Rheinpfalz, 30.12.1999

Kommentar

Zauberwort Avrupa

Von Hannes Barth - Avrupa - Europa: Das ist seit den osmanischen Reform-Sultanen im 19. Jahrhundert, dann seit den Jungtürken und erst recht seit dem Republik-Gründer Kemal Atatürk das Zauberwort für die Türkei.

In den sechziger Jahren, nach der Integration in die Nato und der Einbindung in den Westen rückte dieses Traumziel immer näher.

Atatürk hat einmal gesagt: "Es gibt mehrere Nationen, aber nur eine europäische Zivilisation" - und die Türkei sei Teil dieser Zivilisation. Das war der Leitsatz seit mehr als 70 Jahren. Doch einige Europäer tun sich bis heute schwer mit den Beitrittswünschen der Türkei zur Europäischen Union. Sie tun so, als gehöre die Türkei einer anderen Welt an. Doch warum hatte 1963/64 kein EWG-Gründungsmitglied Bedenken gegen das türkische Streben nach Europa, obwohl in den Römischen Verträgen auf das christliche Erbe Europas hingewiesen wurde? Warum betonte der damalige EWG-Kommissar Walter Hallstein sogar: "Die Türkei ist ein Teil Europas"? Ganz einfach, weil das, was heute als Schreckgespenst in der EU gesehen wird, nämlich die Freizügigkeit türkischer Arbeiter in Europa, damals erwünscht war - in Form von Gastarbeitern. 1997 allerdings bezeichneten konservative EU-Regierungen Europa als einen Klub christlicher Staaten. Dabei wurde auch die These des US-Wissenschaftlers Huntington von den "kulturellen Bruchzonen" unklar interpretiert. Huntington warnt zwar vor einem "Zusammenprall der Zivilisationen", aber er mahnt gleichzeitig zur Vorsicht - etwa bei Versuchen, westliche Werte auf andere zu übertragen. Wesentlich sei vielmehr, dass die Politik die Aufgabe wahrnehme, kulturelle Konflikte zu moderieren; andernfalls könne es zur Konfrontation kommen. Der Beschluss des jüngsten EU-Gipfels von Helsinki, der Türkei mit der Gewährung des Status' eines Beitrittskandidaten eine europäische Perspektive zu eröffnen, muss vor diesem Hintergrund gesehen werden. Die Türkei ist Brücke und Puffer zugleich - zwischen Abendland und Morgenland. Die deutsche Diskussion über die Türkei leidet an zwei Defiziten: strategisch und intellektuell wird manchmal zu kurz gedacht. So hat die neue internationale Konstellation die Rolle der Türkei auf dem Balkan, im Kaukasus, in Mittelasien und im Nahen Osten strategisch verändert. Ohne die Türkei ist Sicherheit in Europa, im Mittelmeerraum und im Nahen Osten kaum denkbar. Die Türkei sitzt nicht nur auf riesigen Wasserressourcen, sondern auch nahe an den großen Erdölvorkommen im Kaspischen Meer. In dieser Position ist sie für die Bewahrung der europäischen Wohlstandszone von enormer Bedeutung. Das intellektuelle Defizit betrifft die häufig aufgeworfene Fundamentalismusfrage beim Thema Islam. Dabei wird oft pauschalierend, ja Angst machend argumentiert. Mit dem Phänomen Religion tun sich manche Debattenredner offenkundig umso schwerer, je säkularer sie sich selbst politisch-geistig wahrnehmen. Bei der Türkei jedoch handelt es sich in Wahrheit um den einzigen laizistischen Staat im islamischen Kulturraum. Noch leidet die Türkei aber selbst an Defiziten, etwa bei der Wahrung der Menschenrechte oder beim Aufbau durchgängig demokratischer Strukturen. Bundesverteidigungsminister Scharping meinte kürzlich, in der Türkei sei "die Armee zu stark, die Demokratie zu schwach". Doch gerade das türkische Militär bemühte sich stets um gute Kontakte zum Westen. Und weil es keineswegs prinzipiell undemokratisch ist, war es für die Generale zu keinem Zeitpunkt fraglich, die Macht wieder an Politiker zurückzugeben. Auch das Offizierskorps wird herausgefordert, sich einer Gesellschaft anzupassen, die sich in einem Wandlungsprozess befindet. Ohne die Türkei ist eine umfassende Sicherheitsarchitektur in Europa und im Mittelmeerraum kaum denkbar. "Die deutsche Diskussion über die Türkei leidet an zwei Defiziten: strategisch und intellektuell wird manchmal zu kurz gedacht."