St. Galler Tagblatt (CH), 13.03.2003

Strassburger Gericht kritisiert Öcalan-Prozess

Im Prozess gegen Abdullah Öcalan hat das türkische Sicherheitsgericht gegen die Menschenrechte des Angeklagten verstossen. Der PKK-Führer habe kein faires Verfahren bekommen, entschied gestern der Europäische Gerichtshof für Menschenrechte.

Jan Keetman/Istanbul

Öcalan war vor gut drei Jahren in einem streng abgeschirmten Prozess auf der Gefängnisinsel Imrali wegen Hochverrat zum Tode verurteilt worden. Nachdem das türkische Parlament die Todesstrafe abgeschafft hatte, wurde auch Öcalans Strafe in lebenslange Haft umgewandelt. Eine Begnadigung oder vorzeitige Haftentlassung, auch aus gesundheitlichen Gründen, ist ausgeschlossen. So wird der heute 53-jährige Öcalan bis an sein Lebensende als vermutlich einziger Häftling auf Imrali bleiben.

Die Richter rügten, dass Öcalan nach seiner Festnahme mehr als vier Tage lang keinem Haftrichter vorgeführt wurde. Weiter kritisierten die Strassburger Richter die Einschränkung von Öcalans Recht auf Verteidigung und die Teilnahme eines Militärrichters in der ersten Phase des Prozesses. Um genau dieser letztern Kritik zu entgehen, hatte das türkische Parlament noch während des Prozesses gegen Öcalan in aller Eile ein Gesetz geändert und die Militärrichter an den Staatssicherheitsgerichten abgeschafft. Der Europäische Gerichtshof befand diese nachträgliche Änderung jedoch nicht für ausreichend. Der Gerichtshof stellte aber fest, dass Öcalan weder gefoltert noch schlecht behandelt wurde. Seine Entführung aus Kenia wurde ebenfalls nicht als Menschenrechtsverletzung gerügt. Anders als sonst bei Verfahren vor dem Europäischen Gerichtshof für Menschenrechte wurde die Türkei, obwohl sie unterlag, nicht zu einer Entschädigung an ihren gefangenen Staatsfeind Nr. 1 verurteilt. Sie muss nur Öcalans Anwälte zahlen. Ankara kündigte Berufung gegen das Strassburger Urteil an.