Schreiben vom Co-Vorsitzenden der Partei der Demokratischen Einheit (PYD) Salih Müslim zum Weltfriedenstag

An die internationale Öffentlichkeit
An die Mitglieder der Vereinten Nationen
An alle internationalen Hilfsorganisationen

Anlässlich des Weltfriedenstages möchte ich, als jemand der seine Hoffnung auf den Frieden nicht verloren hat, an Sie diesen Brief richten. Der Zweck dieses Schreibens ist es zwar nicht, Ihnen die tragischen Geschehnisse in Syrien der vergangenen drei Jahren zu schildern. Aber während ich hiermit an Sie appelliere, ihrer Verantwortung für ein Ende dieses Dramas einzutreten, möchte ich Ihnen auch mitteilen, wie wir versuchen, unserer Verantwortung hierfür gerecht zu werden.

Als im März 2011 die Bevölkerung Syriens erstmals auf die Straßen ging, um ihren legitimen Forderungen gegen das Assad-Regime Ausdruck zu verleihen, haben auch wir den Aufstand gegen ein System geprobt, das seit Jahrzehnten unsere Bevölkerung unterdrückt und peinigt. Wir haben die Regimekräfte aus den mehrheitlichen kurdischen Siedlungsgebieten im Norden des Landes vertrieben und gemeinsam mit unseren Menschen, der Jugend, den Frauen und den Männern aus Rojava, den Entschluss gefasst, unsere Zukunft von nun an selbst zu gestalten. Sowohl das Regime als auch verschiedene islamistische Gruppen hatten wohl Einwände gegen unsere Entscheidung, denn sie fingen an, uns anzugreifen. Gegen diese Angriffe haben wir von unserem legitimen Recht auf Selbstverteidigung, Gebrauch gemacht. Eine andere Wahl blieb uns nämlich nicht.

In den letzten zwei Jahren haben zunächst Islamisten der Al-Nusra Front, später dann die ISIS bzw. der IS die führende Rolle im Kampf gegen uns übernommen. Wir hatten es hierbei vielfach nicht nur mit Islamisten aus Syrien oder dem Irak zu tun, denn viele ihrer Kämpfer kamen und kommen weiterhin aus Regionen und Ländern wie Tschetschenien, Ägypten, aber auch aus Europa oder sogar aus Australien. Sie sind über Länder hinweg organisiert und nutzen oftmals die Türkei als Transitland. Gegen die Angriffe von diesen Menschen mussten und müssen wir uns verteidigen.

Aber für die Bevölkerung von Rojava steht eines fest, nämlich dass nichts mehr so sein wird, wie es vor dem Ausbruch des Bürgerkriegs gewesen ist. Doch wie wird es dann sein? Um Antworten auf diese Fragen zu finden, haben wir eigene Lösungsvorschläge und Projekte entwickelt. Und dieses Recht auf Selbstbestimmung steht uns, also der Bevölkerung von Rojava, zu.

Wir haben stets gesagt, dass wir uns in einer revolutionären Phase befinden. Unser Verständnis von Revolution spaltet allerdings nicht die Menschen und Gruppen, sondern führt sie zusammen. Das Ergebnis dieses Verständnisses ist, dass die Revolution in Rojava zum Aufbau des Projekts der Demokratischen Autonomie geführt hat; ein Projekt, in welchem die Suryoye, Armenier, Araber, Turkmenen und Kurden aus Rojava gleichermaßen involviert sind und an welchem sie gleichermaßen teilhaben. Aber die Demokratische Autonomie ist zugleich auch ein Projekt, welches sich als Teil eines zukünftigen demokratischen und pluralistischen Syriens versteht. Die Hoffnung auf ein demokratisches Syrien, mit dem die Menschen am Anfang der syrischen Revolution auf die Straßen gegangen sind, wird also heute im Norden Syriens, in Rojava, am Leben erhalten.

Der Aufbau der Demokratischen Autonomie ist nicht, wie es gerne in den Medien dargestellt wird, das Ergebnis eines Alleingangs der PYD. Mehr als 50 Parteien und Organisationen der Suryoye, Armenier, Araber, Turkmenen und Kurden haben dieses System mit aufgebaut und setzen es heute tagtäglich um. Im Januar 2014 haben diese Träger der Demokratischen Autonomie mit der Einwilligung der Bevölkerung den Aufbau und die Umsetzung dieses Gesellschaftsmodells in den drei Kantonen Afrin, Kobanê und Cizîrê beschlossen und den Gesellschaftsvertrag verabschiedet.

Rojava scheint derzeit in Syrien der letzte Hoffnungsfunke der syrischen Revolution. Während der Rest des Landes von Krieg und Gewalt dominiert wird, wodurch hunderttausende Menschen aus ihrer Heimat zur Flucht gezwungen werden, ist es in Rojava gelungen, vielen dieser notleidenden Menschen aus den übrigen Teilen Syrien zumindest eine sichere Obhut zu geben. Auch das ist ein Ergebnis unserer Auffassung von Revolution. Was in Rojava passiert, ist keine “nationale Revolution”, sie ist der Ausdruck des stetigen Beharrens auf dem Grundsatz der Geschwisterlichkeit der Völker, entgegen aller ethnisch und religiös geschürten Konflikte in der gesamten Region.

Doch ich muss auch dazu sagen, dass wir von der internationalen Gemeinschaft allein gelassen worden sind. Wir haben weder eine notwendige politische Unterstützung noch eine ausreichende humanitäre Hilfe erhalten.

Aktuell sehen wir uns mit noch größeren Flüchtlingsströmen nach Rojava konfrontiert. Denn hunderttausende Kurden aus Şengal, Turkmenen aus Tal Afar und Suryoye aus Karakosch mussten ihre Heimat im Norden des Iraks notgedrungen verlassen. Auch sie waren und sind nämlich den Angriffen der menschenverachtenden Organisation “Islamischer Staat” ausgesetzt. Da diese Gruppen über keine Selbstverteidigungseinheiten verfügten, konnten sie den Angreifern auch wenig entgegen setzen. Ihnen blieb also nichts anderes übrig, als zu flüchten oder sich der Gefahr auszusetzen, massakriert zu werden.

Wären die Kämpfer der YPG und YPJ, die seit zwei Jahren für die Verteidigung von Rojava verantwortlich sind, nicht über die irakische Grenze nach Şengal geeilt, hätten wohlmöglich neben tausenden Turkmenen und Suryoye auch die rund 200.000 êzîdischen Kurden aus der Stadt den Vormarsch des IS nicht überlebt. Denn diese Menschen hatten es gerade so zu Fuß auf den Şengalgebirge geschafft, um sich vor den Islamisten zu retten. Der YPG und YPJ gelang es diese Menschen, trotz dutzender Verluste in den eigenen Reihen, über einen Fluchtkorridor vom Gebirge wieder herunter und zehntausende von ihnen sicher nach Rojava zu bringen.

Auch wenn Rojava auf den Landkarten kaum größer als ein kleiner unscheinbarer Fleck aussieht, das Gesellschaftssystem, das wir auf diesem Flecken derzeit aufbauen, bildet heute das andere Gesicht dieser Region ab. Dieses kleine Fleckchen auf der Landkarte hat in den letzten Tagen wieder zehntausenden Menschen eine Obhut gegeben und Schutz vor einer menschenverachtenden Organisation wie der IS geboten.

Und wir sind der Überzeugung, dass wir mit unserem System nicht nur uns selbst Schutz und Obdach sondern auch den hunderttausenden nach Rojava geflüchteten Menschen dasselbe bieten könnten, wenn es diesen Krieg nicht gäbe, den unmenschlichen und barbarischen Angriffen der IS Einhalt geboten werden könnte und das Embargo gegen Rojava durchbrochen werden würde. Doch so sind wir derzeit einem Kampf um Leben und Tod ausgesetzt. Es vergeht kein Tag ohne Krieg, ohne Meldungen von neuen Toten, von Flucht und von Vertreibung.

Wir fordern die Weltöffentlichkeit dazu auf, das Schweigen hiergegen endlich vollständig zu durchbrechen. Denn solange außerhalb Syriens und des Iraks geschwiegen wird, eben solange wird das Morden und Töten innerhalb der beiden Länder stetig zunehmen. Während in den Vereinten Nationen, in der EU und anderswo über mögliche Hilfen debattiert wird, schreiten die mordenden Gruppen des IS weiter voran und zerstören das Leben vieler weiterer Menschen und Familien. Während ihr weiter schweigt, werden weitere Seiten einer Tragödie geschrieben, in welchem die Leidtragenden die Völker des Nahen und Mittleren Ostens sind.

Für uns reicht es schon lange nicht mehr aus, dass in New York, Genf, Brüssel, London, Berlin, Paris, Istanbul die Diskussionen nicht über eine scheinbare Anteilnahme am Leid der Menschen hinausgeht. Wenn Sie wirklich vom Leid der Menschen betroffen sind, dann fordern wir Sie auf zu handeln. Lassen Sie uns gemeinsam den Menschen helfen, die von Flucht und Vertreibung betroffen sind. Die Hilfsleistungen alleine auf den Irak zu beschränken, also vor den Toren Rojavas zu stoppen, wäre fatal. Diese künstlich geschaffenen Grenzen haben dieser Tage ihre Bedeutung in der Region verloren.

Und ich habe Ihnen von Rojava berichtet, wie es die Hoffnung für ein demokratisches Syrien entgegen aller Angriffe am Leben erhält, wie es mit seinen äußerst begrenzten Mitteln versucht, zehntausenden notleidenden Menschen Schutz und eine Obdach zu gewähren. Der deutsche Bundestagsabgeordnete Jan van Aken, der die Region Anfang 2014 besuchte, bezeichnete Rojava als Hoffnungsschimmer des Mittleren Ostens. Wir teilen die Meinung von Herrn van Aken und sind davon fest überzeugt, dass es höchste Zeit ist, dass die internationale Gemeinschaft die Demokratische Autonomie von Rojava anerkennt.


Im Namen der Völker, die in den Kantonen von Rojava leben

Co-Vorsitzender der PYD
Saleh Moslem Mohamed
Qamişlo, 01.09.2014