Erklärung Öcalans zum 1. Mai in Zürich

Das Zürcher 1. Mai-Komitee hatte den Repräsentanten des kurdischen Volkes Abdullah Öcalan als Gastredner für die 1. Mai Demonstration nach Zürich eingeladen. Da Abdullah Öcalan noch immer auf der Gefängnisinsel Imrali gefangenen gehalten wird, schickte er eine Grußbotschaft, die auf der Demonstration verlesen worden ist.

Wir vertrauen auf das Zusammenleben der Völker in Frieden und Würde

Eines vereint all diejenigen, die aufstehen und auf die Straßen und Plätze strömen, um für ihre Würde zu kämpfen: die Hoffnung. Gerade deshalb hat die kapitalistische Moderne immer und immer wieder versucht, uns dort zu treffen, wo Hoffnung aufkeimte. Hoffnung war nie etwas, das das Volk in der Ferne suchen musste. Denn dies hat unser Widerstand, der schon lange die Grenzen unseres Volkes überwunden hat, mit den Kämpfen in Mexiko oder auf dem Tahrir-Platz gemeinsam: das Volk findet die Hoffnung bei sich selbst. Vielleicht ist die beste Botschaft, die wir heute, am 1. Mai, den Völkern der Welt senden können, unser Vertrauen, dass wir alle gemeinsam in Frieden und Würde leben können. Vergangenheit und Gegenwart lehren uns, dass etatistische und elitäre Gemeinschaften auf der Welt in der Minderheit sind und wir, die Mehrheit, in Wort und Tat Keime des Aufstands tragen.
Mit Eurer Einladung unterstützt Ihr den Kampf des kurdischen Volkes für Gleichheit und Frieden. Wir werden auf diese Botschaft antworten, indem wir unsere Region aus den Händen der Eliten befreien und anstelle Ungleichheit eine egalitäre, demokratische Moderne aufbauen. Jeder Schlag gegen die Werktätigen in einem Land irgendwo auf der Welt verwundet uns alle mit gleicher Heftigkeit. So war es stets in der Geschichte. Unser politischer Kampf, den wir mit langem Atem geführt haben, zeigt jedoch auf, wie ein Volk sein Schicksal ändern kann, wenn es im Denken und Handeln geeint ist.
Aufgrund meiner gegenwärtigen Situation kann ich heute nicht bei Euch sein. Das heißt jedoch nicht, dass der kurdische Aufstand nichts mit Euch zu tun hat. Ganz im Gegenteil: es zeigt wie notwendig es ist, dass die ArbeiterInnen und Arbeiter und alle politischen Bewegungen der Welt, die auf der Seite der Werktätigen stehen, gemeinsam und solidarisch handeln. Der Kapitalismus und der Nationalstaat sind verantwortlich für zahlreiche Massaker und Genozide. Der beste Weg, diese Geschichte zu beenden, ist es, den Kampf dagegen gemeinsam und frei auf die Straßen und Plätze der Welt zu tragen. Ich möchte daran erinnern dass dieser Kampf viele Bereiche umfasst und der Weg noch weit ist; vom Kampf für Frauenbefreiung und die Gleichheit der Geschlechter, Migrantenrechte und bessere Arbeitsbedingungen bis zum Kampf gegen Arbeitslosigkeit, Leiharbeit und den Rassismus. Ihr seid heute freiwillig auf den Plätzen, um der Geschichte des Kapitalismus, der Massaker, Genozide und des überkommenen Nationalstaats eine radikale Wende zu geben und eine neue Geschichte zu schreiben. Ich grüße Euch alle an diesem 1. Mai im Geiste des Widerstands.
Abdullah ÖCALAN