Serê Kaniyê zwischen Krieg und Aufbau

Vom 11. bis 13.05.14 besuchten wir die kurdische Stadt Serê Kaniyê. Serê Kaniyê ist eine Stadt, die auf besondere Weise das Leid und die Unterdrückung der kurdischen Bevölkerung ausdrückt. Sie wurde durch die jüngere Geschichte als „Festung des Widerstands“ bekannt.

Nach dem Vertrag von Sykes Pikot 1916 zogen die Kolonialmächte ihre Grenze mitten durch die Stadt und die dort lebenden Menschen. Die kurdische Bevölkerung wurde verleugnet und südlich der Grenze arabisiert, nördlich der Grenze vom türkischen Staat verleugnet. Der syrische besetzte Südteil von Serê Kaniyê wurde in Ras Al Ayn und der türkisch besetzte Nordteil in Ceylanpinar umbenannt. In Serê Kaniyê leben neben KurdInnen, AraberInnen, Suriyani, ArmenierInnen und TschetschenInnen.
Die Region Serê Kaniyê bildet im Moment die westliche Grenze des Kantons Cizîre. Hinter der Grenze liegen arabische Dörfer, die im Rahmen der Vertreibungs- und Umsiedlungskampagne der kurdischen Bevölkerung unter dem Namen „arabischer Gürtel“ aufgebaut wurden. Der arabische Gürtel ist etwa 120 Kilometer lang. Die dort in den 1960er Jahren angesiedelten arabischen Dörfer, die den umkämpften kurdischen Kanton Kobanê von Cizîre trennen, sind Stützpunkte der Banden von ISIS. In der Stadt Til Abyad befindet sich einer der wichtigsten Grenzübergänge zur Türkei, über den die Banden logistisch unterstützt werden.

Insbesondere während des Krieges um Serê Kaniyê war die Versorgungslage in Serê Kaniyê prekär, da die Djihadisten besonderen Wert darauf legten, die Stadt von Wasser und Strom abzuschneiden. Mittlerweile gibt es etwa 17,5 Stunden Wasser und Strom täglich und die kriegsgezeichnete Stadt wird wieder aufgebaut.

Der Krieg um Serê Kaniyê

Serê Kaniyê ist eine vom Krieg gezeichnete Frontstadt. Mittlerweile liegt die Front zu den islamistischen Banden, welche zeitweise die Stadt vollständig kontrollierten, etwa 25 Kilometer entfernt in der Nähe der von ISIS besetzten Kleinstadt Mabruka.

Während in den anderen Orten die Befreiung vom Regime relativ ruhig von statten ging, überschritten im November 2012 etwa 3.000 schwerbewaffnete Al-Qaida-Kämpfer der Al-Nusra-Front die türkische Grenze und besetzten nach viertägigen Kämpfen die Stadt. Der Staat hatte sich inzwischen zurückgezogen. Große Teile der Bevölkerung waren schon geflohen, unter den Resten der Bevölkerung errichtete die Al-Nusra-Front eine Terrorherrschaft, vermeintliche und reale Anhänger des Regimes wurden öffentlich hingerichtet, die Bevölkerung wurde drangsaliert und misshandelt. Nur das östlichste Viertel von Serê Kaniyê, Sinah, leistete weiter entschlossen Widerstand. Es waren allerdings zu diesem Zeitpunkt nur 39 KämpferInnen der Volksverteidigungseinheiten YPG in der Stadt und vom Nachschub abgeschnitten.

Am 18. November kam es zu einem Angriff von Al-Nusra auf einen Kontrollpunkt der YPG, wobei die Nusra-Anhänger eine Fahne des Kurdischen Hohen Rates verbrannten. Daraufhin sollte es zu Gesprächen kommen, aber Hevale Abid, der Vertreter des Volksrats wurde bei diesem Treffen von Djihadisten ermordet. Es folgte eine Phase heftigster Auseinandersetzungen, die sich mit Waffenstillständen abwechselte. 35 YPG-KämpferInnen kamen bei diesen Auseinandersetzungen ums Leben. Nach fünf Phasen von Waffenstillstand und offenen Krieg war die YPG schließlich so stark geworden, dass sie zusammen mit der bewaffneten Bevölkerung im Juni 2013 Al-Nusra aus der Stadt jagen konnte. Mit ihnen flohen viele Profiteure des Krieges, die sich in der Hoffnung auf Beute den Banden angeschlossen hatten.

Die Befreiung von Til Xelef

Nur etwa fünf Kilometer von Serê Kaniyê entfernt liegt der historische Ort Til Xelef (Tell Halaf). Dieser Ort war bis in den November 2013 hinein noch von den Banden besetzt und diente ihnen als Artilleriestellung zur Bombardierung von Serê Kaniyê. Vor der Offensive der YPG kam es zu einem wochenlangen Stellungsgefecht mit Einheiten der Al-Nusra. Es waren teilweise nur 50 Meter zwischen den Fronten, an denen die Auseinandersetzung mit schweren Waffen stattfand. Das Dorf Keschte erlitt dabei schwere Schäden, als die Bevölkerung zusammen mit der YPG und YPJ gegen die Banden verteidigte. In der Folge zogen die Einheiten der YPG nach Til Xelef. Als die Offensive der YPG begann, zogen die Banden sich zurück. Til Xelef ist vorwiegend von arabischer Bevölkerung bewohnt. Die Bevölkerung, welche unter der Willkürherrschaft der Banden sehr zu leiden gehabt hatte, begrüßte die YPG mit Parolen.

Die Situation in Til Xelef – Terror, Plünderung und Zerstörung von Kulturgütern

Til Xelef ist eine Kleinstadt mit vorwiegend arabischer Bevölkerung, die sich an den Hügel von Tell Halaf schmiegt, einen weltweit berühmten spätneolithischen und antiken Siedlungsplatz. Sogar eine Epoche, die Halafzeit ab dem 6. Jahrtausend v. u. Z., ist nach der Keramik auf dem Hügel bekannt. Der Hügel liegt mitten am Rand der Stadt, vor ihm befindet sich ein Kontrollpunkt der kurdischen Sicherheitskräfte. Das Sicherheitszentrum der Asayis am Tell Halaf ist nur noch eine Ruine. Zwei Wochen hatte ISIS hier und vor der Stadtverwaltung in Serê Kaniyê einen Selbstmordanschlag verübt. Bei dem Anschlag starben insgesamt elf Menschen, sechs davon ZivilistInnen. Die Selbstmordattentäter kamen diesmal aus Algerien. Uns wird berichtet, dass es bisher noch keinen Selbstmordanschlag in Rojava gab, der von einem syrischen Staatsbürger ausgeführt worden war.
Später werden wir auch die Tochter eines der ermordeten Asayis-Mitglieder treffen, sie arbeitet mittlerweile für die Ordnungskräfte der Stadtverwaltung, die Zabita, sie hat zwei Schwestern und einen Bruder.

Viele erklären uns, dass ISIS und Nusra, nachdem sie militärisch nicht siegen konnten, auf eine Strategie des Terrors zurückgreifen.
Auf dem Hügel des Tell Halaf, wo einst in der Antike der aramäische Palast des Kapara stand, sind die Verwüstungen durch die Banden kaum zu übersehen. Die Banden scheinen Befestigungen auf dem Hügel angelegt zu haben und viele Kulturgüter aus der Region verkauft zu haben. Kräfte der Asayis konnten bei Bandenangehörigen zwei Lastwagenladungen mit antiken Funden, nach der Beschreibung teilweise aramäische Skulpturen, sicherstellen.

Die Front bei Til Xenzir

Je weiter man sich von Serê Kaniyê aus westlich bewegt, desto näher kommt man der Front. Die Straße windet sich durch weite Kornfelder und Dörfer, bis man beim befestigten Hügel von Til Xenzir ankommt, der von der YPG/YPJ einen Monat zuvor erobert wurde. Seitdem befindet sich die Front hier. Vom Gipfel des Hügels sind die Stellungen der Djihadisten in den Vororten der Kleinstadt Mabruka sichtbar. Von hier aus sind es etwa 100 Kilometer bis zum von Djihadisten belagerten Kobanê. Es ist im Moment nicht möglich, diesen Streifen zu durchqueren. Etwas mehr als einen Steinwurf entfernt liegt die türkische Grenze. Seit der Hügel von Til Xenzir nicht mehr unter der Kontrolle von Al-Qaida/ISIS ist, sind an der türkischen Grenze Panzer aufgezogen. Der Hügel wird nachts von der Türkei angestrahlt, was den Banden die Beobachtung der Bewegungen der YPG erleichtert. Immer wieder kommt es zu Gefechten. Während wir uns auf dem Hügel befinden, hören wir in der Ferne die Geräusche von Mörsergranaten.

Orhan ist im Paradies

In den vordem von den Djihadisten besetzten Dörfern war uns gezeigt worden, dass die Banden alles mitgenommen hatten, was tragbar war, der Rest ist zerstört worden. Selbst Sicherungen waren ausgebaut und Kabel aus den Wänden gerissen worden. Der Kommandant der Stellung von Til Xenzir zeigte uns den Ort Demhani hinter der türkischen Grenze, in dem sich der Schwarzmarkt der Banden befindet. Auf dem Markt von Demhani verkaufen die Djihadisten unter den Augen der türkischen Armee und des türkischen Staates das Raubgut aus den geplünderten Dörfern von Rojava ganz öffentlich – vom Wasserhahn, bis hin zur Haustür. Die Djihadisten können jederzeit je nach Bedarf die Grenze zur Türkei überqueren. Dafür gibt es dutzende AugenzeugInnen in den Reihen von YPJ/YPG. Gerade vor einigen Tagen wurden 22 LKWs herübergeschafft. Auch Augenzeugen aus Nordkurdistan/Türkei berichten über verletzte Djihadisten in türkischen Krankenhäusern. Mittlerweile wurde durch Kontrollen und Leaks bekannt, dass die Türkei über 1000 LKWs mit Waffen nach Syrien schickte, direkt in die Hände von ISIS und Nusra.

Immer wieder ist zu beobachten wie sich hier Einheiten der Djihadisten mit Fahrzeugen an der türkischen Grenze treffen und Dinge ausgetauscht werden. So zum Beispiel am 22.01.14: Etliche Fahrzeuge von Al-Nusra drangen über die Grenze von der Türkei/Nordkurdistan nach Rojava ein und töteten zwei Kämpfer der YPG. Dies alles geschieht von einem NATO-Staat aus, etwa 50 Kilometer von stationierten deutschen Soldaten entfernt.

Kämpferinnen des örtlichen unabhängigen YPJ-Bataillons zeigen uns Dolche, die die Dschihadisten in ihren Stellungen zurückgelassen hatten. „Damit haben sie gefallenen YPG Kämpfern die Kehlen durchgeschnitten. Es waren viele Türken bei den Toten, einer hatte ein Telefon. Wir haben angerufen, es war eine türkische Stimme, die fragte: Bist du es Orhan? Wir haben gesagt: Orhan ist jetzt im Paradies.“

Die Stadtverwaltung von Serê Kaniyê

Die Stadtverwaltung von Serê Kaniyê befindet sich in einem provisorisch eingerichteten Verwaltungsgebäude. Die MitarbeiterInnen organisieren die dringendsten Bedürfnisse der Bevölkerung nach Wasser, Brot und Kraftstoff. Eine Mitarbeiterin der Finanzabteilung, etwa um die zwanzig Jahre jung, erklärt uns: „Wir sind als Freiwillige gekommen und arbeiten auch ohne Lohn. Wir haben gesehen, die Stadt ist zerstört und wir wollten helfen. Wir haben Möbelspenden gesammelt, um die Stadtverwaltung einzurichten. Jetzt haben wir hier einen Stuhl, einen Tisch und einen Schreibtisch. Wir haben am Anfang nicht verstanden, was wir machen, aber wir lernen es durch die Praxis.“
Auch das System der Rätedemokratie hat schon begonnen eine zentrale gesellschaftliche Rolle einzunehmen. Es gibt Räte in jedem Dorf. KurdInnen und auch AraberInnen bauen es Schritt für Schritt auf. Die Dörfer sind an den Stadtrat angebunden.

Eine weitere wichtige Aufgabe der Stadtverwaltung ist die Verteilung des ehemaligen Staatslandes an Bedürftige und Flüchtlinge. Durch die Politik des arabischen Gürtels und des Staatsbürgerschaftsentzugs für zehntausende KurdInnen sind viele Familien ohne Land der Armut ausgesetzt. Nun wird das ehemalige Staatsland von den Räten an diese Gruppen zunächst befristet verteilt. 30 % der Einkünfte aus dem Land gehen an die Räte, während 70 % bei den LandarbeiterInnen bleiben. Bei der Vergabe von Land werden Kooperativen bevorzugt. Häufig werden auch insbesondere Familien mit Gefallenen mit Land versorgt. Dabei wird das Land entsprechend einem an der Größe der Familie orientierten Schlüssel verteilt. So konnten in der Region Serê Kaniyê schon etwa 10.000 Dönüm Land verteilt werden.

Das Gebäude der Stadtverwaltung selbst ist ebenfalls durch den Bombenanschlag zwei Wochen zuvor beschädigt worden und die Reparaturen an Wänden und Fenstern laufen auf Hochtouren. Alle können von dem Anschlag, dem Schrecken, den Verletzungen berichten. Wir sehen Videos, welche die MitarbeiterInnen nach dem Anschlag gedreht hatten, auf denen die Zerstörung und herumliegende Körperteile des Attentäters zu sehen sind.

Perspektiven für Serê Kaniyê – Aufbau trotz Embargo und Krieg

Mittlerweile sind etwa 80 % der Bevölkerung von Serê Kaniyê zurückgekehrt und versuchen ein neues Leben, trotz der schlechten Versorgungslage, aufzubauen. Die finanzielle Lage der Region ist extrem schlecht, da sie trotz blühender Landwirtschaft vom Handel durch das Embargo abgeschnitten sind. Angebaut werden in Serê Kaniyê vor allem Weizen und Baumwolle. Das Wasser für die Felder muss aus 200-500m Tiefe gepumpt werden. Durch das Embargo und den Krieg gab es große Probleme, denn die Pumpen konnten nicht mehr arbeiten, da sie vom Strom abgeschnitten waren. Mittlerweile laufen sie mit Dieselgeneratoren. Diesel wird mit Hilfe des Öls aus der Region Rimelan selbst raffiniert. Doch noch immer herrscht ein Mangel an größeren Generatoren um die Lärm- und Umweltbelastung möglichst gering zu halten und eine kontinuierliche Versorgung zu gewährleisten.

Im Moment konnten erst wenige der ökonomischen Projekte in der Region verwirklicht werden, unter anderem eine von der Frauenbewegung initiierte Frauenbäckerei.

Der für das Referat Ökonomie zustände Vertreter der Rätebewegung Suleyman Pote stellt uns die Projekte für die Region Serê Kaniyê vor. Die Ökonomie soll regional orientiert sein. Es soll ein Einkaufszentrum für regionale Produkte als Kooperative organisiert werden. Die Preise sollen dabei 15 % unter dem Normalpreis liegen. Weiterhin ist für Serê Kaniyê der Ausbau einer Textilfabrik geplant, um die Baumwolle regional verarbeiten zu können um damit die Kleidungsproduktion in der Region zu unterstützen. Auch sie soll als Kooperative organisiert werde. Aufgrund des Embargos stehen aber die Maschinen zur Weiterverarbeitung der Baumwolle nicht zur Verfügung.

Für unsere Delegation war es sehr beeindruckend, wie die Menschen Serê Kaniyê nach der massiven Zerstörung wieder aufbauen und versuchen ihr Leben auf einer neuen Basis zu organisieren. Es ist von entscheidender Bedeutung, dass der Kampf der Menschen in Serê Kaniyê nicht vergessen wird und der Aufbau der Kooperativen die notwendige Unterstützung auch in Deutschland und Europa findet.

Rojava, Delegation der Kampagne TATORT Kurdistan, Mai 2014