AKP
bestraft Opfer des Erdbebens in kurdischer Region
Am 22.10.2011 bebte
in den Regionen Wan und Bîtlîs in Nordkurdistan/Türkei mehr als 20 mal
die Erde mit einer Stärke bis 7,3 auf der Richterskala. Insbesondere in
der Region Wan kam es zu massiven Zerstörungen, hunderten Toten, mehr
als tausend Verletzten und vielen tausend Obdachlosen insbesondere in
der Stadt Erdîş (Erciş) und Umgebung. Ganze Dörfer wurden durch das Erdbeben
ausgelöscht. Durch den einbrechenden Winter und erste Schneefälle verschärft
sich die Lage der Bevölkerung weiter. Während der türkische Staat an vielen
Orten in den ersten 48 Stunden überhaupt keine Präsenz zeigte, ging eine
Welle großer Hilfsbereitschaft durch die kurdische Region und die internationale
Öffentlichkeit. Diese Hilfe wird jedoch vom türkischen Staat stark eingeschränkt,
wenn nicht ganz verhindert und es werden deutliche Vorwürfe laut, dass
der Provinzgouverneur Hilfe nur, oder mit Priorität auf, dass Klientel
der Regierungspartei AKP verteile. In diesem Kontext steht auch der repräsentative
Besuch von Premierminister Erdoğan in der erdbebenbetroffenen Region.
Hiermit wird die Bevölkerung nach politischem Wohlgefallen sortiert und
damit eine schwere Menschenrechtsverletzung gegen die Bevölkerungsmehrheit
der Region begangen.
Gouverneur behindert
Hilfe für BDP-WählerInnen
Während alle Institutionen, die Stadtverwaltung, Hilfsorganisationen,
die linke kurdische BDP, der Menschenrechtsverein IHD und andere sich
um Hilfe für die Opfer bemühen, hat der Gouverneur von Wan die Kommunikation
mit Hilfsorganisationen oder der Stadtverwaltung verweigert und weißt
nicht einmal auf seiner Website auf das Erdbeben oder benötigte Hilfe
hin. Seit Tagen versucht der Bürgermeister von Wan ihn erfolglos zu erreichen.
In drei besonders vom Erbeben betroffenen Vierteln der kurdischen Stadt
Erdîş (Erciş) in der Region Wan, ist seit 48 Stunden noch keine staatliche
Hilfe oder Rettung angekommen. Mit Unterstützung des Gouverneurs wurden
Zelte zur Unterbringung der Obdachlosen bis jetzt nach Angaben verschiedener
Nachrichtenagentur nur an das Klientel der Regierungspartei AKP verteilt.
Die Mehrheitsbevölkerung, welche die BDP unterstützt, muss sich selbst
mit Planen und anderem Helfen und versucht in öffentlichen Grünanlagen
bei winterlichen Temperaturen zu überleben.
Der Co-Vorsitzende der BDP, Selahattin Demirtaş, richtet sich in einer
Erklärung an den Gouverneur: „So eine diskriminierende Einstellung akzeptieren
wir auf keinen Fall. Wenn du so handelst, dann tritt zurück und verschwinde
aus Wan. Die Regierung schützt ihren Gouverneur, den Gouverneur der diskriminiert.
Hör endlich auf, die Bevölkerung von Wan auf diese Weise zu foltern. Es
gab hier ein Erdbeben … Tritt zurück und geh zur AKP. … Zeigt Respekt
gegenüber dem Willen der Bevölkerung von Wan. Sie wollen keine Politik,
sie wollen keine Diskriminierung. Sie wollen Hilfe. Neugeborene Kinder
sind bei -5 Grad draußen und warten auf Hilfe. Sie wollen Zelte, sie wollen
Decken in die sie eingewickelt werden können.“
Gouverneur lässt Hilfskonvois
festsetzen, Beschlagnahmungen finden statt
Am 25.10. hat auf Anordnung des Gouverneurs die Polizei angefangen alle
Hilfsgütertransporte der umliegenden Stadtverwaltungen, die in die Region
Erdîş (Erciş) rollen, zum Gouverneursamt, das wie eine großangelegte Polizeistellung
fungiert, umzuleiten und dort festzusetzen. Teilweise wurde auch Militär
eingesetzt, um Hilfsgüter zu beschlagnahmen.
Andererseits wurden die im Busbahnhof von Wan gelagerten Hilfsgüter und
die dafür vorgesehen Fahrzeuge von der Polizei beschlagnahmt. Hilfsgüter
die in die Region gelangen, werden haarklein von Polizei oder Militär
durchsucht und so lange Zeit aufgehalten.
Polizei diskriminiert
Opfer und setzt Tränengas und Knüppel ein
Die Erdbebenopfer, die seit zwei Tagen vor dem Regionalgouverneursamt
von Erdîş (Erciş) auf Hilfe warten, sind häufiger Diskriminierung durch
die Sicherheitskräfte ausgesetzt. So zerriss beispielsweise ein Polizist
eine Warteliste für Zelte und warf sie den Hilfsbedürftigen ins Gesicht.
Ein Wartender erklärte gegenüber ANF: „Das ist Diskriminierung. Sie machen
das, weil wir Kurden sind, seit drei Tagen können wir nichts machen. Gegen
diese Diskriminierung und die systematische Benachteiligung großer Teile
der Bevölkerung formiert sich sowohl in Wan, als auch in Erdîş (Erciş)
Widerstand. Rücktrittsforderungen gegenüber dem Gouverneur werden laut.
Die Polizei griff in Wan die Demonstrierenden Erdbebenopfer mit Knüppeln
und Tränengas an. Es kam zu Festnahmen und Verletzungen. Nach dem Erdbeben
in Gölcük musste der Gouverneur zurücktreten, weil die Polizei einen Bürger
beleidigt hatte, aber hier greift die Polizei uns auf jede Weise an, aber
keiner geht dagegen vor. Wir sind Opfer, seit zwei Tagen warten wir in
der Schlange.“
Demirtaş erklärte hierzu: „Die AKP-Regierung macht nach dem Erdbeben das,
was sie am besten kann. Sie schickt an Stelle von Unterstützung Gasgranaten.
Gibt es eine größere Schande, die Menschen haben nicht einmal ihre Toten
begraben. Die Menschen sind zu Recht wütend.“
Hilfe für die Bevölkerung:
„Unterstützung einer terroristischen Vereinigung?“
Durch die kurdische Bevölkerung weltweit, aber auch in Kurdistan und der
Türkei lief eine Welle der Solidarität. Es wurden Kleider, Decken, Zelte
und Geld gesammelt. Der türkische Staat tut jedoch alles dafür, diese
Hilfe zu be- und wenn möglich gar zu verhindern. So wurden neben Hetzkampagnen
auch juristische Schritte eingeleitet und z.B. Decken für Erdbebenopfer
mit der Begründung beschlagnahmt, dass diese für die PKK bestimmt seien.
Die Polizei geht systematisch gegen Hilfslieferungen vor. So umstellte
sie in Istanbul das BDP-Gebäude, in der Hilfe zum Transport nach Wan gesammelt
wurde und ließ niemanden herein, der Hilfsgüter abgeben wollte.
Ercan Ekinci, der selbst Kleidung im BDP-Büro abgeben wollte berichtet:
„In meiner Hand hatte ich Säcke voll mit Hilfsgütern und versuchte das
Parteigebäude zu erreichen. Am Eingang sagte mir aber ein Polizist, Hilfe
gibt der Staat und nicht die Partei und ließ mich nicht rein. So musste
ich umkehren.“
Der BDP-Kreisvorsitzende von Bağcılar erklärte dazu: „In den letzten drei
Tagen wird gegen die kurdische Bevölkerung wie im Ausnahmezustand vorgegangen
… Die Polizei möchte alle Sachen durchsuchen. Wir haben dies nicht erlaubt.
Daraufhin kam es zu einer langen Diskussion. Schließlich wurden sogar
der Freund, der die Sachen ins Depot zu den Lastwagen brachte, observiert.“
Ähnliche Praktiken sind ebenfalls aus verschiedenen anderen Städten bekannt
geworden. So z. B. in Malatya, dort versuchte die Polizei die von BDP,
Gewerkschaften und zivilgesellschaftlichen Organisationen vorbereitete
Hilfe zu behindern. Die Polizei stellt vor dem Zelt, in das die Bevölkerung
Hilfsgüter spenden konnte, Kameras auf und bedrohte die Organisatoren,
die Hilfsgüter zu beschlagnahmen und Anzeige zu erstatten, da keine Genehmigung
vom Gouverneur vorläge. Die Polizisten kamen mehrmals am Tag und bedrohten
alle Anwesenden. Aufgrund dessen musste das Zelt abgebaut werden, doch
die Hilfsaktion läuft weiter.
Rassistische Hetze
in verschiedenen türkischen Medien
In verschiedenen türkischen Medien wird währenddessen gegen die kurdische
Bevölkerung gehetzt. Eine türkische Moderatorin erklärte Live im Fernsehen,
dass es ja ein Widerspruch sei, dass die Menschen Steine auf die Polizei
schmissen und jetzt Hilfe haben wollten. Andere sprachen z. B. von einer
gerechten Strafe Gottes. Hier zeigt sich die von den Medien und der türkischen
Regierung insbesondere in den letzten Tagen geschürte rassistische Haltung
in Teilen der Bevölkerung, die nicht nur in solchen Äußerungen, sondern
ebenfalls in den rassistischen Hetzjagden, Brandanschlägen, Übergriffen
und Mordversuchen gegenüber KurdInnen der letzten Tage gipfelte.
Dorfvorsteher klagen
Regierung an
Die Dorfvorsteher von über 32 Dörfern in der Region Wan klagen die Regierung
an, dass sie seit 48 Stunden keinerlei Hilfe erhalten haben. In den Dörfern,
in denen teilweise kein Haus mehr steht, haben Schneefälle begonnen. Der
Hauptwunsch der Bevölkerung sind Zelte, aber sie beklagen, dass niemand
ihre Stimme hört, weiterhin gibt es Verschüttete, Tote und Verletzte in
den Dörfern. Der Dorfvorsteher des Dorfes Bayramla Hüseyin Baraner erklärte:
„Gerade eben haben wir meine verschüttete Tochter herausgeholt, im Moment
bereiten wir die Totenklage vor. Keiner von offizieller Seite ist gekommen
und hat die Situation beobachtet. Der einzige Wunsch, den wir an den Staat
haben, sind Zelte.“
Der Vorsteher vom Aksakal sagt: „Wir alle schlafen draußen. Niemand ist
zu uns gekommen. Es schneit, hier ist niemand am Erdbeben gestorben, aber
wir werden alle erfrieren. Wir haben keine Zelte oder Decken.“
Erdoğan verweigert
international Hilfe
Während bekannt geworden ist, dass die türkische Hilfe in vielen Gebieten
der Region auch einen Tag nach dem Erdbeben nicht angekommen ist, verweigert
Erdoğan, mit der Begründung die Türkei könne das alleine lösen, internationale
Unterstützung. Diese Entscheidung wurde von Gruppensprechern des Europaparlaments
ebenfalls scharf kritisiert: „Nach Informationen, die wir diesen Morgen
erhalten haben, haben die Hilfen weder die Städte Wan und Erciş noch andere
Siedlungsgebiete erreicht. Wenn in diesem Zusammenhang der Premierminister
Erdoğan Hilfe von außen für die Erdbebenopfer zurückweist, dann ist das
negativ anzusehen.“
Fazit: AKP setzt bekannte
Politik der Diskriminierung und Bevorteilung auch nach dem Erdbeben in
zynischer Art und Weise um
Auf vielen Menschenrechts- oder Wahlbeobachtungsdelegationen konnten wir
die Mittel, mit denen die AKP gegen die BDP und die kurdische Bewegung
Politik macht, deutlich beobachten. Einerseits soll die Bevölkerung mit
Geschenken wie Waschmaschinen, Kühlschränken, Kohle oder Nahrungsmitteln
bestochen werden, damit sie die Regierungspartei unterstützen und andererseits
wird ihnen bei Wahl der BDP damit gedroht, ihnen die kostenfreie Gesundheitsversorgung
für Mittellose abzuerkennen, den Infrastrukturausbau zu verhindern etc.
Dass nun aber die Hilfe für Erdbebenopfer offensichtlich ebenfalls zu
einem Mittel des politischen Kampfes genommen wird, um nicht zu sagen
ein Teil der Kriegsführung, gibt dem ganzen eine neue menschenverachtende
Dimension. Sollte sich diese Entwicklung bestätigen, begeht die AKP nunmehr
erneut eine schwere Menschenrechtsverletzung. Während einerseits die Bevölkerung
in dieser Region von Hilfe abgeschnitten wird, marschieren andererseits
türkische Soldaten in den Nordirak/Südkurdistan ein um ihre „Tamilische“
Vernichtungslösung der Guerilla umzusetzen.
Quellen: Zusammenstellung
ANF, 25.10.2011, ISKU
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