Die Presse, 19.03.2008

Türkei: Expertenbericht droht Ilisu-Damm zu sprengen

HEDI SCHNEID

Eine massive Verzögerung des Milliardenprojekts ist sicher. Kontrollbanken machen Druck auf Ankara.

Wien. Eines der spektakulärsten und umstrittensten Bauprojekte der Türkei, der 1,2 Mrd. Euro teure Ilisu-Staudamm am Tigris, droht zu platzen. Den Sprengstoff dazu liefert der kürzlich veröffentlichte Expertenbericht. Demnach ist die Türkei den 153 sozialen und ökologischen Auflagen, an deren Erfüllung die Exportkredit-Agenturen Deutschlands (Euler-Hermes), Österreichs (Kontrollbank) und der Schweiz (Serv) ihre Finanzgarantien geknüpft haben, nur teilweise oder gar nicht nachgekommen.

In diesen Tagen soll das Urteil über den Staudamm fallen: Vertreter der Kontrollbanken verhandeln in Ankara mit der türkischen Regierung. „Es ist für uns entscheidend, dass die Türkei verbindlich zusichert, dass sie die Auflagen erfüllen kann“, sagt Kontrollbank-Sprecher Peter Gumpinger der „Presse“. Sei die Zeit bis zum geplanten Baubeginn im Mai nicht zu knapp? Man gehe davon aus, dass nach der Erstellung des Berichts Ende 2007 schon einiges geschehen sei, meint Gumpinger. Dass sich der Zeitplan verschiebe, sei fix. Das sei bei so großen Projekten üblich.

Gumpinger macht allerdings klar, dass es von Seiten der Türkei „konkrete Maßnahmen“ geben müsse. Und wenn nicht? „Sie können davon ausgehen, dass – so sich nichts bewegt – Mechanismen anlaufen, die in letzter Konsequenz die Fälligstellung der Kredite bedeuten.“ Ein Ausstieg aus dem Vertrag, in dem die Kontrollbanken die Kredite von BA-CA, Deka-Bank und Société Générale für das vom österreichischen Maschinenbauer Andritz angeführte Konsortium besichern, ist möglich. Erst kürzlich hat Kontrollbank-Chef Rudolf Scholten betont, dass die 153 Auflagen eine „Mindestlatte“ seien. Es gebe „keinen Spielraum für Kompromisse“.

Der Maschinenbauer Andritz, der um 230 Mio. Euro Turbinen liefert, würde so wie die anderen Konsortiumsmitglieder Züblin, Alsthom und türkische Unternehmen einen Großauftrag verlieren. Allerdings hat Andritz Ilisu laut Konzernchef Wolfgang Leitner noch nicht im Auftragsbestand.

Für die Nichtregierungsorganisationen (NGOs), die den Staudamm massiv kritisieren, kann es nur den Stopp geben. „Mit dem Expertenbericht ist das Projekt Ilisu gestorben“, ist Ulrich Eichelmann von ECA-Watch überzeugt. Das 256 Seiten starke Papier zeigt in der Tat große Lücken auf:


•Zum Kulturpark, in den die vom Untergang bedrohten Kulturdenkmäler der antiken Stadt Hasankeyf übersiedelt werden sollen, existiert nicht einmal eine Studie.


•Was die Umwelt angeht, sind zwar Kläranlagen im Bau, sie entsprechen aber nicht den Standards. Untersuchungen zu den Auswirkungen des Staudamms auf Fauna und Flora gibt es nicht.


•Am schärfsten fällt das Kapitel Umsiedlung aus: Von 35 Auflagen seien nur neun teilweise erfüllt. Nicht einmal die genaue Zahl der von einer Umsiedlung betroffenen Menschen sei vorgelegt worden.

Die Suche nach neuem Land für Bauern sei nicht begonnen, die Infrastruktur nicht geschaffen worden. Eichelmann sieht die Kontrollbanken in der Zwickmühle: „Wenn sie zu ihren Aussagen stehen, das Projekt nur zu besichern, wenn die Auflagen erfüllt sind, müssen sie sofort aussteigen. Oder sie beugen sich wirtschaftlichen Interessen, das wäre ein fauler Kompromiss.“

("Die Presse", Print-Ausgabe, 19.03.2008)