"Das Massaker ist Ausdruck des Völkermordes!"
Das Massaker im E-Tip Gefängnis von Diyarbakir - Beobachtung
der 6. Gerichtsverhandlung gegen 72 Angeklagte der türkischen "Sicherheitskräfte"
von Jeanine Weigel
September 1996
Am Dienstag, den 24. September 1996 fand im berüchtigten Militärgefängnis
von Diyarbakir ein bestialischer Angriff auf PKK-Gefangene statt. Bewaffnete
"Sicherheitskräfte" überfielen 34 Untersuchungshäftlinge
in den 6 mal 6 Meter großen Zellen. Die Gefangenen wurden in eine
Ecke gedrängt, dann schlugen die "Sicherheitskräfte" mit Eisenstangen
gezielt auf die Köpfe, bis die Opfer am Boden lagen. Allen wurde der
Schädel eingeschlagen. Auf Fotos der Obduktion der Getöteten,
die den Anwälten erst seit März 1998 vorliegen, sind außerdem
eindeutig Folterspuren zu erkennen. Bei diesem Angriff starben 10 Gefangene,
24 von ihnen wurden schwerverletzt, wobei besonders brutal auf die Häftlinge
eingeschlagen wurde, die das Vertrauen der Gefangenen genossen und Zellensprecher
waren. Die überlebenden Gefangenen wurden in andere Gefängnisse
verlegt, nach Antep, Erzurum, Silopi u.s.w.
In einem Gespräch mit Angehörigen von überlebenden Gefangenen
am 5. Juni 1998 im HADEP-Büro in Diyarbakir betonen sie, daß
dieser Angriff von langer Hand vorbereitet gewesen war und systematisch
durchgeführt wurde. So sei der Besuchstermin im E-Tip Gefängnis
in Diyarbakir eigentlich montags. Als die Angehörigen am Montag vor
dem Angriff ins Gefängnis wollten, wurde ihnen jedoch gesagt, daß
diese Woche der Besuchstag auf den Dienstag verlegt worden ist. Der Besuch
selber verlief dann mit den gewohnten Schikanen am Dienstag. Als er beendet
wurde, warteten schon Gefängniswärter, Polizisten und Militär.
Die BesucherInnen wurden rausgeschickt, konnten aber noch die Schreie ihrer
Angehörigen hören.
Die Nebenkläger: "Der Staat und seine Kriegspolitik ist der
Täter"
In dem vor dem 4. ACM (Adliye Ceza Mahkemesi, Landgericht der 1. Instanz)
eröffneten Prozeß gegen 72 Angehörige der Polizei, Gendarmerie,
des Gefängnispersonals und der Verwaltung vertreten 83 Anwälte
und Anwältinnen der Anwaltskammer Diyarbakir die Nebenklage und die
Angehörigen. Neben den Bedrohungen der Anwälte und Angehörigen
durch die türkischen "Sicherheitskräfte" und Kontraguerilla-Einheiten
ist ihre Arbeit von anderen Problemen begleitet. Da die Anwälte die
Arbeit unentgeltlich machen, stoßen sie z.B. bei den für den
Prozeß unabdingbaren Recherchearbeiten immer wieder an Grenzen ihrer
Möglichkeiten, u.a. da die Angeklagten mittlerweile ihren Dienst in
anderen Städten ableisten. Aber nicht nur die materiellen Probleme
behindern die Prozessarbeit. Auch das systematische Zurückhalten von
Beweismaterialien durch die Staatsanwaltschaft soll eine rückhaltlose
Aufklärung der Tat verhindern. In den Gesprächen mit den Anwälten
betonten sie, daß es ihnen jedoch nicht um eine Verurteilung der
einzelnen Täter ginge. Vielmehr seien die Angeklagten lediglich die
ausführenden Organe der Kriegspolitik Ankaras. "Das Massaker ist ein
Ausdruck des Völkermordes an den Kurden. Der Staat und seine Kriegspolitik
sind die eigentlichen Täter", so ein Sprecher der Anwälte..
Die Angeklagten
In der jüngeren Geschichte der türkischen Gefängnisse
gab es kein solch bestialisches Massaker an politischen Gefangenen. Obwohl
die Fakten und Aussagen der Angehörigen wie die der Überlebenden
eindeutig belegen, daß der Angriff auf einem genau ausgearbeiteten
Plan beruht, versucht der türkische Staat die Ermordung der 10 Gefangenen
herunterzuspielen und als notwendige "Aufstandsbekämpfung" darzustellen.
Es habe sich um eine Gefängnismeuterei gehandelt, die dann niedergeschlagen
wurde. Diese Sichtweise auf das Massaker spiegelt sich in allem wieder:
Die Angeklagten befinden sich gänzlich auf freiem Fuß, üben
zum größten Teil ihren Dienst noch aus, einige sind befördert
wurden, manche Wärter arbeiten weiterhin im Gefängnis von Diyarbakir
oder sind in andere Städten versetzt worden. Nicht einer der am Massaker
Beteiligten wurde aus seinem Dienst entlassen. Insgesamt sind die Angeklagten
auf 33 Städte und Provinzen der Türkei und Kurdistan verteilt!
Außerdem ist es einmalig in der Geschichte der türkischen
Justiz, daß 72 Angehörige des Öffentlichen Dienstes angeklagt
sind. Aber die türkische wie auch europäische Öffentlichkeit
scheint dies kaum zu interessieren. Die Anwälte beklagen dieses Desinteresse:
"Nach Manissa, wo Kinder und Jugendliche gefoltert wurden, hat die ganze
Welt geschaut, nach Diyarbakir schaut kein Mensch. Das ist das Schicksal
des kurdischen Volkes. Ist unser Blut nicht rot?".
Der Prozeß
Am 5. Juni 1998 hatte unsere Delegation nun die Möglichkeit den
6. Prozeßtermin in Diyarbakir zu beobachten. Bevor wir allerdings
in den Zuschauerraum gelangen konnten, mußten wir erstmal eine Reihe
von Schikanen durch die Polizei über uns ergehen lassen, die zweifellos
erst verwirrt und dann sehr ärgerlich waren, daß wir den Prozeß
besuchen wollten. Nachdem uns sämtliches technisches Gerät wie
Fotoapparate, Walkmans und Diktiergeräte abgenommen worden waren sowie
eine halbe Stunde später dann noch unsere Taschen, konnten wir in
den Zuschauerraum. Mit uns zusammen beobachteten ca. 20-30 weitere Personen,
hauptsächlich ebenfalls Anwälte sowie zwei drei Journalisten,
den Prozeß.
Von den zum 6. Prozeßtag vorgeladenen 20 Angeklagten erschien
lediglich einer, nämlich der stellvertretende Gefängnisleiter.
Vor dem Richter versuchte er sich als kleinen Wächter auszugeben,
der ja gar nichts gesehen geschweige denn was damit zu tun gehabt hätte.
Diese Aussagen widersprachen jedoch denen, die er zu einem früheren
Zeitpunkt bei der Polizei und der Staatsanwaltschaft gemacht hat. Da diese
den Anwälten vorlagen, konnten sie seine Aussage widerlegen und beweisen,
daß er als stellvertretender Gefängnisleiter, wenn auch nicht
direkt beteiligt, so doch unmittelbarer Zeuge gewesen ist. Wie wir nach
dem Prozeß erfuhren, zog es ein weiterer vorgeladener Angeklagte
vor, vor dem Gerichtsgebäude gemeinsam mit Polizisten auf Prozeßbesucher
einzuschlagen, denen es verwehrt wurde als Zuschauer teilzunehmen. Das
war seine Art, vor Gericht zur Findung der Wahrheit beizutragen.
Im Anschluß an die Vernehmung des stellvertretenden Gefängnisleiters
wurde der gerichtsmedizinische Bericht vorgelesen, der auf während
der Obduktion angefertigten Videoaufzeichnungen basiert. Aus diesem Bericht
geht eindeutig hervor, daß die 10 Gefangenen durch harte gezielte
Schläge auf den Hinterkopf gestorben sind. Während die Staatsanwaltschaft
weiterhin das Massaker an den Gefangenen als "Aufstandsbekämpfung"
darstellte, gelang es den Anwälten durch den Obduktionsbericht, Fotos
von den Getöteten sowie durch Aussagen von Zeugen und Angeklagten
nachzuweisen, daß es sich bei dem Massaker um eine geplante und professionell
durchgeführte Aktion handelte.
Da es wie oben schon erwähnt immer wieder zu Angriffen auf ProzeßbesucherInnen
kommt, stellten die Anwälte den Antrag, allen BesucherInnen den Zutritt
zum Gericht ungehindert zuzulassen oder im Fall einer Ablehnung des Antrages
die Beobachtung des Prozesses öffentlich zu verbieten. Dieser Antrag
wurde ebenso abgelehnt wie ein schon mehrfach gestellter Antrag, gegen
alle Angeklagte Haftbefehl zu erlassen. Auch der dritte Antrag der Nebenklage,
die Videoaufnahmen der Obduktion im Gericht vorzuführen, wurde abgelehnt.
Der Staatsanwalt begründete seine Ablehnung damit, daß solange
keine Schuld erwiesen sei, auch keine Haftbefehle gegen die Angeklagten
erlassen werden. Lediglich gegen einen Angeklagten wurde Haftbefehl erlassen,
weil dieser bisher noch bei keiner staatlichen Stelle zur Vernehmung erschienen
war. Der Haftbefehl sei aber ausdrücklich nur bis zu seiner Aussage
gültig, danach werde er wieder auf freien Fuß gesetzt. Im Anschluß
hieran wurde der Prozeß vertagt.
Die Überlebenden des Massakers
Mit welcher Menschenverachtung der Staat die Gefangenen behandelt,
demonstriert er an den Überlebenden des Massakers. Die 24 schwerverletzten
Gefangenen wurden nach dem Angriff auf andere Gefängnisse verteilt.
Im Gespräch mit ihren Angehörigen erfuhren wir, daß mittlerweile
von der Staatsanwaltschaft gegen die Überlebenden ein Prozeß
um Schadensersatz angestrengt wurde. "Schadensersatz wofür?", fragten
wir ungläubig. "Für die beim Einsatz der Sicherheitskräfte
kaputtgegangenen Schlagstöcke und für die Reinigung der blutverschmierten
Zellen!", berichtete uns die Mutter eines Überlebenden.
Politische Einschätzung des Prozesses
Wie bereits oben ausgeführt sprechen alle Beweise eindeutig dafür,
daß es sich hierbei nicht um die "Bekämpfung einer Gefängnismeuterei"
handelte, wie es die Staatsanwaltschaft versucht darzustellen, sondern
um eine gezielte Aktion gegen die politischen Gefangenen.
Seit Jahrzehnten kämpfen die politischen Gefangenen in den türkischen
Gefängnissen gegen die Folter und für bessere Haftbedingungen.
Sie kämpfen mit der letzten Waffe die ihnen im Gefängnis bleibt,
ihrem Leben. Es vergeht kaum ein Monat, in dem kein Hungerstreik in den
Gefängnissen stattfindet.
Im Sommer 1996, kurz vor dem Massaker in Diyarbakir, hatte es in den
türkischen Gefängnissen bis zu 69 Tagen anhaltende Hungerstreiks
und Todesfasten der politischen Gefangenen gegeben, bei denen 12 Gefangene
starben. Das dann folgende Massaker in Diyarbakir mußte als Antwort
des türkischen Staates auf die politischen Aktionen, für verbesserte
Haftbedingungen zu kämpfen und zu sterben, verstanden werden, aber
auch als Teil der türkischen Völkermordpolitik am kurdischen
Volk, als Teil der Kriegspolitik.
Wo ist die internationale Öffentlichkeit?
Die Anwälte in Diyarbakir, die hauptsächlich politische Gefangene
vertreten und Prozesse gegen Menschenrechtsverletzungen führen, fordern
die internationale Öffentlichkeit zur Beobachtung des Prozesses auf
und verdeutlichen noch einmal die Besonderheit: "Falls es eine Verurteilung
gibt, wäre dies sehr wichtig, denn dann wäre bewiesen, daß
jeder einzelne Folterer verantwortlich gemacht wird. Obwohl wir wissen,
(...) daß die Folterer und Mörder behaupten, dies für den
Staat zu tun, können wir mit diesem Prozeß in das Zahnrad der
Geschichte eingreifen."
Prison watch international e.V. versucht den Prozeß kontinuierlich
zu beobachten. Wer Interesse an Informationen und Teilnahme an einer Delegation
hat, wendet sich bitte per Fax an die Nummer 0551/63759 oder Tel.: 0551/6339357.
*