Agit und die Mühen der Ebenen

Auf unserer Reise durch Rojava, das freie Westkurdistan, treffen wir in Rimelan auf Agit. Sie soll für uns dolmetschen. Sie ist ausgebildete Journalistin und spricht fließendes Englisch. Agit ist eigentlich ein Männername. Ja, ihr Vater sei schon lange bei der kurdischen Bewegung und habe seine Kinder nach großen Kommandanten in der PKK benannt. Ihre Schwester heiße Bahoz, auch ein typischer Männername. Wegen dieses Namens habe sie viele Schwierigkeiten gehabt. Und wenn sie Artikel geschrieben habe, hätten immer alle geglaubt, sie wären von einem Mann geschrieben worden.

Sie schwärmt von ihren vielen Kontakten ins Ausland. Ihre Fingernägel sind im Nagelstudio gemacht, ziemlich ungewöhnlich in der Kleinstadt Rimelan. „Ich bin eben Agit“, sagt sie, ich lebe, wie es mir gefällt, die Frauen in der kurdischen Bewegung sähen doch alle gleich aus, das sei nicht ihre Sache. Sie habe das Buch von Abdullah Öcalan gelesen: Soziologie der Freiheit. Auch viele KommilitonInnen hätten es gelesen. „Er hat alles beschrieben, wir jede einzelne Kommune aufgebaut wird, wie die Frauen sich organisieren sollen, es ist einfach wunderbar, es ist so umfangreich und die Lösung für alle Probleme“, schwärmt sie, „wir waren so begeistert und konnten es gar nicht glauben.“ Sie habe dann einige Monate als Korrespondentin bei der neu aufgebauten Nachrichtenagentur Hawar News gearbeitet. Aber das habe ihr nicht gefallen. Von morgens bis abends habe sie Nachrichten schreiben müssen, obwohl sie gerne Reportagen und Dokumentarfilme gemacht hätte. Dafür hätte sie viele Vorschläge gemacht, aber dann immer nur gehört, es sei dafür zu früh. Jetzt sei die Nachrichtenarbeit wichtig. Viele StudentInnen wie sie seien begeistert von der Revolution gekommen, um mitzuhelfen, aber dann hätten sie gesehen, dass sie sich nicht hätten verwirklichen können.

Die Gefahr bestünde, sagt sie, dass alle zur Gegenseite, zur Konterrevolution gingen, wenn sie ihre Träume in der Revolution nicht verwirklichen könnten. Die Gegenseite, das ist die KDP, die Regierung von Südkurdistan, deren größter Traum ist, die Öl- und Weizenregion Cezîre unter ihre Kontrolle zu bekommen. Gemeinsam mit der Türkei setzen sie ein Totalembargo gegen die befreiten Kantone von Rojava um. Sie unterstützen auch Anschläge und sogar die radikalislamischen Dschihadisten der ISIS, um die Übergangsregierung in Rojava zu destabilisieren. Gerade vor zwei Tagen ist ein Verantwortlicher für diverse Bombenanschläge in der Kleinstadt Tibespi gefasst worden, der zugeben hat, mit einem Komplizen mehrere Bomben gelegt zu haben, dabei sind mindestens fünf Menschen getötet worden. Er ist Mitglied der KDP Syrien.

„Die Intellektuellen brauchen immer eine Spielwiese, wenn man sie ihnen nicht gibt, dann sind sie eine wirkliche Gefahr“, so ein Freund. Agit verlangt aber sehr viel. Zwei ihrer Geschwister studieren in Damaskus und im Libanon, einer ist bei der YPG. Sie erzählt mir, dass es gar kein Problem sei, von Damaskus nach Qamislo zu fliegen, wenn man Beamte im Regime kenne und sie bestechen würde, die Flüge seien teuer, und sie müsste ihre Familie jetzt unterstützen. Sie habe nicht solange studiert, um jetzt ohne Bezahlung nur für Essen, Unterkunft und ein Taschengeld so viel zu arbeiten.

Sie vergisst dabei, dass die Revolution im Moment nur funktioniert, weil zehntausende junge Menschen nur für ein Taschengeld oft 24-Stunden Schichten an Kontrollpunkten Wache schieben, damit es nicht zu Anschlägen der Radikalislamisten kommt. Weil Tausende sich ohne Bezahlung in Stadtverwaltungen um die Anliegen der Menschen kümmern, und diese oft nicht befriedigen können, weil es an allem fehlt, vor allem an Geld, Baumaschinen und Ersatzteilen.

„Fast alle meine Freunde sind ins Ausland gegangen“, so Agit, „ich habe in den vier Jahren nur für die Revolution gearbeitet, meine Begeisterung vom Anfang ist verflogen. Meine Freunde führen im Ausland ein schönes Leben, haben geheiratet. Ich will gar nicht heiraten, das ist nicht mein Traum, aber ich habe das Gefühl ich verpasse etwas.“ Mit den YPG- KämpferInnen, die von einem Einsatz zum nächsten fahren und täglich ihr Leben im Kampf mit den Dschihadisten oder dem Regime einsetzen, will sie sich ohnehin nicht vergleichen.

Noch vor einigen Tagen haben wir mit einigen VertreterInnen der Übergangsregierung diskutiert, wie wichtig es sei, dass Informationen in Englisch veröffentlicht werden, um der Antipropaganda der KDP-Nachrichtenagentur Rudaw etwas entgegenzusetzen. „Dafür fehlen uns die Leute“, so eine Vertreterin von Tev-Dem. Rudaw kann ihre Leute sicher fürstlich bezahlen, denn die südkurdische Regionalregierung hat 17 % der Öleinnahmen des Irak zur Verfügung und sie wollen sich 100 % von Cezîre einverleiben.

Es fehlt in Rojava in allen Bereichen an Fachkräften. Viele kurdische IngeneurInnen, UmwelttechnikerInner, ÜbersetzerInnen und andere befinden sich in Europa oder haben dort studiert. Jetzt wäre die Zeit für viele hierher nach Rojava zu kommen und bei der historischen Aufgabe mitzuhelfen eine neue Gesellschaft aufzubauen, Bezahlung soll man allerdings nicht erwarten.

Rojava, Delegation der Kampagne TATORT Kurdistan, Mai 2014