Liebe FreundInnen,

im Anhang schicken wir Euch die deutsche Übersetzung des Briefes von Selma Irmak, in dem sie der BDP und ihren FreundInnen ihre Entscheidung mitteilt, am 15. Februar in den Hungerstreik zu treten.
Wir werden den Brief auch in der kommenden Ausgabe des CENî Infos veröffentlichen.

Viel Erfolg & Serkeftin!


Meine werten Co-Vorsitzenden,

Meine lieben FreundInnen,

Ich grüße Euch mit Liebe und Sehnsucht. Ich umarme Euch in Hoffnung.
Bald dauert unsere Trennung seit drei Jahren an. Wir haben diese atemberaubenden Entwicklungen vom Gefängnis aus miterlebt und beobachtet; unsere Herzen pochten gegen die Eisengitter. Wir haben Vieles erlebt. Die Geschichte wird Zeuge unserer Erfahrungen sein. Genauso wie Ihr kämpfen wir dafür, diese Prüfung, mit der uns die historischen Bedingungen konfrontieren, zum Wohle unseres Volkes zu bestehen. Wir schätzen und unterstützen Eure ernsthafte und eifrige Arbeit. Wir leiten unsere Kraft davon ab, Euch zu beobachten; manchmal mit einem Lächeln im Gesicht und manchmal mit einem Stechen im Herzen. Dies sind zweifellos schwierige Zeiten. Wir alle sind verpflichtet, hart zu arbeiten und unser Bestes zu tun. Bestimmte Momente in der Geschichte machen schnelle Handlungen nötig. Ansonsten verpassen wir die Gelegenheiten, Niederlagen in einen Sieg und Verluste in einen Gewinn zu verwandeln. Wir befinden uns genau in solch einem Moment, in dem jedes Ereignis und jede Entwicklung sorgfältig abgewogen und mit großer Sensibilität bewertet werden müssen, damit die folgenden Schritte richtig geplant und erfolgreich durchgeführt werden können.
In unserer jetzigen Phase ist der Abstand zum Erreichen unseres Ziels von Demokratie und Frieden am geringsten geworden und deshalb kann jede Abweichung vom richtigen Pfad die größten Auswirkungen mit sich bringen. Wir müssen alles mit künstlerischer Vorsicht behandeln. Leider jedoch handeln die Regierung und der Staat – wobei sich beide in ihrer Bedeutung und Absicht nicht mehr voneinander unterscheiden – ebenso unverantwortlich und zerstörend wie ein Elefant im Porzellanladen. Die Vorgehensweise der Regierung zeugt von der Art und Weise derjenigen, die zwar an der Macht sind, jedoch keine Souveränität besitzen. Folglich gibt es kaum Zweifel, dass die gegenwärtige Rücksichtslosigkeit der Regierung durch Mächte verursacht wird, auf die sie sich verlässt und die ihr den Rücken streicheln, während sie sie dabei an den Abgrund des Todes führen.
Als diejenigen, die wir die Last der Geschichte auf unseren Schultern fühlen, müssen wir dieser Einstellung ein Ende setzen. Eine positivistische Perspektive, die sich aus stereotypischen Urteilen ernährt und die stereotypische Lösungen anbietet, wird nichts nutzen. Diejenigen, die denken, dass ein kleiner Fisch vom großen Fisch gefressen wird, sind diejenigen, die die Stärke des Widerstands nicht anerkennen. Wie Ihr es bereits ausgedrückt habt, wenn wir uns dem Vorgehen der Mächtigen ausliefern, dann werden wir verlieren. Leider sind wir lange von den Machthabern hingehalten worden. Wir haben keine mehr Zeit zu verlieren. Ohne Widerspruch zwischen unseren Worten und Taten müssen wir langsam, systematisch und bescheiden unsere demokratische Autonomie aufbauen.

Meine lieben FreundInnen,
Ich wünschte mir sehr, dass ich in diesen Zeiten bei Euch sein könnte. Alle Geschehnisse mit gebundenen Händen oder eher mit angelegten Handschellen zu beobachten, ist das Schlimmste, was einem Menschen in diesen Zeiten angetan werden kann. Das ist es, was die Gefangenschaft bedeutet. Ansonsten haben die Gefängnismauern oder die räumlichen Beschränkungen für diejenigen, die eine freie Meinungen und freie Herzen haben, keine Bedeutung. Andererseits landen diejenigen, die sich mit ihrem Leben und ihren Ideen in den Dienst der Freiheit und Demokratie gestellt haben, zu der einen oder anderen Zeit immer wieder im Gefängnis. Mit anderen Worten, die Demokratie wird auf dem Weg durch das Gefängnis erreicht.
Die kurdische Frage hat einen Punkt erreicht, an dem nur ein demokratischer Prozess, der auf Dialog und Verhandlungen basiert, Frieden und eine Lösung bringen kann. Wir sind bewusst, dass dies ein langer und schwieriger Prozess sein wird. Seit nunmehr dreißig Jahren fordert unser Volk eine demokratische Lösung. Diese Forderung zu erfüllen, ist sowohl leicht als auch schwierig. Eine demokratische Lösung kann nur durch einen Dialog mit dem Repräsentanten Herrn Öcalan erreicht werden. Jeder Friedensprozess braucht seine Akteure. Die Person, die unser Volk vertritt, ist Herr Öcalan; deshalb ist er die einzige Person, die im Namen unseres Volkes sprechen kann und der der Hauptakteur sein muss. Als gewählte VertreterInnen und PolitikerInnen unseres Volkes sind wir bereit, unsere Rolle in diesem Prozess zu einzunehmen. Wir sind dafür bereit, jegliches Risiko einzugehen und auch unser Leben dafür in die Waagschale zu werfen. Aufgrund der Unterbrechung des Friedensprozesses und der Verhandlungen mit Herrn Öcalan bin ich genauso ernsthaft besorgt wie Ihr. Die hiermit einhergehende, aufgezwungene Totalisolation von Herrn Öcalan soll ihn aus den politischen Prozessen ausschließen. Ich bin tief beunruhigt, über das, was wir `das Konzept des politischen Genozids gegen KurdInnen’ nennen. Seine Umsetzung durch Massenverhaftungen, Morde, Massaker, verbale und körperliche Gewalt wird zu noch mehr Feindschaft gegen sie führen und wird unsere beiden Völker dazu bringen, gegeneinander zu kämpfen.
Repressionen, Angst, Rechtsverletzungen und die Verhinderung der Meinungsfreiheit, rücksichtslose Beleidigungen und unverantwortliche Reden seitens der Regierung und des Staates säen zugleich die Samen der Wut bei den kurdischen Jugendlichen. Es gibt so viele Beispiele für solche unakzeptablen Verhaltensweisen wie die Glückwünschrede des Premierministers im Anschluss an das Massaker von Roboski oder die Rede des Innenministers, in der er erklärte, dass er keine kurdische Frage finden könne oder die Rede Stabschefs, in der er sich zur kurdischen Muttersprache äußerte. Alle unsere Stadtverwaltungen werden angegriffen; die MitarbeiterInnen unserer NGOs, PolitikerInnen, MitarbeiterInnen der Stadtverwaltung, BürgermeisterInnen, StudentInnen und Kinder werden verhaftet. Kein Mensch kann unter solchen Bedingungen ruhig schlafen.

Meine werten Co-Vorsitzenden,
Als eine Person, die von der ehrenhaften und willenstarken Bevölkerung von Şirnak gewählt wurde und als eine Frau, die durch die Ereignisse tief bewegt ist, kann ich demgegenüber keine passive Zuschauerin mehr bleiben. Da ich aller Ausdrucksmittel und -möglichkeiten beraubt wurde, bin ich verpflichtet, meinen Körper als ein Kommunikationsmittel einzusetzen.
Ich bedauere es, dass ich nicht die Möglichkeit hatte, Euch alle mit einzubeziehen und meine Entscheidung vorher mit Euch zu besprechen. Jedoch erlauben die Umstände das nicht. Ich will, dass Ihr wisst, dass ich in meinem Herzen immer bei Euch bin. Die Geschichte dieses Gefängnisses von Diyarbakır verpflichtet uns dazu, eine Führungsrolle im Widerstand zu spielen. Ich muss bekennen, dass ich in diesem Moment sehr aufgeregt und glücklich bin zu wissen, dass ich zumindest einigermaßen meine Verantwortung gegenüber meinem Volk erfüllen kann.
Ich ergreife diese Gelegenheit zu erklären, dass wir am 15. Februar gemeinsam mit Hacire Özdemir, Fadik Bayram, Ayşe Irmak, Leyla Deniz, Pınar Işık und Dirayet Taşdemir einen unbefristeten, rotationslosen Hungerstreik beginnen werden. Uns inspiriert das Wissen darüber, dass es die Gefangenen dieses Gefängnisses vor uns schafften, gegen die Finsternis der Militärjunta von 1980 Widerstand zu leisten und sie zu überwinden. Wir – als Frauen des Kerkers von Diyarbakır – möchten die Finsternis des 15. Februars durchbrechen, die die erzwungene Isolation des verehrten Herrn Öcalans und seinen Ausschluss vom politischen Leben symbolisiert.
Wir wollen mit unserer Stimme in die Stimme unseres Volkes einstimmen. Wir wollen auf Eurem Weg des demokratischen Widerstands zu Euch stoßen.

Wir hoffen, dass wir erfolgreich sein werden.

Wir alle senden Euch von Herzen unsere Liebe und viele Grüße

In der Hoffnung darauf, dass wir uns in Tagen voller Frieden und Freiheit wiedersehen.

15. Februar 2012

Selma Irmak
Gefängnis von Amed