Südkurdistan: Regierungskrise oder Systemkrise?

Nihat Kaya – Seit den Parlamentswahlen in Südkurdistan vom 21. September sind mittlerweile fast fünf Monate vergangen. Noch konnte bis dato allerdings keine Regierung gebildet werden. Und wie lange es noch dauern wird, bis dies geschieht, ist nicht abzusehen. Doch es ist nicht nur diese politische Frage, die die Menschen in Südkurdistan derzeit beschäftigt. So wird das Leben für die Bevölkerung immer teurer, die Arbeitslosenzahlen steigen an, viele Arbeitgeber zahlen derzeit die Löhne ihrer Arbeiter nicht aus und die Banken verfügen kaum über Anlagen. Die wirtschaftlichen Fragen bedrücken derzeit noch mehr als die politischen Fragen die Bevölkerung. Die Stimmung ist geladen.
Auch deshalb ist es am vergangenen Wochenende überall in Südkurdistan zu Protesten gekommen, nachdem die Zivilgesellschaft und politische Kreise zu Protesten gegen diese Umstände aufgerufen hatten. Diese Proteste tragen zwar den Charakter einer Warnung gegenüber den politischen Parteien, aber wie die Krise überwunden werden kann, weiß derzeit niemand so Recht.
Aus mathematischer Sicht erscheint es nicht besonders schwer für die KDP, die Regierung zu bilden. Zwar kann sie mit 38 Sitzen in dem 111 köpfigen Parlament der Autonomen Region Kurdistan nicht alleine die Regierung bilden, aber in einer Koalition mit der Goran Bewegung oder der PUK würde ihr das gelingen. Selbst wenn die KDP mit diesen beiden Parteien keine Koalitionsvertrag schließen kann, könnte sie es, wenn sie wollte, mit den Vertretern der der religiösen und ethnischen Minderheiten im Parlament und der islamischen Yekgurtiye Islami Partei versuchen. Es ist also nicht so, dass die KDP keine Optionen hätte eine Koalition zu bilden. Das Problem scheint vielmehr darin zu liegen, dass sie versucht, eine Koalition mit allen Vertretern im Parlament zu bilden. Also eine Regierung zu bilden, zu der es keine Opposition gibt.
Dass die Bildung solch einer Regierung viel Zeit vereinnahmen wird, ist offensichtlich. Aber die Uneinigkeiten zwischen den politischen Parteien keimen nicht, wie es die südkurdischen Medien gerne darstellen, aus der Frage, wer welchen Ministerposten ergattern wird. Das Problem keimt aus einem strategischen Abkommen zwischen der KDP und der PUK vom Jahr 2007, als diese beiden Parteien noch die einzigen bestimmenden politischen Kräfte der Region waren. Durch dieses Abkommen wurden die langjährigen bewaffneten Auseinandersetzungen zwischen den beiden Parteien beendet. Offiziell wurde eine Einheitsregierung aus beiden Parteien infolge dieses Abkommens gebildet, de facto verschleierte das Papier allerdings eine beschlossene Spaltung der Region. So wurden Dohuk und Hewler unter die KDP Domäne gestellt, während Sulemaniye fortan unter der Kontrolle der PUK stand. Es wurden durch das Abkommen also zwei Regierungen für die Region, verschleiert im Gewand eines kurdischen Einheits- und Demokratieabkommens, geschaffen. Die Folge war eine „Demokratie“ für Südkurdistan, die tatsächlich nicht mehr als die Oligarchie zweier Parteien war.
Aktuell haben wir es also in Südkurdistan mit einer aus der KDP und der PUK zusammengesetzten oligarchischen Struktur zu tun, die sich über den Willen der Bevölkerung der Region setzt. Obwohl die Herrschaften der Oligarchie sich nicht den Wahlen stellen, nehmen sie eine höhere Stellung als die von der Bevölkerung gewählten Personen ein. So wird der Posten des irakischen Präsidenten, des Präsidenten der Autonomen Region Kurdistans, des Ministerpräsidenten der Region sowie seiner Stellvertreter, die Gouverneure der Provinzen und weitere Schlüsselpositionen nicht durch die Bevölkerung bei den Wahlen bestimmt, sondern hinter geschlossenen Türen im Konsens zwischen der KDP-PUK Oligarchie bestimmt.
Der eigentliche Grund, weshalb derzeit keine Regierung gebildet werden kann, liegt an dieser Struktur. Als bei den Wahlen am 21. September die Goran-Bewegung zweitstärkste Kraft wurde, wurde die Zweiparteien-Herrschaft zwischen PUK und KDP an ihren Grundfesten erschüttert.
Auch wenn die Goran-Bewegung eine Abspaltung aus der PUK ist, ist sie doch eine Partei, die nicht Teil der Oligarchie ist. Mit ihrem Wahlerfolg stellt sie nicht nur die Aufteilung der Region in eine KDP- und eine PUK-Sphäre in Frage, sie fordert auch zu Recht ihre Ministerposten ein. Um das Problem zu überwinden führt der Ministerpräsident der Region Neçirvan Barzani in dritter Runde Gespräche mit der Goran-Bewegung. Doch diese lehnte den Vorschlag Barzanis ab, dass ein zweiter Stellvertreterposten für den Ministerpräsidenten für die Goran-Bewegung eingerichtet werden könnte. So blieben die Gespräche auch in dritter Runde erfolglos.
Wenn man nun hinzunimmt, dass noch über eine Menge anderer Posten gestritten werden muss, vielleicht gar demnächst der Posten Celal Talabanis als irakischer Präsident einem neuen kurdischen Politiker übergeben werden muss, so scheint ein Ausweg aus der politischer Krise noch in weiter Zukunft zu liegen. Es gibt zwei Optionen wie der Ausweg aussehen könnte: Entweder wird eine Einigung zwischen den politischen Parteien erlangt und ein neues Abkommen gemäß der veränderten politischen Verhältnisse geschlossen. Oder die politischen Kräfte der Region beschließen ihre Scheindemokratie in eine wirkliche Demokratie zu transformieren. Letzteres wäre sicherlich die klügere Lösung, denn das Problem in Südkurdistan liegt nicht bloß an den letzten Wahlergebnissen, es handelt sich um eine Systemkrise. Und ob diese Krise in der aktuellen Regierungsperiode überwunden werden wird, scheint mehr als fraglich.

YÖP, 10.02.2014, ISKU

ISKU | Informationsstelle Kurdistan