Eine kurze Lageeinschätzung zu den Protesten in der Türkei

Sevim Dagdelen (MdB, DIE LINKE, Sprecherin für Internationale Beziehungen), 04. Juni 2013
Hintergrund und politische Lage in der Türkei

Ministerpräsident Erdogan ist seit über 10 Jahren mit der AKP an der Macht. Diese Zeit war von einem wirtschaftlichen Aufschwung (zu Lasten der Mehrheit), einer neo-osmanischen Außenpolitik und einer schleichenden Islamisierung der Politik geprägt. Außerdem baute Erdogan in dieser Zeit seine Macht (etwa ggü. dem Militär) beständig aus und regierte zunehmend autoritär, Oppositionelle und Intelektuelle werden u.a. im Zuge von Anti-Terror-Gesetzen verfolgt und zu teilweise absurden und hohen Haftstrafen verurteilt – eine funktionierende Gewaltenteilung existiert nicht. Gegenwärtig arbeitet die Regierung an einer Reform der Verfassung, die dem künftigen Staatspräsidenten eine noch wichtigere Rolle zugestehen soll, in den vergangenen Wochen wurde bekannt, dass Erdogan, der dieses Amt anstrebt, als Ministerpräsident hätte er nicht mehr antreten können.

Sozial-, Stadt- und Symbolpolitik
Mithilfe dieser autoritären Politik werden (von der EU unterstützt im Zuge der Beitrittsverhandlungen) neoliberale Programme durchgesetzt, insbesondere Privatisierungen von Staatsbetrieben und öffentlichen Dienstleistungen. Die dadurch steigenden Arbeitslosenzahlen und Verelendung breiter Bevölkerungsschichten wurden früh im Zusammenhang mit steigenden Mieten thematisiert und führten zu Auseinandersetzungen um Bau-, Sanierungs- und Privatisierungsprojekte. In jüngster Zeit kamen außerdem zahlreiche Bauprojekte hinzu, welche – wie die Privatisierungen – sehr eng mit dem ehemaligen Istanbuler Bürgermeister Erdogan persönlich verknüpft sind und zu Vorwürfen führten, er wolle sich in osmanischer Manier Denkmale schaffen, um seine Macht und den türkischen Führungsanspruch in der Türkei zu untermalen: Die 3. Bosporusbrücke, der Kanal vom Schwarzen Meer zum Marmarameer und die Trabantenstadt „Istanbul Metropolitan“, die geplante Errichtung einer Großmoschee auf dem Camlica-Hügel und nun der Bau einer Einkaufsmeile auf dem Gelände des Gezi-Parks, die an die osmanische Topcu-Kaserne erinnern soll, welche unter Atatürk abgerissen wurde. Vor diesem Hintergrund wird verständlich, warum der Konflikt um einen der letzten Parks Istanbul so schnell mit sozialen Fragestellungen aufgeladen hat und die Proteste sich auf Erdogan und „seine“ AKP zuspitzen. Verschärfend kommen das kürzlich erlassene Alkoholverbot für ganze Stadtteile hinzu sowie die symbolische Aufladung des an den Gezi-Park grenzenden Taksim-Platzes, der eine lange Geschichte antiimperialistischer Kundgebungen hat und den die Gewerkschaften alljährlich zum 1. Mai gegen polizeiliche Repression zu erobern suchen.

Proteste und Repression
Am 28. Mai 2013 errichteten etwa 50 Umweltaktivisten erste Zelte zu einem Protestcamp gegen die beginnenden Bauarbeiten. Bereits hier kam es zu unverhältnismäßigen Gewaltanwendungen der Polizei, während gleichzeitig Zweifel aufkamen, ob überhaupt eine Baugenehmigung vorlag. Die Oppositionsparteien CHP und BDP sowie Künstler und Intellektuelle äußerten ihre Unterstützung für den Protest. Am 30. und 31. Mai greift die Polizei erneut den Platz an, während sich immer mehr Menschen solidarisieren und es zunehmend zu Gegenwehr kommt. Am 31. Mai kommt es auch zu schweren Verletzungen unter prominenten Abgeordneten und Gewerkschaftern, mehrere Menschen erblinden und eine Frau stirbt Berichten zu Folge nach dem Beschuss durch Tränengasgranaten. Es kommt zu schweren Auseinandersetzungen in den angrenzenden und später auch entfernteren Stadtteilen. Fahnen und Sprühereien lassen auf eine sehr starke Beteiligung kommunistischer und anarchistischer Gruppen sowie von Fußballfans schließen, es sollen sich jedoch tw. auch Kemalisten und Nationalisten beteiligen. Früh kommen Gerüchte auf, dass das Militär die Proteste tendenziell unterstützt, vom nahe gelegenen Gümüşsuyu Militärkrankenhaus sollen Gasmasken ausgegeben worden sein, jedenfalls wurden dort Verwundete behandelt und vor dem Zugriff der Polizei geschützt. Viele Ärzte melden sich freiwillig und in Moscheen, Geschäften und Hotels werden Krankenstationen eingerichtet. Am 1. Juni weiten sich die Proteste auf andere Städte aus und richten sich dort vorwiegend gegen Gebäude der AKP (bzw. das Parlament in Ankara). In diesen Städten geht die Polizei oft noch rabiater gegen die Demonstrierenden vor, als in Istanbul. Dort zog sich die Polizei zwischenzeitlich vom Taksim-Platz zurück, nachdem Erdogan einen „teilweise unverhältnismäßig hartes Vorgehen“ der Polizei eingeräumt, zugleich aber zum Ende der Proteste aufgerufen hat. Bis Sonntagabend meldet Amnesty International mindestens 1.000 Verletzten, ebenso viele Verhaftete und mindestens zwei Toten. In mehreren Fällen wurde der Einsatz scharfer Waffen durch die Polizei dokumentiert. Ärzte berichten tlw. von Verletzungen durch ein „farbloses Gas“ mit dem u.a. eine zum Krankenhaus umfunktionierte Moschee angegriffen worden sei. Am Morgen des 3. Juni, bevor Erdogan auf eine Nordafrika-Reise aufbrach, verschärfte er noch einmal den Ton, sprach von "extremistischen Elementen", mit denen der Geheimdienst schon "abrechnen" werde. Gleichzeitig ging Staatspräsident Gül, ebenfalls AKP, vordergründig auf Distanz zu ihm (er soll auch den Rückzug der Polizei vom Taksim-Platz angeordnet haben), einige sprechen von einem Machtkampf innerhalb der AKP, der sich im Zuge der Proteste entfalte (SPON). Die Regierung kann sich nur auf die Polizei und die (mit der EU gut vernetzte Gendarmerie) verlassen, das nach wie vor tendenziell kemalistische und mit der NATO bestens vernetzte Militär könnte im Falle eines Eingreifens putschistisch agieren.

Internationale Reaktionen und Analysen
In der westlichen Presse herrscht zunächst große Sympathie für die Proteste, der Guardian etwa spricht von einem „türkischen Frühling“. Dabei herrscht das Bild einer säkularen Opposition gegen eine sich zunehmend islamisierende Regierung vor. Die Neue Züricher Zeitung etwa sieht auch einen Zusammenhang mit der „türkischen Syrien-Politik, die das Land polarisiert“. Cemal Burak Tansel, Politikwissenschaftler an der University of Nottingham, spricht von einer Auflehnung gegen den „Autoritären Neoliberalismus“ der AKP.
Die Bundesregierung hat sich am 01.06.2013 erstmals über Menschenrechtsbeauftragten Löning geäußert: "Ich verfolge die Entwicklungen in Istanbul und anderen Städten in der Türkei mit Sorge. Die Meinungs- und Versammlungsfreiheit sind in einer Demokratie zentrale Grundrechte, die es zu wahren und zu schützen gilt. Besonnenheit und Deeskalation auf allen Seiten sind das Gebot der Stunde." Die EU-Außenbeauftragte Catherine Ashton meldete sich am 02.06.2013 ähnlich kurz gehalten, die Unverhältnismäßigkeit der Polizeigewalt jedoch überraschend klar benennend. Bundeskanzlerin Merkel zeigte sich „besorgt“ und forderte über Regierungssprecher Seibert ein „besonnenes Vorgehen“ der Sicherheitskräfte bei Respektierung der Meinungs- und Versammlungsfreiheit.

Analyse
Für eine Prognose, ob sich die Proteste weiter ausweiten und weitere Forderungen aufnehmen werden, ist es bislang zu früh. Ob der Konflikt um den „Gezi-Park“ eine passende Gelegenheit für einen nachhaltigen und wachsenden Widerstand bietet, kann man heute nicht vorhersagen. Im Moment ist gut denkbar, dass die AKP die Proteste nutzt, um interne Konflikte auszutragen. Auffallend ist, dass die NATO-Partner eine gewisse Destabilisierung der AKP-Regierung fast zu begrüßen scheinen, im Falle einer weiteren Destabilisierung könnten sie über das Militär wahrscheinlich sogar direkter Einfluss nehmen. Allerdings ist die Dynamik der Massenproteste beeindruckend und könnte auch zu progressiven Entwicklungen führen. Auf jeden Fall sind die EU-Beitrittsverhandlungen mit dieser Regierung, die so repressiv gegen ihre Bevölkerung vorgeht und autoritär regiert, umgehend einzustellen. Alle Versuche trotz derartigen systematischen Menschenrechtsverletzungen, weitere EU-Beitrittskapitel mit der Türkei zu eröffnen, wie es die EU-Kommission, unterstützt von Bundesregierung und französischer Regierung, für den Sommer plant, würden regelrecht als Belohnung des Vorgehens der AKP-Regierung gegen die Proteste verstanden werden. DIE LINKE in Deutschland ist gefordert ihre Solidarität mit den Demonstranten in der Türkei zu manifestieren und die Strategie der Bundesregierung, das System Erdogan weiter mit allen Mitteln zu unterstützen, zu konterkarieren.