HANDELSBLATT, 31.12.1999

Die Türkei kämpft gegen zunehmende Mängel in der Energieversorgung

Ankara entscheidet über Bau des ersten Kernkraftwerks

bce NICOSIA. "Machen wir uns zu Architekten einer künftigen Nuklearkatastrophe?", fragt das türkische Massenblatt "Milliyet". Denn an diesem Freitag will die türkische Regierung den Auftrag zum Bau des ersten Atomkraftwerks im Lande erteilen. Sie will damit ein drei Jahrzehnte währendes Tauziehen um eine Lösung der wachsenden Energiekrise des Landes beenden.

Intensive Proteste von Bürgern und Umweltschützern, Meinungsverschiedenheiten im politischen Establishment hatten zweimal zur Stornierung von Aufträgen und wiederholt zur Verschiebung einer endgültigen Entscheidung geführt. Zuletzt hatte sich die Regierung am 15. Dezember eine endgültige Frist für den 31. Dezember gesetzt. Türkische Energiekreise vertreten die Ansicht, wenn sich die Regierung wieder nicht zu einem Beschluss durchringe, verliere sie international an Glaubwürdigkeit.

1997 hatte der staatliche Stromproduzent "TEAS" Angebote von internationalen Konsortien zum Bau eines Atomkraftwerks bei Akkuyu, an der bei Urlaubern beliebten südöstlichen Mittelmeerküste, eingeholt. Drei Konsortien - geführt von der britischen Westinghouse Electric Co., die kanadische Gruppe "AECL" sowie das deutsch-französische Konsortium "NPI" - bewerben sich um den 5-Mrd.- $-Auftrag, der bis zum Jahr 2007 realisiert sein soll. Laut TEAS sind bereits alle technischen und finanziellen Vorbereitungen für den Baubeginn vollendet. "Die Entscheidung ist nun eine rein politische", betont ein TEAS- Sprecher.

Die Türkei kämpft gegen wachsende Energieprobleme. In den Großstädten Istanbul, Ankara und Bursa musste die Regierung jüngst wegen Mängel bei der Erdgasversorgung zu Rationierungen greifen. In Ankara löste das auch Probleme bei der Wasserversorgung aus. Die Industrie klagt ebenfalls über unzureichende Stromversorgung.

Experten schätzen, dass der Energiebedarf des Landes jährlich um 10 % wächst, in dem traditionell ökonomisch schwer vernachlässigten Südostanatolien dürfte er gar um 50 % steigen, wenn die Regierung Pläne zur raschen Industrialisierung in Angriff nimmt. Der Gaskonsum - derzeit 14 Mrd. cbm - dürfte sich nach Schätzungen der Regierung in fünf Jahren auf 46 Mrd. und bis zum Jahr 2010 auf 55 Mrd. cbm erhöhen. Ein mit dem Iran 1996 trotz heftiger amerikanischer Proteste abgeschlossenes Abkommen zur Lieferung von 3 Mrd. cbm turkmenischen und iranischen Erdgases konnte bisher wegen Verzögerungen bei der Errichtung eines Pipeline-Netzes in der Osttürkei noch nicht verwirklicht werden. Mit Russland verhandelt Ankara gegenwärtig über ein Projekt "Blauer Strom" zur Lieferung von 16 Mrd. cbm russischen Gases durch eine Pipeline unter dem Schwarzen Meer.

In politischen Kreisen Ankaras herrscht Uneinigkeit darüber, ob man sich in noch stärkere Abhängigkeit von dem großen Nachbarn begeben oder sich nicht doch vermehrt auf das von den Amerikanern geförderte Kaspische Pipeline-Projekt stützen soll, das Gas aus Turkmenistan in die Türkei transportieren wird.

In jedem Fall steht die Regierung unter massivem Druck, Investitionen im Energiebereich so rasch wie möglich voranzutreiben. Präsident Demirel sprach jüngst von 30 bis 40 Mrd. $, die das Land in den kommenden zehn Jahren benötige.

Heftige Proteste von Umweltschützern und Anrainern konnten einflussreiche Kreise der Energiewirtschaft und der Politik nicht in ihrer Überzeugung erschüttern, dass die Türkei mit ihrer expandierenden Wirtschaft und Industrie nicht auf Atomenergie verzichten könne. Sie weisen alarmierende Studien von Fachleuten zurück, die insbesondere vor dem Standort Akkuyu warnen. Eine von dem kanadischen Erdbebenexperten Buckthought durchgeführte Untersuchung warnt insbesondere vor der aktiven "Ecemis-Falte", die nur 20 bis 25 km südöstlich der Akkuyu-Bucht verläuft und das Potenzial für ein Erdbeben von einer Stärke besitzt, die bis zu 8,0 auf der Richterskala erreichen könnte.