Wochenrückblick
auf Guerillaaktivitäten in Nordkurdistan
Während dieser Wochenrückblick entsteht, treffen neue Kriegsnachrichten
aus der nordkurdischen Region Şemzinan (Şemdinli/Hakkari) ein, dort kommt
es seit zwei Tagen zu schwersten Gefechten zwischen Guerilla und Militär.
Die Guerilla erklärt, vier wichtige strategische Punkte eingenommen zu
haben, der BDP Abgeordnete von Colemêrg Adil Kurt erklärte: „Das Militär
hat die Kontrolle über die Region verloren, deswegen greifen sie auf jede
Art und Weise mit Hubschraubern, Panzern und Artillerie an. Aufgrund dieser
Angriffe brennen unsere Wälder, die Bevölkerung aus den Dörfern wird vertrieben.“
Das Militär scheint Chemiewaffen einzusetzen und gezielt die Dorfbevölkerung
anzugreifen. Diese Auseinandersetzungen sind der letzte Punkt in einer
Woche voller Kämpfe. Die Guerilla hat die Praxis, als Institution der
demokratischen Autonomie zu agieren, ausgeweitet, viele Straßenkontrollen
durchgeführt und die Versorgung von Armeestützpunkten empfindlich unterbrochen,
unter anderem in dem in Gever/Oramar erneut ein Skorsky-Transporthubschrauber
zerstört wurde. Weiterhin griff die Guerilla zwei Mal die Erdöl-Pipeline
Kerkuk Yumurtalık an und erzeugte durch deren mehrtägigen Stillstand hohen
wirtschaftlichen Schaden.
Krieg in Şemzinan
– 30 Soldaten sterben, 4 Guerillas fallen, Militär terrorisiert Dorfbevölkerung
– „Der Staat hat die Kontrolle über Şemdinli verloren.“
Seit dem 24.7. reißen die Gefechte zwischen kurdischer Guerilla und türkischem
Militär in Şemzinan nicht ab. Nach Augenzeugenangaben befindet sich das
Kampfgebiet 2 - 4 km entfernt vom Stadtzentrum der kurdischen Kleinstadt
Şemzinan. Das türkische Militär setzt alle Mittel ein, die ihm zur Verfügung
stehen: Panzer, Kampfhubschrauber, F-16 Bomber, schwere und leichte Artillerie
– die Region steht in Flammen und es besteht der Verdacht erneuten Chemiewaffeneinsatzes.
Die Kämpfe waren ausgebrochen, nachdem die Armee eine Straßenkontrolle
der Guerilla angriff, die schon seit zwei Tage ununterbrochen bestand.
Während dieses Gebiet, etwa 20km von Şemzinan entfernt, massiv bombardiert
wurde, kam es auch zu intensiven Kämpfen direkt bei Şemzinan. Da die Gipfel
in der Umgebung von kurdischen Guerillas mit Flugabwehrgeschützen besetzt
sind, konnten hier weniger Flugzeuge und Hubschrauber eingesetzt werden,
stattdessen wird großangelegt Artillerie benutzt, um den Widerstand der
Guerilla zu brechen. Ein Korrespondent der Nachrichtenagentur DIHA erklärte
dazu:
„Gestern gegen 15:00 Uhr, als die Kämpfe zwischen der HPG und den Soldaten
anfingen haben wir gesehen, dass die HPGlerInnen vier strategische Gipfel
eingenommen haben, die Hubschrauber und Kampfflugzeuge konnten sich daraufhin
nicht mehr annähern. In dieses Kriegsgebiet konnten auch keine Soldaten
vordringen. Aber in den folgenden Stunden zog ein starker Geruch nach
Äpfeln und Gas heran. Wir vermuten, dass, da mit Kämpfen kein Ergebnis
erzielt werden konnte, Chemiewaffen eingesetzt worden sind.“
Dies vermuten auch BewohnerInnen aus der Umgebung der Kämpfe, die gezwungen
waren, ihre Ortschaften zu verlassen: „Wir sind gezwungen, unsere Dörfer
zu räumen. Wir sind aufgrund des Bombardements und wegen des Verdachts
des Einsatzes chemischer Waffen besorgt. Hier findet ein riesiger Kampf
statt. Die Soldaten können sich der Guerilla nicht nähern, deswegen setzen
sie Artillerie ein. Möglicherweise benutzen sie auch Chemiewaffen.“
In einer Erklärung der HPG zu den Auseinandersetzung heißt es, dass bei
den Kämpfen bis jetzt vier Guerillas gefallen sind und mindestens 30 türkische
Soldaten starben. In Gever/Yüksekova gelang es der Guerilla einen Hubschrauber
abzuschießen.
Nachdem das türkische Militär bei den ersten Gefechten schwere Verluste
hinnehmen musste, wurden die Guerillas am 23.7. aus der Luft und vom Boden
aus bombardiert. Dabei fielen vier GuerillakämpferInnen. Die Kämpfe setzten
sich am 24.7. fort. In diesem Rahmen griff die HPG die Brigadekommandantur
an und auch hier entstanden heftige Kämpfe.
Die Kämpfe dauern auch am Abend des 25.7. mit aller Heftigkeit an. Mittlerweile
ist auch aus offiziellen Quellen bekannt, dass schon seit den ersten Kämpfen
mindestens 17 Spezialkräfte der Armee vermisst werden, die aus Hubschraubern
im Kampfgebiet abgesetzt worden waren. Das bestätigt die Angaben der Guerilla,
die ebenfalls von etwa 17 gefallenen Soldaten beim ersten Gefecht sprach.
Eine Delegation der kurdischen Friedens- und Demokratiepartei BDP erreichte
die Region am 25.7., um den möglichen Einsatz chemischer Waffen zu untersuchen.
Dabei wurde bekannt, dass in den letzten Tagen durch die türkischen Militäroperationen
aus mindestens neun Dörfern in Şemzinan die Bevölkerung fliehen musste,
da das türkische Militär unter anderem auch das Dorf Yiğitler bombardierte
und dabei einen Dorfbewohner verletzte. F-16 Bomber werfen in direkter
Umgebung der Dörfer Tag und Nacht Sprengkörper ab.
Kobrahubschrauber beschießen ebenfalls die Region. Nach Aussagen von DorfbewohnerInnen
wurde in den Morgenstunden des 25.7. ein Kobra-Kampfhubschrauber von Guerillas
beschädigt und musste sich zurückziehen. Aus regionalen Quellen ist zu
erfahren, dass am Abend des 25.7. an drei Orten in der Umgebung von Şemzinan
Spezialeinheiten abgesetzt worden sind, dass dort immer noch massiv mit
Artillerie, Flugzeugen und Hubschraubern bombardiert wird und dass in
der Umgebung von Şemzinan die Wälder brennen.
Schwere Gefechte
in Dersim, Gever, Osmaniye, Sêrt (Siirt), Şirnex (Şırnak), Gabar
In fast allen nordkurdischen Regionen finden zurzeit Gefechte statt. Besonders
heftige Auseinandersetzungen wurden aus den Regionen Dersim/Pülümür und
Gever/Oramar gemeldet. Bei Kämpfen in Osmaniye, Wan-Gürpınar, Sêrt und
Gabar fielen mindestens zehn Soldaten und mehrere Armeefahrzeuge wurden
zerstört. In Şirnex kam es ebenfalls zu einem Gefecht, bei dem sich die
Kobra-Hubschrauber zurückziehen mussten. Das darauf folgende Artilleriebombardement
setzte große Vegetationsflächen in Brand.
Strassenkontrollen
der Guerilla – Angriffe auf Kriegsprofiteure
Auch diese Woche führte die Guerilla Straßenkontrollen mit dem Ziel der
Öffentlichkeitsarbeit und um gegen die Truppenversorgung und Unterstützung
des türkischen Militärs vorzugehen durch. An einer Straße in Şemzinan
hatten die Guerillas zwei Tage lang den Verkehr kontrolliert. Der Kontrollpunkt
wurde von den Guerillas gegen das türkische Militär verteidigt. Eine weitere
Straßenkontrolle in Şemzinan wurde am 23.7. durchgeführt und zwei Stunden
aufrecht erhalten und die Bevölkerung informiert. Insbesondere Paramilitärs
(sog. Dorfschützer) wurden versammelt und von der Guerilla belehrt. Als
das Militär mit Hubschraubern anrückte, wurde ein Kobra-Hubschrauber beschädigt.
Nicht nur in Şemzinan, wo eine zweitägige Straßenkontrolle vom Militär
angegriffen wurde, sondern auch in Çewlik (Bingöl), Dersim, Wan, Sêrt
(Siirt) und an vielen anderen Orten stellte die Guerilla das staatliche
Gewaltmonopol aktiv in Frage.
So wurde in Çewlik an zwei Tagen in Folge das Versorgungsfahrzeug, welches
einem Militärstützpunkt Nahrungsmittel bringen sollte, von der Guerilla
gestoppt und, nachdem der Fahrer das Fahrzeug verlassen hatte, abgebrannt.
Am 22.7. stoppte die Guerilla in Dersim, Mazgirt einen Lastwagen mit Lebensmitteln
für die Armee und brannte ihn nieder.
Am 18.7. griffen Guerillas eine Firma in der Region Antep an, die Straßenbauarbeiten
für das Militär durchführt. Dabei wurden vier Bagger, zwei Lastwagen,
ein Traktor und ein Container zerstört. Ebenfalls am 22.7. wurde Fahrzeug
einer Baufirma in Şemzinan zerstört, die Straßen zu einem Militärstützpunkt
baut.
Guerilla
führt Ermittlungen und Festnahmen durch
In der Region Gabar hat die HPG am 21.7. drei Personen festgenommen, die
Geheimdienstarbeit für das türkische Militär geleistet und die Dorfbewohner
zur Kollaboration organisiert haben sollen. Ihre Waffen wurden beschlagnahmt,
sie wurden nach einer Verwarnung wieder freigelassen.
In Şemzinan nahm die Guerilla eine Person, die Straßenbau für das Militär
betreibt, fest und in Lewîne bei Colemêrg einen Paramilitäranführer. Ihm
wird vorgeworfen, in Zivilfahrzeugen Militärausrüstung zu transportieren,
das Dorfschützersystem zu fördern und Agententätigkeiten auszuführen.
Das Fahrzeug, in dem die Militärausrüstung gefunden wurde, wurde abgebrannt.
Versorgungshubschrauber in Gever zerstört – Staat versucht Verluste
zu vertuschen – Guerilla schneidet Militärstützpunkte von Versorgung ab
Da, wie mittlerweile auch der türkische Generalstabstab zugibt,
die Truppenversorgung in Nordkurdistan per Strasse aus Sicherheitsgründen
kaum möglich ist, wurde gerade in der Provinz Colêmerg (Hakkari) die Versorgung
mehrheitlich auf Hubschrauberflüge umgestellt. Am 22.7. zerstörte die
HPG in Gever (Yüksekova) einen Skorsky-Transporthubschrauber zum Şitazin
Militärstützpunkt. Der türkische Staat versuchte dies durch die Version
eines technischen Versagens zu verschleiern und gab falsche Bilder vom
Absturz heraus, diese Bilder waren mehrere Jahre alt und stammten von
einem Absturz bei Çêle (Çukurca). Nachdem große Teile der türkischen Presse
ebenfalls die Version eines Abschusses bestätigten, versuchte der Generalstab
diese mundtot zu machen, indem ihnen Strafverfahren wegen „Propaganda
für eine verbotene Organisation“ angedroht werden, wenn sie weiter behaupten,
der Hubschrauber sei abgeschossen worden. Bei dem Abschuss des Hubschraubers
starben acht Soldaten, sieben weitere wurden verletzt. Am folgenden Tag
wurden Hubschrauber, die sich diesem Militärstützpunkt nähern wollten,
ebenfalls beschossen und mussten sich beschädigt zurückziehen und, nachdem
Flammen aus ihm schlugen, auf einem Militärstützpunkt notlanden. Am 24.7.
um 12:00 Uhr griff die Guerilla einen Versorgungkonvoy des Militärs für
den Şitazin-Stützpunkt an. Dabei wurden alle Fahrzeuge durch Schüsse beschädigt
und ein Fahrzeug durch Feuer vollständig zerstört.
Guerillaaktionen gegen Militär und Polizei
Ebenfalls in der umkämpften Region Şemzinan griffen Einheiten der Frauenguerilla
YJA-Star am 24.07. um 17:00 Uhr einen Militärstützpunkt an. Die Zahl der
verletzten und getöteten Soldaten ließ sich nicht feststellen, da der
Stützpunkt die Umgebung mit Mörsern und Artillerie bombardierte. Bei Aktionen
an Militärbasen in Çewlik und Wan-Özalp starben mindestens zwei Soldaten.
Bei einem Angriff auf einen Militärstützpunkt am 23.7. in der kurdischen
Stadt Elbak (Başkale) in der Provinz Wan starben nach Erklärung der HPG
mindestens zwei Soldaten.
Am 20.7. griffen Guerillaeinheiten in Wan/Çatak die Polizeidirektion und
das dazugehörige Munitionsdepot mit Raketen und Sturmgewehren an. Dabei
starben mindestens drei Polizisten.
Am 21.7. wurde in Çolemêrg-Stadt ein Panzerfahrzeug der Polizei mit einem
Sprengsatz angegriffen.
In Erzincan wurde am 24.07. ein Fahrzeug mit Soldaten angegriffen, zwei
Unteroffiziere wurden dabei verletzt.
Sabotageaktionen
an Pipeline
Am 20.7. gegen 23:00 Uhr zerstörte die Guerilla in der Region Midyat ein
Streckenstück der Pipeline zwischen Kerkuk und Yumurtalık. Der Öldurchlauf
blieb für mehrere Tage gesperrt, da sie am nächsten Tag erneut anfing
zu brennen. Die Angriffe auf Pipelines haben in den letzten zwei Monaten
stark zugenommen. Die Angriffe der Guerilla auf das Pipelinenetz sind
mittlerweile so weitereichend, dass die Türkei die Erdgasversorgung aus
Russland als Alternative zu verstärken plant.
Guerillas in Şemzinan und Ardahan gefallen
Bei den Kämpfen und den Bombardierungen in Şemzinan fielen am 23.7. vier
GuerillakämpferInnen. In Ardahan fiel am 24.7. ebenfalls ein Guerilla
bei einem Gefecht mit dem türkischen Militär. Weitere fünf Guerillas fielen
am 19.7. in Şemzinan. An den Beerdigungen der Guerillas, die in den letzten
Tagen gefallen sind, nahmen wieder tausende, manchmal auch zehntausende
Menschen teil. Diese Beerdigungen wurden immer wieder Ziel von Angriffen.
So stürmte die Polizei ein Trauerzelt, da die Staatsanwaltschaft angeordnet
hatte, die Bilder der gefallenen Tochter zu beschlagnahmen. Oft werden
Guerillas aber auch vom Staat in anonymen Gräber begraben. So geschehen
mit den fünf am 19.7. in Şemzinan gefallenen Guerillas. Während die Familien
vor der Leichenhalle warteten, wurden die Gefallenen vom Staat anonym
bestattet.
Fazit: Kurdische
Guerilla setzt Autonomie um
Die Auseinandersetzungen haben gezeigt, dass es mittlerweile für die Guerilla
alltäglich ist, am helllichten Tag Aktionen durchzuführen, und dass sie
effektiv in der Lage ist, Militärstützpunkte zu blockieren und von der
Versorgung abzuschneiden. Die Guerilla führt nicht mehr nur punktuell
kurze Kontrollen durch, sondern richtet Kontrollpunkte ein und verteidigt
diese. Es werden Personen, welche in den Krieg gegen die kurdische Bevölkerung
verwickelt sind festgenommen und ihnen ein Verfahren garantiert. Viele,
die von der Guerilla freigelassen worden sind, sprechen von der ausgesprochen
guten Behandlung. Auch dies zeigt die de facto Verhältnisse in Kurdistan
und macht die gegen den türkischen Staat durchgesetzte demokratische Autonomie
Kurdistans einmal mehr spürbar. Dennoch zeigen gerade die Ereignisse in
Şemzinan deutlich, dass das AKP Regime zu jedem Mittel zu greifen bereit
ist, um an der Illusion einer militärischen „Lösung“ festzuhalten.
(Quellen: ANF, DIHA, YH, SemdinliHaber, HPG-BIM, 29./30. Woche)
|