junge Welt, 14.01.2003

Nick Brauns

Eiserne Fäuste

Der kurdische Schriftsteller Haydar Isik erinnert an die Zerstörung von Dersim vor 65 Jahren

Wenn gegenwärtig um den möglichen EU-Beitritt der Türkei verhandelt wird, erinnert sich kaum noch jemand an den Völkermord der türkischen Armee vor 65 Jahren an den Kurden von Dersim. Fast eine Viertelmillion Menschen wurden damals von der Armee niedergemetzelt, vergast, verbrannt. Ihre einzige Schuld war es, als Kurden geboren zu sein.

Mit dem jetzt auf deutsch in der Edition arArat erschienenen historischen Roman »Die Vernichtung von Dersim« erinnert der nach dem Militärputsch 1980 aus der Türkei zwangsausgebürgerte und heute in München lebende kurdische Schriftsteller Haydar Isik an den Schicksalswinter seines Volkes. Isik ist selbst ein Überlebender der Massaker. Geboren im Jahr 1937 rettete seine Mutter ihren einzigen Sohn in die Wälder.

»Vergeßt niemals dieses Massaker! Vergeßt niemals diesen Vernichtungsfeldzug! Erzählt euren Kindern von diesem Grauen!« Diese Mahnung an die Überlebenden des Genozids, in den Mund seines Romanhelden, des Dorfältesten Alibinat, gelegt, ist für den Schriftsteller Verpflichtung. Schon sein erster Roman »Der Agha von Dersim«, der ihn trotz sofortigen Verbots in der Türkei bekannt machte, widmete sich dem Schicksal der Dersim-Kurden. Dersim galt Mitte der 30er Jahre als die »letzte freie Burg« der Kurden in der Türkei. In den unzugänglichen Berghöhen waren die kleinen Bauerndörfer der Kontrolle des türkischen Staates weitgehend entzogen. Von den anderen Kurden waren die Dersimer durch ihren alewitischen Glauben, einen liberale Strömung des Islam, isoliert. So schwiegen die Dersim-Kurden auch, als die Armee gegen die anderen Kurden als »islamische Reaktionäre« vorging, oder sie kämpften wie die Romanfigur des Unteroffiziers Riza Tschausch sogar auf seiten des Staates.

»Dersim ist für die Türkische Republik eine Eiterbeule. Es ist absolut erforderlich, diese Eiterbeule zu operieren, bedauerlichen Vorfällen zuvorzukommen, die Gesundheit der Heimat zu erhalten« – mit diesen Worten erklärte die Regierung von Ankara im Dezember 1935 Dersim den Krieg. Ab 1936 wurde Dersim von der türkischen Armee attackiert. Dorfbewohner wurden angegriffen, kurdische Schulen geschlossen, das Wort »Kurde« und »Kurdistan« verboten. Auch der kurdische Name Dersim wurde bis heute durch den türkischen Namen »Tunceli«, das beutet »Eisenfaust«, ersetzt.

Gegen die einsetzende Repression bildeten sich innerhalb weniger Wochen starke kurdische Guerillaverbände, die in den Bergen erbitterten Widerstand leisteten. Geführt wurde der Aufstand für die Autonomie der Dersim-Kurden von dem Geistlichen Seyid Riza, bis dieser durch Verrat verhaftet und im November 1937 in Elazig hingerichtet wurde. Da die mit über 50000 Soldaten in der Region Dersim aktive Armee den Widerstand der Bauernguerilla nicht bezwingen konnte, ging sie im Winter 1937/38 zum Mord an der Zivilbevölkerung über. Ganze Dörfer wurden von der Armee umzingelt, die Männer auf dem Dorfplatz erschossen, Frauen und Kinder in ihren Häusern verbrannt. Wo es der Bevölkerung gelang, in Berghöhlen zu fliehen, mauerten die Soldaten die Höhleneingänge zu oder warfen Gasbomben hinein. Tausende Frauen stürzten sich von den hohen Felsen in den Fluß Munzur, um nicht von den Soldaten vergewaltigt zu werden. Nach dem Ende des Vernichtungskrieges gegen Dersim 1938 ließ die Regierung Hunderttausende Überlebende in andere Landesteile deportieren, weitere Zehntausende wurden dabei ermordet.

Im Zentrum von Haydar Isiks Roman steht das Schicksal der Bewohner des Dorfes Mergasur in Ost-Dersim. Der Schriftsteller versetzt den Leser zurück in jenen eisigen und blutigen Winter 1937/38. Die religiösen und sozialen Bräuche der Alewiten, ihre Liebe zu den »heiligen Bergen«, ihr Stolz und ihre Toleranz gegenüber Fremden werden farbenreich geschildert. Isik zeigt aber auch, wie die Feindschaft der Clans untereinander und die Kollaboration einzelner Bandenführer und Aghas mit dem Staat es der Armee leicht machten, den Widerstand der Kurden zu brechen. Im weiteren Verlauf konzentriert sich die Handlung auf das Schicksal des Mädchens Gule, das die Massaker überlebte und von einer türkischen Offiziersfamilie adoptiert wurde. Gule, die einen neuen türkischen Namen erhält und kemalistisch erzogen wird, ist ein Symbol für die Assimilierungspolitik des türkischen Staates gegenüber den Kurden. Als junge Frau wird sie Nacht für Nacht von den Albträumen des in ihrem Unterbewußtsein gespeicherten Genozids geplagt, bis sie von ihrer wahren Herkunft erfährt und in ihrem Adoptivvater den Mörder ihrer Familie erkennt. Und so, wie Gule zu ihrer kurdischen Identität zurückfindet und als Lehrerin nach Dersim geht, konnte die türkische Vernichtungspolitik bis heute nicht den Geist des kurdischen Widerstandes in Dersim auslöschen. »Gule ist mein Dersim«, kommentiert Isik seinen Roman.

* Haydar Isik: Die Vernichtung von Dersim. Edition arArat im Unrast Verlag, Münster 2002, 244 Seiten, 16 Euro