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Amsterdam, 20. Februar 2002

Offener Brief

An die Presse und die demokratische Öffentlichkeit

  • Das Recht auf muttersprachlichen Unterricht ist ein universales Grundrecht
  • Die aktuellen Menschenrechtsverletzungen in der Türkei erregen unsere Besorgnis

Unter dem Motto "Unsere Muttersprache ist unsere Existenzgrundlage" reichten in den vergangenen Wochen mehr als 20.000 StudentInnen, Schulkinder und Erziehungsberechtigte in türkischen und kurdischen Städten Anträge auf die Einführung des Kurdischunterrichtes als Wahlsprache bei Universitäten, Schulen u.a. staatlichen Institutionen ein. Verschiedene Basisgruppen, Gewerkschaften, Intellektuelle und Künstler haben sich der Kampagne angeschlossen: In Istanbul forderte ein Zusammenschluss von 12 Frauenorganisationen in Briefen an den Staatspräsidenten, den Parlamentspräsidenten und das Erziehungsministerium die Ermöglichung der muttersprachlichen Ausbildung für kurdische Kinder. Elterninitiativen organisierten Pressekonferenzen, auf denen die Forderung "Unsere Kinder müssen ihre eigene Muttersprache angstfrei lernen können", erhoben wurde. Wie an der 19-Mayis-Universität in Samsun, überstellten in vielen Städten neben kurdischen Studierenden auch tausende arabisch-, tscherkessisch-, armenisch- und griechischstämmige StudentInnen ihre Anträge auf muttersprachlichen Unterricht an den türkischen Staatspräsident Ahmet Necdet Sezer.

Während diese Kampangne andauert und sich tagtäglich weiter ausbreitet, erregen die Reaktionen der staatlichen Stellen in der Türkei unsere ernste Besorgnis: Friedliche Kundgebungen vor Schulen und Universitäten werden von der Polizei gewalttätig aufgelöst; StudentInnen werden gruppenweise über Monate hinweg zwangsweise vom Unterricht suspendiert. Der Nationale Sicherheitsrat der Türkei wies alle staatlichen Institutionen an die Annahme von Anträgen zu verweigern und die AntragstellerInnen strafrechtlich zu verfolgen. Als Begründung hierfür wird angeführt, dass die Anträge auf die Einführung des Kurdisch-Unterrichtes als Wahlfach die Einheit der Türkei bedrohen würden, sie seien eine seperatistsche Bestrebung. Bislang wurden über 2.000 Menschen - SchülerInnen, StudentInnen, LehrerInnen und Erziehungsberechtigte verhaftet, gegen mehr als 100 Personen wurde Haftbefehl erlassen. Viele der Festgenommenen, einschliesslich Minderjähriger, berichten von Bedrohungen, Schlägen und Folter. Ihre einzige "Schuld" ist es, die legitime und legale Forderung nach Unterricht in ihrer Muttersprache gestellt zu haben.

Wie wichtig das Erlernen der Muttersprache für die gesunde Entwicklung eines Kindes ist, haben zahlreiche wissenschaftliche Untersuchungen bewiesen. Deshalb ist der muttersprachliche Unterricht für Kinder unterschiedlicher nationaler Herkunft seit Jahrzehnten integraler Teil des Schulsystems vieler europäischer Staaten. Ein Kind entwickelt mit dem Lernen seiner Muttersprache zugleich seine Denkfähigkeit, Wahrnehmungsfähigkeit, gedankliche und emotionale Ausdrucksfähigkeit.
Es entwickelt hierüber seine Beziehungen zu seiner Umwelt, gewinnt seine Persönlichkeit und Identität. Der Grad der Beherrschung der Muttersprache ist zugleich entscheident für den Lernerfolg beim Erlernen weiterer Sprachen.

Kinder von Bevölkerungsgruppen, denen diese Möglichkeit vorenthalten wird, neigen aufgrund der ungleichen Entwicklungschancen verstärkt zu Legasethenie und psycho-sozialen Verhaltensstörungen. Die Störung des natürlichen Entwicklungsprozesses eines Kindes wirkt sich auch nachhaltig auf seinen weiteren Lebensweg, seine Chancen im persönlichen und beruflichen Leben aus. Die Ursachen hierfür sind nicht bei dem Kind, sondern in einseitig ausgerichteten, mangelhaften Erziehungs- und Bildungswesen zu suchen. Im Erklärungsentwurf der Vereinten Nationen über die Rechte authochtoner Bevölkerungsgruppen aus dem Jahr 1998 heisst es:
"Die meisten Bildungssysteme, die den Kindern autochthoner Bevölkerungsgruppen zur Verfügung stehen, berücksichtigen die traditionellen und kulturellen Werte autochthoner Bevölkerungsgruppen nicht. Infolgedessen ist die Zahl der Analphabeten in autochthonen Gemeinschaften sehr hoch. Zudem haben autochthone Bevölkerungsgruppen im allgemeinen weniger Zugang zu konventioneller Bildung als die Allgemein Bevölkerung." Durch das "Recht, Bildungssysteme und -einrichtungen aufzubauen und zu kontrollieren, die in ihren eigenen Sprachen unterrichten", könne dieser Mangel behoben werden, heisst es weiter.

Das Recht auf muttersprachliche Bildung ist als ein universales, menschliches Grundrecht in zahlreichen internationalen Verträgen wie der Allgemeinen Erklärung der Menschenrechte; im Artikel 30 der Konvention über die Rechte des Kindes der Vereinten Nationen; in Abkommen der UNESCO; in der Europäischen Menschenrechtserklärung; den Kopenhagener Kriterien u.a. multilateralen Vereinbarungen rechtlich verbrieft. Auch die Türkei hat viele dieser Verträge unterzeichnet.

Die Kernbotschaft des Europäischen Jahrs der Sprachen 2001 lautete: "Sprachen lernen öffnet Türen - jeder kann es! (...) Um Menschen wirklich verstehen und ihre Kultur schätzen zu können, ist es notwendig ihre Muttersprache zu können." Diese Botschaft veranschaulicht, dass sich die Forderung nach kurdisch-sprachigem Wahlunterricht in keinerlei Hinsicht mit "Seperatismus" in Verbindung bringen lässt. Vielmehr befördert das Erlernen von Sprachen das Zusammenleben und die Freundschaft der Völker.
Warum soll ein international anerkanntes Grundrecht nicht auch für kurdische Kinder und StudentInnen gelten?

Warum sollen in der Türkei lebende türkische, arabische, tscherkessische, armenische, georgische, lasische und griechische Kinder nicht das Recht haben, die Sprache ihrer FreundInnen zu lernen?
Wir appellieren an alle staatlichen und zivilgesellschaftlichen Institutionen, an Gewerkschaften und Einzelpersonen, sich für die Einhaltung demokratischer und kultureller Grundrechte einzusetzten. Wir appellieren an Sie, ihre Besorgnis gegenüber den sich verstärkenden Menschenrechtsverletzungen in der Türkei mit Protestschreiben oder der Unterstützung dieses Offenen Briefes zum Ausdruck zu bringen.

Im Namen des Vorstandes der IVVS
A.K. Kowarsch