junge Welt, 30.12.1999

Warum helfen BRD-Gerichte dem türkischen Regime?

jW sprach mit Rechtsanwalt Ahmet Yüksel aus Istanbul, Prozeßbeobachter bei den Verfahren gegen die DHKP-C in der BRD

F: Ende November wurde in Hamburg der Anhänger der Revolutionären Volksbefreiungspartei-Front (DHKP-C) Ilhan Yelkuvan in einem fragwürdigen Indizienprozeß wegen Mordes zu einer lebenslangen Freiheitsstrafe verurteilt. Es sind weitere Verfahren gegen Sympathisanten der DHKP-C vor deutschen Gerichten anhängig. Auch in anderen europäischen Ländern werden Anhänger der Partei verfolgt. Wie kam es dazu?

Am Anfang machte es den Eindruck, als handele es sich um ganz alltägliche Strafverfolgungsmaßnahmen, die sich aber schnell als Vorwand entpuppten. Im Sommer 1997 wurden in der Bundesrepublik der später als Deutschlandverantwortliche der DHKP-C verurteilte Serafettin Gül und zwei seiner Genossen verhaftet. Kurz danach gab es eine großangelegte Festnahmeaktion gegen Anhänger der DHKP-C in Frankreich. Dort wurden bis heute im Zusammenhang mit Ermittlungen gegen die Front etwa 50 Menschen festgenommen. Zehn Anhänger der Partei sitzen zur Zeit noch in französischen Gefängnissen. In der BRD befinden sich neun Sympathisanten der DHKP-C in Haft.

F: Wie ist die Situation in anderen europäischen Ländern?

Dort verhielten sich die Behörden in der Vergangenheit zurückhaltender. In Frankreich gab es hingegen schon früher staatliche Angriffe gegen die DHKP-C. Die französische Polizei verhaftete 1994 den Vorsitzenden der Front, Dursun Karatas, und seine Begleiter an der Grenze bei der Einreise. Nach wenigen Monaten mußte die Justiz die Festgenommenen wieder freilassen. Nachdem der Vorsitzende der Front dann ins Ausland geflohen war, überzogen französische Gerichte Dutzende Anhänger der Partei mit Strafverfahren. Nur Deutschland arbeitete bei der Verfolgung sehr früh eng mit den französischen Dienststellen zusammen. Schritt für Schritt weitet sich nun die Repression auf die anderen europäischen Länder aus. In der Schweiz befindet sich ein Anhänger der Front in Haft, in Belgien sind es vier. Auch in Österreich werden Sympathisanten der Partei von staatlichen Stellen bedroht und eingeschüchtert.

F: Verbirgt sich hinter diesem Vorgehen eine zentrale Strategie?

In Frankreich wurden inhaftierte Anhänger der DHKP- C gemeinsam von Polizisten aus Frankreich, den Niederlanden, Deutschland und Belgien vernommen. Das zeigt die internationale Dimension.

Es gibt Anhaltspunkte dafür, daß die Fahndung momentan von deutschen Stellen koordiniert wird. Denn im Oktober dieses Jahres, kurz nachdem der mutmaßliche Funktionär der Volksbefreiungspartei, Nuri Eryüksel, auf Betreiben der deutschen Justiz in der Schweiz verhaftet wurde, versuchte der Bundesnachrichtendienst (BND) in Deutschland, Migranten aus der Türkei für Spitzeltätigkeiten anzuwerben. Die BND-Agenten behaupteten dabei, daß man nun die gesamte Führungsspitze der Partei festgesetzt habe und die DHKP-C damit zerschlagen sei.

F: Das Engagement des BND wirft die Frage nach einer möglichen Beteiligung der NATO auf.

Die DHKP-C kämpft ausschließlich in der Türkei bewaffnet, in anderen Ländern bedient sie sich legaler demokratischer Mittel. Das kann man in vielen Beschlüssen der Front nachlesen. Die deutschen Behörden wissen also sehr genau, daß diese Partei keine Gefährdung für die Innere Sicherheit der Bundesrepublik darstellt. Bei der Verfolgung spielen außenpolitische Interessen die zentrale Rolle. Wir gehen davon aus, daß die USA und die BRD der Türkei im Rahmen der NATO Beistand im Kampf gegen die Volksbefreiungspartei leisten.

In Belgien gab es bis zur aktuellen Verfolgungswelle keine Auseinandersetzungen des Staates mit Anhängern der Front. Die DHKP-C ist dort nicht wie in Deutschland verboten. Nun werden dort plötzlich Veranstaltungen der Partei ohne Begründung untersagt, und es kommt zu Festnahmen. Belgien wurde offenbar von außen dazu angehalten, die Verfolgung aufzunehmen.

Noch deutlicher wird der Zusammenhang zwischen der Repression gegen die Volksbefreiungspartei in der Türkei und in Europa an den Verfahren in der Bundesrepublik. Hier wird in den Anklageschriften der Bundesanwaltschaft und in den Gerichtsurteilen immer wieder der Kampf der Front gegen das türkische Regime erwähnt. Das geht so weit, daß ganz unverhohlen die Unterdrückung durch den türkischen Faschismus gerechtfertigt wird.

F: Aber hierzulande werden doch nur Straftaten verfolgt, die in Deutschland begangen worden sein sollen.

Nach offizieller Lesart ja, aber die tatsächliche Verfolgung geht weit darüber hinaus. Der in der Schweiz inhaftierte und auf seine Auslieferung nach Deutschland wartende Nuri Eryüksel hat nach dem Militärputsch von 1980 in der Türkei elf Jahre in verschiedenen Gefängnissen verbracht. Jetzt wird dem dort fast erblindeten Mann die dringend benötigte Hilfe verweigert. Eryüksel befindet sich in der Schweiz in Isolationshaft, da ihn die Bundesanwaltschaft in Karlsruhe als extrem gefährlich einstuft.

Und dem zur Zeit in Hamburg angeklagten Europasprecher der DHKP-C, Mesut Demirel, wird vom Gericht auch seine Tätigkeit in der Türkei als Redakteur der Zeitung Mücadele vorgehalten. Der Journalist hat mehr als zehn Jahre in türkischen Gefängnissen gesessen. Jetzt soll seine legitime politische Tätigkeit als linker Journalist und Pressesprecher mit dem Stigma des Terrorismus belegt und verfolgt werden. Es gibt gar keine konkreten Vorwürfe gegen Mesut Demirel. Er ist angeklagt wegen psychischer Beihilfe zum Terrorismus. Das ist absurd.

F: Warum ist gerade die DHKP-C diesen Angriffen in Europa ausgesetzt?

Die DHKP-C ist Teil der fundamentalen Opposition. Sie konnte ihren Kampf in der Türkei trotz heftiger staatlicher Verfolgung weiterentwickeln und hat auch unter den türkischen und kurdischen Migranten in Europa an Einfluß gewonnen. Die Türkei ist eine Neokolonie der westlichen Industrienationen, die mit allen Mitteln ihre Interessen in der Region durchsetzen wollen. Sie ist von strategisch besonderer Bedeutung als Brücke zum Nahen Osten und als Aufmarschgebiet der NATO für ein mögliches Eingreifen in die Konflikte des Kaukasus. Auch deshalb soll jede revolutionäre, antiimperialistische Perspektive in der Türkei im Keim erstickt werden.

Interview: Jörg Hilbert