getan hat. Er hat seine Projekte für die Lösung
der Frage offengelegt. Diese Projekte sind im Sinne aller Beteiligten.
Doch die Kräfte, die gegen die Lösung sind, führen ihren Kampf weiterhin
fort.
Sie reden zwar davon,
dass gewisse Kräfte gegen den Prozess agieren, doch die AKP-Regierung
gibt beispielsweise an, dass sie wichtige Schritte für die Lösung der
Frage getätigt hat.
Zu der Haltung der AKP hat sich unsere Bewegung klar geäußert. Die AKP
sagt, dass sie Schritte getan habe, die bisher noch niemand gewagt habe.
Aber darauf sollte niemand reinfallen. Jede andere Regierung hätte im
bisherigen Prozess mehr Schritte als die AKP getätigt. Sie verbreiten
ein Bild in der Öffentlichkeit, als ob sie aus eigenem Willen Schritte
in Richtung einer Lösung getätigt hätten! Wir sehen die AKP mit ihrer
derzeitigen Haltung eher als Hindernis für eine Lösung. Sie hat die ganze
Zeit auf die Wahlen verwiesen und erklärt, dass danach Schritte folgen
würden. Nun sind fast 40 Tage seit den Wahlen vergangen und kein Schritt
wurde getan. Der AKP geht es allein um die Frage, wie sie die nächsten
Wahlen gewinnen und ihre Macht aufrechterhalten kann. Aus diesem Grund
erwarten wir von der AKP rein gar nichts. (…)
Dem Geheimdienst
wurden weiträumige Operationsmöglichkeiten gegeben
Die türkische
Regierung gibt an, mit dem neuen Geheimdienstgesetz den Gesprächen mit
Herrn Öcalan auf Imralı einen rechtlichen Rahmen gegeben zu haben. Wie
sehen Sie das?
Beim letzten Besuch auf Imrali hat unser Vorsitzender Apo klar zum Ausdruck
gebracht, dass dieses Gesetz inhaltlich nichts mit seiner Forderung für
einen rechtlichen Rahmen des Prozesses zu tun hat. Lassen wir einmal den
Prozess bei Seite, dieses Gesetz gibt dem türkischen Geheimdienst MIT
das Recht, in der Türkei und überall auf der Welt schmutzige Operationen
durchzuführen. Der MIT ist nun mit dem Recht ausgerüstet, politische Gegner
überall zu liquidieren. Es stellt sich also die Frage, ob sie das Gesetz
für den Prozess oder für den Kampf gegen uns erlassen haben? Hat der MIT
Pläne Funktionsträger der KCK und der PKK zu liquidieren? Diese Fragen
beschäftigen uns.
Ich wiederhole es noch einmal, mensch sollte sich nicht täuschen lassen.
Das sind keine Schritte im Sinne einer Lösung, sondern sie bezwecken das
genaue Gegenteil. Die AKP setzt nur das minimalste an Schritten um, zu
denen sie sich gezwungen sehen. Zugleich versucht sie, den gesamten Prozess
für ihren eigenen Machterhalt zu instrumentalisieren und auszunutzen.
(…)
Bei den KCK-Prozessen
wurde ein Teil der kurdischen PolitikerInnen aus dem Gefängnis entlassen.
Bewertet Sie das nicht als ein positives Signal?
Alle Angeklagten in den Ergenekon-Prozessen wurden freigelassen. Bei den
KCK-Gefangenen ist das nur teilweise geschehen. In beiden Verfahren hätte
dasselbe Gesetz, das die Angeklagten in die Freiheit führen sollte, angewendet
werden müssen. Das ist nicht geschehen. Für die KurdInnen gelten also
dieselben Gesetze nicht.
Man muss sich doch zunächst einmal fragen, weshalb diese Menschen überhaupt
festgenommen worden sind? Was haben sie getan? Was rechtfertigt eine Haftzeit
von vier, fünf oder sechs Jahren? Die Festnahmegründe sind alle politischer
Natur. Und deshalb ist es auch nicht weiter verwunderlich, dass diese
Menschen zum Teil selbst nach den faschistischen Gesetzen der Türkei zu
Unrecht solange in Haft gehalten werden. So wurden Menschen wie Hatip
Dicle beispielsweise nicht freigelassen. Hatip Dicle war der Vorsitzende
des Kongresses für eine demokratische Gesellschaft (DTK). Das Beispiel
von Hatip Dicle soll Menschen davor abschrecken, Aufgaben innerhalb des
DTK zu bekleiden. (…)
Der Krieg
der türkischen Regierung hat nie aufgehört
Trotz Lösungsprozess
ist die Lage in der Grenzregion zwischen Nord- und Südkurdistan angespannt.
In den Meder-Verteidigungsgebieten (von der PKK kontrollierte Gebiete
in Südkurdistan) unternehmen die Heron-Drohnen Aufklärungsflüge. Ist die
Gefahr für ein Aufflammen der bewaffneten Auseinandersetzungen gegeben?
Selbstverständlich besteht solch eine Gefahr. Es wäre richtiger zu fragen,
ob es irgendeinen Umstand gibt, der mögliche Auseinandersetzungen unterbinden
kann. Wir sehen weder irgendein Lösungs- oder Demokratisierungsprojekt
der türkischen Regierung, noch sehen wir bei ihr einen Willen hierzu.
Wir brauchen noch nicht einmal nach Kurdistan zu schauen. Am 1. Mai hat
die AKP in Istanbul, in Taksim, ihre Haltung wieder eindrucksvoll zur
Schau gestellt. Die türkischen Sicherheitskräfte haben haargenau wie eine
faschistische Miliz agiert. Auch bei den Wahlen haben wir gesehen, dass
die Regierung mit ihrem Polizei- und Militärapparat Wahlfälschungen im
großen Stil durchgeführt hat. Unter dem Deckmantel einer scheinbaren Demokratisierung
tätigt die AKP ausschließlich Schritte, die ihre Machtbasis absichern
und stärken. Ansonsten ist nichts zu sehen.
Aus unserer Sicht hat der Krieg der türkischen Regierung nie aufgehört.
Gegen die Gesellschaft wird ein faschistischer Polizeikrieg, ein Polizeiterror
geführt. Gegen die KurdInnen wird ein Sonderkrieg geführt, ein kultureller
Genozid, der nie gestoppt worden ist. Ob dieser Krieg sich ausweitet oder
nicht, hängt von der Haltung der KurdInnen, von der Haltung der werktätigen
Bevölkerung ab. Die KurdInnen haben beispielsweise ihre Haltung gegen
neue Militärstationen durch verschiedene Proteste Ausdruck verliehen,
und es ist zu Ausschreitungen gekommen. (…) Es ist also nicht so, dass
es keine faschistischen Angriffe der AKP geben würde?
Und was ist mit
dem Waffenstillstand?
Man kann von keinem Waffenstillstand sprechen. Wir haben es mit einer
offenen Situation zu tun, die sich in jede Richtung entwickeln kann. Und
diese Entwicklung hängt mit der Haltung und den Bemühungen der Parteien
zusammen.
Heißt das, dass die
Guerilla aktiv werden kann, wenn die Angriffe der anderen Seite weitergehen?
Ja, das heißt es. Wenn tatsächlich keine Schritte in Richtung einer wirkliche
Lösung getätigt, keine Antworten auf die Lösungsvorschläge unseres Vorsitzenden
Apo gegeben und der Terror gegen die Zivilbevölkerung aufrechtgehalt werden,
wird sowohl die Guerilla als auch das Volk aktiv in den Prozess eingreifen.
Zumal gerade in Kurdistan auf jedem Hügel eine Militärstation errichtet
und so eine militärische Hegemonie errichtet werden soll. Wie kann auf
solch eine Entwicklung nicht reagiert werden? (…)
AKP ist Kriegspartei
in Syrien
Die Entwicklungen
im Lösungsprozess werden oftmals in Zusammenhang mit den Entwicklungen
in Rojava (Nordsyrien) bewertet. Welche Position vertritt Ihrer Meinung
nach die türkische Regierung in Bezug auf Rojava. Steckt sie hinter den
dortigen Angriffen?
Wenn wir über die Position der Türkei hinsichtlich Rojava und Syrien sprechen,
müssen wir uns die Entwicklungen seit 2011 vor Augen halten. Und die AKP-Regierung
hat von Anfang an offen gesagt, dass sie, was Syrien angeht, nicht unabhängig
sondern eine Kriegspartei ist. Auch zu Rojava hat sie gesagt, dass die
Entwicklungen dort scheinbar ihre nationale Sicherheit gefährden würde.
Ihre Politik gegenüber Rojava hat sie dementsprechend entwickelt und geführt.
Sie haben offene Angriffe gegen Syrien durchgeführt. Sie haben ein syrisches
Kriegsflugzeug abgeschossen. Auch Syrien hat einen türkischen Jet abgeschossen.
Zudem sind vermutlich 70 bis 80% der bewaffneten Kämpfer, die gegen das
Assad-Regime kämpfen, über die Türkei nach Syrien gelangt. Viele Gruppen
wurden in der Türkei bewaffnet und ausgebildet. Die Türkei hat die Rolle
eines Rückzugs- und Aufmarschgebietes in diesem Krieg eingenommen. Weil
sie Rojava als Gefahr für sich betrachtet, hat sie von Anfang an tausendundeinen
Plan ins Leben gerufen, um die Revolution dort zu ersticken. (…) Doch
unsere Ansicht hierzu ist klar: In Nordkurdistan kann noch nicht einmal
über einen Frieden gedacht werden, während in Rojava Krieg geführt wird,
der dann noch von derselben Partei mitgeführt wird, die sich im Norden
als Friedenspartner ausgibt. (…)
ANF, 08.05.2014,
ISKU
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