Frankfurter Rundschau, 26.07.2002

"Die Welt muss Israel zum Abzug bewegen"

Hamas-Sprecher Abu Schanab über die Intifada und die Möglichkeit eines Gewaltverzichts im Nahen Osten

Die geplante palästinensische Erklärung eines Gewaltverzichts ist null und nichtig, seitdem ein israelischer Kampfjäger in der Nacht zum Dienstag ein Wohnviertel in Gaza-Stadt angegriffen hat. 15 Zivilisten starben durch die Militäraktion. Die Issedin-al-Kassem-Brigaden der Hamas, der größten Islamisten-Organisation der Palästinenser, haben Rache geschworen. FR-Korrespondentin Inge Günther befragte Ismael Abu Schanab, Sprecher des politischen Flügels der Hamas und ingenieurswissenschaftlicher Dozent an der Islamischen Universität in Gaza, über vertane Chancen und künftige Strategien.

FR: Scheich Achmed Yassin, das spirituelle Oberhaupt der Hamas, hat nach dem israelischen Luftangriff auf einen Wohnblock in Gaza-Stadt gesagt, jetzt gebe es "keine andere Option mehr als ,Dschihad', den ,heiligen Krieg' ". Wie muss man das verstehen?

Abu Schanab: Es bedeutet, dass wir keine andere Wahl haben, als unser Volk gegen die israelische Aggression zu verteidigen, solange Scharon palästinensische Zivilisten töten lässt und zu keinem Abzug aus palästinensischen Gebieten bereit ist.

Das klingt, als würde die Hamas im Fall eines politischen Kurswechsels in Israel umdenken. Wie real waren denn tatsächlich die Gespräche unter den militanten Organisationen wie Hamas und Fatah-Tansim, einen Waffenstillstand zu deklarieren?

Das war ernst gemeint. Schließlich hat seitens der Hamas Scheich Yassin persönlich den Aufruf unterstützt. Scharon hat diese Chance zunichte gemacht und stattdessen mit dem Einsatz seines F-16-Kampfjets bewiesen, dass er nicht an Frieden glaubt. Dank der Arroganz seiner Macht, dank der amerikanischen Unterstützung und dem Wegschauen der Welt denkt er, sich internationaler Kritik entziehen zu können. Unsere Geduld ist jedenfalls vorbei.

Was ist jetzt das erste Ziel der Hamas? Ist es Rache?

Vergeltung ist nur eine Reaktion der Palästinenser, die sich angesichts des israelischen Terrors allein gelassen fühlen. Allerdings besteht die Möglichkeit eines Gewaltverzichts noch immer. Wenn Scharon die besetzten Gebiete aufgibt, haben die Palästinenser kein Interesse an Angriffen, welcher Art auch immer, gegen Israelis. Wir Palästinenser wollen nur frei und unabhängig auf unserem Land leben.

Für einen Hamas-Führer ist das eine ziemlich moderate Position. Denkt die Mehrheit ihrer Organisation wie Sie?

Ich drücke aus, was jeder Palästinenser sagt. Widerstand gegen die Besatzung, gegen israelische Soldaten und Siedler, ist eine natürliche Reaktion. Ob Hamas, Fatah oder andere Gruppierungen - uns eint ein Ziel: die Okkupation loszuwerden. Nebenbei wurde die Hamas erst nach Beginn der israelischen Besatzung gegründet. Und unser Hauptanliegen bleibt, unser Land zu befreien und einen palästinensischen Staat zu errichten.

Gibt es einen Austausch zwischen dem militärischen und dem politischen Flügel der Hamas, mit welcher Strategie das erreicht werden soll?

Die Mitglieder der Issedin-al-Kassem-Brigaden sind niemandem bekannt. Sie operieren im Untergrund. Kommandant Salach Schehada war eine Ausnahme, auch weil er lange in israelischen Gefängnissen einsaß.

Damit ist die Frage nach der Strategie nicht beantwortet.

Ohne bewaffneten Widerstand wird unsere Befreiung nicht gelingen. Ein Jahrzehnt hat die palästinensische Führung verhandelt. Trotzdem hat Israel weiter internationales Recht und UN-Resolutionen wie 242 (Land gegen Frieden, die Redaktion) missachtet. Mit der israelischen Besatzung verhält es sich wie mit einem Nagel im Holz. Es nützt nichts, dem Nagel zu sagen, er soll verschwinden. Ohne effektiven Druck wird das nicht passieren.

Bislang hat die Hamas das Gegenteil erreicht. Nach den palästinensischen Anschlägen im Frühsommer sind Israels Truppen in sieben autonome Westbank-Städte eingerückt. Auch in Gaza herrscht das Elend. Um in Ihrem Bild zu bleiben: Haben nicht die 22 Monate der bewaffneten Intifada dazu geführt, dass der israelische "Nagel" jetzt noch tiefer im palästinensischen "Holz" steckt?

Leider ja. Weil die internationale Gemeinschaft Israel erlaubt, seine Panzer gegen schutzlose Palästinenser einzusetzen. Dagegen wehren wir uns mit unterschiedlichen Methoden. Aber in dem Moment, als diese Methoden den Israelis wirklich wehtaten, regten sie sich über palästinensischen Terror auf und ignorierten, was sie uns mehr als 30 Jahre lang angetan haben. Wenn der Welt an einer Beruhigung in Nahost gelegen ist, muss sie Israel mit allem Nachdruck zum Abzug bewegen. Ich bin überzeugt: Der einzige Ausweg besteht darin, dass die internationale Gemeinschaft den Konfliktseiten eine politische Lösung aufzwingt.

Dennoch hat die Hamas neue Selbstmordattentate angekündigt, die ebenfalls internationalem Recht Hohn sprechen. Auch Amnesty International hat solche Terrorakte als Kriegsverbrechen bezeichnet. Kann die Hamas diese Einwände ignorieren?

Niemand rechtfertigt das Töten von Zivilisten. Aber da die Israelis sich nicht an humanitäres Recht halten, wäre es töricht, wenn wir es tun. Sobald ein Schiedsrichter die Regeln nicht durchsetzt, gehört Regelbruch zum Teil des Spiels.