35./36. Woche: Rückblick auf Guerillaoperationen und -Aktionen

Die letzten zehn Tage stellen eine Fortsetzung der begonnenen „Revolutionären Operation“ der Guerilla dar, die beinhaltet, Stellungen auf türkischem Staatsgebiet zu erobern und zu halten. In der Provinz Colemêrg (Hakkari) kontrolliert die Guerilla auch nach Angaben des Co-Vorsitzenden der Partei für Frieden und Demokratie BDP einen Streifen von etwa 400 km an der Grenze zum iranischen und irakischen Staat. Die Grenzen, welche die kurdischen Regionen trennen sind insofern aufgehoben. Das türkische Militär unternimmt immer wieder erfolglose Versuche die Kontrolle über diese Regionen zurückzuerlangen. Diese Informationen erreichen nun auch immer mehr die türkische Öffentlichkeit. Am 20.08.12 kam es zu einem verheerenden Bombenanschlag in der kurdischen Stadt Dilok (Antep), dabei starben mindestens 9 ZivilistInnen, darunter auch Kleinkinder. Für den türkischen Staat waren die Schuldigen schnell klar – die PKK – diese dementierte etwas mit dem Angriff zu tun zu haben, wertete ihn als Verbrechen, das auch von ihren Kräften verfolgt würde. Die Guerilla erklärte zu dem Angriff, dass die Handschrift nach der des türkischen Geheimdienstes aussähe, um den Fokus von den starken Verlusten in den kurdischen Regionen abzulenken und um die Freiheitsbewegung öffentlich zu diskreditieren, die immer wieder betont ZivilistInnen nicht anzugreifen und große Mühe darauf verwendet Verletzte in der Zivilbevölkerung zu vermeiden. Die kurdische Bevölkerung lässt sich von einer solchen Verleugnungspolitik nicht hinhalten, zu frisch sind die Erinnerungen an staatliche und parastaatliche Massaker, die der PKK untergeschoben werden sollten.

Strategie des Revolutionären Volkskriegs
Die „revolutionäre Operation“’ der Volksverteidigungskräfte HPG in der Region Şemzînan (Şemdinli) hält mittlerweile einen Monat an. Seit dem 23. Juli kontrolliert die Guerilla weite Gebiete des Bezirkes, während sich das türkische Militär zum Teil aus diesen Gebieten zurückgezogen hat, die HPG-Kräfte aber aus der Luft angreift. Seit dem 4. August hat die HPG ihre Kontrolle zudem auf Çele (Çukurca) und seit dem 16. August auf einige Gebiete von Colemêrg (Hakkari) ausgeweitet. Den Strategiewechsel von sogenannten Hit-and-Run-Aktionen der Guerilla hin zur Einnahme und Verteidigung strategischer Orte begreift die HPG als Teil der Umsetzung des „Revolutionären Volkskriegs“ in Kurdistan. Erstmals in ihrer Geschichte üben die Guerillkräfte über solch einen langen Zeitraum die Kontrolle über Gebiete dieser Größenordnung aus.

Situation in den Gebieten unter Guerillakontrolle
Während das Massaker von Dilok die Schlagzeilen dominierte, baute die Guerilla ihre Kontrolle in Colemêrg weiter auf, über Şemzînan wehen auf den Bergen Flaggen der PKK. Die türkische Presse feiert es mittlerweile als Sieg, dass Artillerie und Kobra-Kampfhubschrauber es durch schwere Bombardierung schaffen, eine solche Fahne zu zerstören. Diese Gesten wirken mehr als verzweifelt, insbesondere vor dem Hintergrund, dass die Guerilla am 02.09.12 in der Provinz Şirnex, Elkê (Beytüşşebap) ein großes Gebiet eroberte, in die Stadt vordrang, dort die Wohnung des Gouverneurs durchsuchte und viele Aktionen durchführte wobei über 50 Soldaten starben.

Guerillaoperation in Sirnex, Elkê
In der Nacht zum 03.09.12 begann auch in der Provinz Şirnex die revolutionäre Operation der Guerilla. Die Guerilla griff zeitgleich alle Militär- und Jandarmaposten und staatliche Gebäude, wie auch die Armeestellungen auf den Gipfeln der Umgebung an und drang bis in die Kleinstadt Elkê vor. Die strategisch wichtige Brücke, welche die Stadt mit der Provinzhauptstadt Şirnex verbindet wurde in die Luft gesprengt und Guerillaeinheiten übernahmen die Kontrolle über alle Zufahrtsstraßen. Die Guerillas töteten alle Bewacher des Regionalgouverneurs von Elkê und durchsuchten seine Wohnung. Dabei beschlagnahmten sie eine Vielzahl von Dokumenten und eine Kamera. Weiterhin verbrannten sie den Dienstwagen des Gouverneurs.
Alle Soldaten flohen aus der schwer militarisierten Kleinstadt zunächst in ihre Basen. Während des Kampfes stand somit der ganze Landkreis unter Guerillakontrolle. Die Guerillas brannten in der Stadt eine Filiale der Ziraat Bank nieder.
Weiterhin eroberten die Guerillas mehrere strategisch wichtige Gipfel und bauten dort ihre Stellungen auf. Als Hubschrauber die getöteten und verletzten Soldaten abholen wollten, wurde ein zum Schutz der Transporthubschrauber ausgesandter Kobra-Kampfhubschrauber mit schweren Waffen getroffen und abgeschossen. Die Guerillas kontrollieren die umliegenden Berge auch weiterhin und haben auf dem Kato-Berg eine große HPG Fahne, die auch von der Stadt zu sehen ist gehisst.

Schwere Bilanz – mindestens 54 getötete Soldaten
Bilanz dieses Gefechts sind etwa 54 getötete Soldaten, Polizisten und Mitglieder von Spezialeinheiten, weitere 50 Verletzte, ein abgeschossener Hubschrauber, fünf zerstörte Panzer, ein zerstörter Dienstwagen des Gouverneurs, eine zerstörte Bankfiliale und große Mengen an beschlagnahmten militärischen Material. Die türkischen Medien geben offiziell zehn getötete Soldaten an, aber die Beobachtungen der Regionalbevölkerung unterstützen die Erklärung der Guerilla. So mussten mindestens 9 Sikorsky-Transporthubschrauber eingesetzt werden, um die Leichen der getöteten Soldaten abzutransportieren. Nach bisherigen Berichten aus der Region sind vier GuerillakämpferInnen gefallen.

Auseinandersetzung zwischen Bevölkerung und Militär
Am folgenden Tag kam es zu Auseinandersetzungen zwischen Bevölkerung und Militär. Als die Bevölkerung auf die Straßen kam, um drei gefallene Guerillas zu bergen. Die BewohnerInnen von Elkê riefen Parolen für die PKK und zu Ehren der gefallenen Guerillas, und befestigten unter anderem an einem Panzer, welcher die gefallenen Guerillas transportierte, die kurdischen Farben. Damit machte sie nochmals ihr Selbstbewusstsein und ihre Verbundenheit mit dem Freiheitskampf deutlich.

Provinzgouverneur kann nicht nach Elkê vordringen
Der Provinzgouverneur konnte auch am 03.09. nicht nach Elkê vordringen, da die zentrale Brücke gesprengt war und alle anderen Wege unter Guerillakontrolle sind. Der Bürgermeister von Elkê Yusuf Temel bestätigte diese Angaben. „Das Militär und die Polizei haben sich in ihre Basen zurückgezogen“, so der Bürgermeister. Die türkische Presse wird im Moment ebenfalls von Bildern erschüttert, auf denen Soldaten in Elkê die an ihren Garnisonen angebrachten türkischen Fahnen einholen.

Die Situation in der Provinz Colemêrg (Hakkari)
Auch in der Provinz Colemêrg dauert die Kontrolle über große Teile der Region an. Hier kommt es täglich mehrfach zu langandauernden Checkpoints der Guerilla, täglichen Aktionen und schweren Gefechten. Konkret steht in der Provinz Colemêrg das Gebiet östlich, westlich und südlich von Şemzînan unter der Kontrolle der Guerilla. Außerdem ist die Grenzregion, insbesondere die wichtige Verbindung in den Iran zwischen Colemêrg, Gever, Esendere unter ihrer Kontrolle. Die Guerilla operiert hier nicht mehr nur auf dem Land, sondern auf den Ebenen, bis hinein in die Städte. Viele Verbindungsstraßen und Hauptstraßen in der Provinz Colemêrg werden von der Guerilla ebenfalls kontrolliert. Die Operation dauert an und weitet sich immer weiter in Richtung Provinzhauptstadt Hakkari aus. Die Umgebung von Şemzînan befindet sich sicher in Guerillahand – inklusive alle strategischen Gipfel. Dies wird mittlerweile de facto vom türkischen Staat toleriert. Die Bevölkerung die am Goman-Berg in der Nähe von Şemzînan lebt, bestätigt ebenfalls, dass dieses Gebiet vollständig außerhalb der Kontrolle des türkischen Staates steht. Seit mehr als 1,5 Monaten hat kein Soldat mehr diese Dörfer betreten können. Panzerfahrzeuge können viele der Straßen nicht mehr benutzen, da sie sonst angegriffen werden. Aus diesem Gebiet können Guerillas nun auch im Stadtgebiet von Şemzînan operieren. Es sind dem Militär eigentlich nur der Şemzînan-Stützpunkt und das Tekeli-Bataillon geblieben.

Militär in vielen Regionen Colemêrgs umzingelt
Das Militär kann mit Bodentruppen nicht in die Region vordringen und auch die Versorgung der eingeschlossenen Militärstützpunkte aus der Luft wird aufgrund der Luftabwehrstellungen der Guerilla immer schwieriger. Auch in der letzten Woche fielen bei den Gefechten in der Region dutzende Soldaten. Als das Militär von der Guerilla aufgestellte Fahnen auf den Bergen mit Hubschrauberbombardement zerstören wollte, griff die Guerilla die Hubschrauber mit schweren Waffen und Raketen an. Viele Gebiete, die zur militärischen Sicherheitszone erklärt worden waren, können vom Militär ebenfalls nicht betreten werden. Anfangs konnten diese Verbote durchgesetzt werden, nun erkennt dieses niemand mehr an. Die Bevölkerung kann sich nun zum ersten Mal frei in der Region bewegen, ohne von Militärs bedroht und schikaniert zu werden.

Soldaten unter Spannung – Kommandeur eines Stützpunktes desertiert
Die Psyche der Soldaten ist zum zerreißen gespannt. Als bei einer Guerillaaktion ein Panzerfahrzeug auf der Straße zwischen Wan und Colemêrg durch die Explosion in den Zap Fluss geflogen war, erklärte ein Soldat gegenüber einem Journalisten „Mach keine Bilder. Ich habe Todesangst und du machst Bilder.“ Weiterer Ausdruck der Lage ist, dass der Kommandant des Katuna(Kayalar)-Militärstützpunktes auf dem Weg nach Çele (Cukurca) in Panik desertierte und untertauchte, als er hörte, dass die Guerilla angreifen würde.

Weitere Aktionen in ganz Nordkurdistan/Türkei
An vielen anderen Orten fanden ebenfalls Guerillaaktionen statt. Es wurde erneut die Pipeline Kerkuk-Yumurtalik gesprengt, zwei Güterzüge mit Sprengsätzen angegriffen und Aktionen gegen Militärkonvoys und Militärbasen in Sêrt, Amed, Dêrsim, Mêrdin, Cewlik, Riha, Maraş, Osmaniye, Erzingan und vielen anderen Orten durchgeführt. Dabei starben viele Soldaten und große Mengen Militärmaterial wurden vernichtet. Die Guerilla hat ebenfalls ein detailliertes Video einer ihrer Aktionen gegen Militärstützpunkt vom 2. August in Sêrt unter dem Link www.gerillatv.net/view_video.php?viewke... veröffentlicht.

Bilanz für Monat August zeigt Eskalationsniveau
Die Volksverteidigungskräfte (HPG) haben die Kriegsbilanz des Monats August veröffentlicht. Nach der Bilanz hat die Guerilla 183 Operationen durchgeführt. Bei Gefechten sind mehr als 400 Soldaten und Polizisten getötet worden und 31 Mitglieder der Volksverteidigungskräfte wurden getötet. 20 Personen, darunter 4 Soldaten wurden von der Guerilla festgenommen. Zudem wurde eine große Anzahl an Waffen von der Guerilla beschlagnahmt.
Die vom Presse- und Kommunikationszentrum der HPG (HPG-BIM) veröffentlichte Bilanz zeigt, dass wenn sich die Operationen der Guerilla vermehren, sich die Operationen der türkischen Armee reduzieren.
Im Monat August hat die türkische Armee 77-mal mit Haubitzen, Mörsern und Panzern Bombardements durchgeführt. Nach der Bilanz der HPG hat die türkische Armee im Monat August 23-mal mit Kampfflugzeugen und 16-mal mit Kobra-Helikoptern Gebiete, die von der Guerilla kontrolliert werden, wie auch zivile Einrichtungen aus der Luft angegriffen.
Durch die Bombardements wurden, laut der HPG-BIM, mindestens 31 Waldbrände entfacht, durch die viele Weinberge und Gärten der Zivilbevölkerung beschädigt wurden. Die türkische Luftwaffe flog auch zivile Einrichtungen in Kandil in Südkurdistan (Nordirak) an und zerstörte u.a. eine Hühnerfarm durch ein Bombardement vollkommen.
183 Operationen führte die Guerilla im Monat August durch. Seit Beginn des letzten Monats kontrollieren die HPG-Kräfte die Region Şemzînan (Şemdinli). Seit dem 4. August hat die HPG ihre Kontrolle zudem auf Çele (Çukurca) und seit dem 16. August auf einige Gebiete von Colemêrg (Hakkari) ausgeweitet.
Die Ergebnisse von 58 durchgeführten Operationen und Gefechten konnte laut dem Presse- und Kommunikationszentrum der HPG nicht von der Guerilla ermittelt werden. Bei den anderen Gefechten wurden 403 Soldaten, darunter 14 Polizisten getötet und 181 Soldaten, darunter 4 Polizisten verletzt.
Das HPG-BIM hat erklärt, dass bei den durchgeführten Operationen im August insgesamt 31 Guerillas ihr Leben verloren haben. 15 dieser Guerillas sollen bei der Operation in Çele (Çukurca) gestorben sein.
6 Sikorsky-Helikopter und 2 Kobra-Helikopter wurden nach der Erklärung der HPG beschädigt. In der Bilanz wurde auch Auskunft über die beschlagnahmten Waffen und Militärmunition gegeben. Nach der Erklärung haben die HPG-Kräfte im Monat August 11 Kalaschnikows, 7 HK33 Sturmgewehre, 6 G3 Sturmgewehre, 2 MG3, 1 BKC, 2 Granatwerfer und 5 Granatraketen, 2 Pistolen, 15 Handgranaten, 31 Magazine, 6 Thermo-Geräte, 10 Ferngläser, 5 Nachtsichtgeräte, 12 Rucksäcke, 1700 Stück BKC-Kugeln, 2 Handfunkgeräte, 2 Kompasse, 1 Signal und 7 Telefone der türkischen Armee beschlagnahmt.
Eine große Anzahl Fahrzeuge von Personen und Unternehmen, die mit dem Militär zusammengearbeitet haben, die an Polizeistationen und Straßenbauarbeiten mitgearbeitet und unerlaubt Handel in Kurdistan betrieben haben, wurden zerstört. Darunter: 17 LKWs, 20 Lastzüge, 1 Arbeitsgerät, 4 Bulldozer, 10 Fahrzeuge, 1 Wassertank und ein Kraftstofftank.
Das Presse- und Kommunikationszentrum der HPG hat auch die Anzahl der Festnahmen und Verhaftungen im Monat August bekanntgegeben. 18 Personen sollen von der HPG-Guerilla festgenommen worden sein, darunter 4 Soldaten und 14 Zivilisten und Bürokraten.

Fazit – Revolutionäre Operationen weiten sich aus
Die „Revolutionären Operationen“ sind selbst in der türkischen Presse schwerer zu verschweigen. Die Guerilla geht taktisch, Schritt für Schritt, vor und erobert die Kontrolle über immer weitere Gebiete. Die Unterstützung aus der Bevölkerung, welche die andauernde Kriegspolitik des türkischen Staates satt hat, ist ungebrochen. Das ist auch in den letzten Tagen wieder an der massenhaften Teilnahme an Guerillabeerdigungen, den Protesten gegen das Militär in Elkê und an vielen anderen Orten zu sehen und nicht zuletzt auch an den vielen zehntausend Menschen, die am 1. September in kurdischen Städten für eine friedliche Lösung und die Freiheit von Abdullah Öcalan demonstriert haben. Das Bedürfnis nach Frieden spiegelt sich klar in der Unterstützung der Guerilla wieder, denn sie ist aktivste Kraft, die sich nun auch durch ihre revolutionären Operationen gegen die neokoloniale Kriegspolitik des türkischen Staates und der Erdoğan-Regierung stellt.
Duran Kalkan, KCK-Exekutivratsmitglied, erklärte gegenüber der Nachrichtenagentur Firat (ANF), dass es in dieser Phase nicht allein um gesteigerte Aktivität der Guerillakräfte gehe, sondern es zugleich auch um die Umsetzung der Demokratischen Autonomie gehe. Die Zielsetzung ist, dass jedes Dorf, jeder Stadtteil und jede Stadt ihre kommunale Selbstverwaltung aufbaut. Kalkan beschreibt die Zielsetzung der Bewegung wie folgt: „Wir befinden uns in einer Lösungsphase. Aber hierbei handelt es sich nicht mehr um die Phase einer politischen Lösung, sondern um die Phase einer militärischen Lösung. … Denn wir sind mittlerweile zu der Überzeugung gelangt, dass es zu keiner politischen Lösung der kurdischen Frage kommen wird, solange die AKP an der Macht ist. Daher haben wir einen Strategiewechsel eingeschlagen und unseren Widerstand erhöht, um damit der AKP-Politik eine Niederlage zuzufügen. … Wir werden die Lösung nun auf der Grundlage des revolutionären Volkskrieges umsetzen. Und wir sind überzeugt, dass wir das in der Form umsetzen können. Vom revolutionären Volkskrieg, vom Guerillawiderstand zum Volksaufstand und vom Volksaufstand zum Aufbau der demokratischen Selbstverwaltung, das ist unser Weg.” (aus dem Türkischen, Übersetzungskollektiv)

Quellen: ISKU, DIHA, ANF, YH, YG, SH, HPG

ISKU | Informationsstelle Kurdistan