Frankfurter Rundschau, 28.12.1999

Türken bilden an vielen Orten eine ethnische Subkultur

Wie sich die hessischen Bündnisgrünen ein Integrationskonzept für Einwanderer vorstellen

Einwanderung ist eine kulturelle Bereicherung, aber sie ist auch mit Problemen verbunden. Vor dem Hintergrund der Unterschriftenkampagne der CDU im Winter vor einem Jahr gegen eine erweiterte Lösung für eine doppelte Staatsbürgerschaft haben Bündnis 90/Die Grünen im Hessischen Landtag ein Jahr später nun ihr Integrationskonzept unter dem Titel "Integration in Hessen" vorgelegt. Wir dokumentieren das Papier in einer gekürzten Fassung.

I. Einleitung (. . .) Integration bedeutet Anstrengungen für Deutsche und Nichtdeutsche. Auf beiden Seiten ist die Bereitschaft zur Interaktion und Veränderung gefordert: für Migranten und Migrantinnen allerdings die größere, da sie sich wegen des Verlassens ihres Kulturkreises größeren Veränderungen stellen müssen. Migration und Integration sind Prozesse, die Zeit und Rahmenbedingungen brauchen. (. . .)

Integrationspolitik in unserem Sinne will erreichen, dass sich viele der hier dauerhaft lebenden Menschen einbürgern lassen. Dies gilt in erster Linie für den Teil der Menschen, die eine europäische Staatsbürgerschaft, wie wir sie anstreben, nicht erlangen können. Vermehrte Einbürgerung von Nicht-EU-Bürgern hat zum Ziel, gleiche demokratische Rechte für möglichst viele Einwohner/innen der Bundesrepublik zu erreichen.

Integrationspolitik muss sich auch neu darauf einstellen, dass in Zukunft hier Geborene Deutsche sind - mit ausländischer Herkunft, was bedeutet, dass nicht alle Probleme mit dem neuen Staatsbürgerschaftsrecht gelöst sind. Integrationspolitik nach unserem Verständnis bezieht die hier in den letzten Jahren zu uns gekommenen Aussiedlerinnen und Aussiedler mit ein. Sie besitzen zwar von Anfang an den deutschen Pass, kommen jedoch aus einem anderen Kultur- und Wertesystem.

Die Geschichte der Migration

Die Geschichte der Migration zeigt, dass Zuwanderungen auch vor der Gründung der Bundesrepublik Deutschland immer schon stattgefunden haben und auch heute noch stattfinden. Die letzten 30 Jahre der Wanderungsbewegungen nach Deutschland sind durch drei Phasen geprägt: 1960 bis 1973 mit der Anwerbung ausländischer Arbeitnehmer, 1973 bis 1988 mit der Phase der Familienzusammenführung bei beschlossenem Anwerbestopp und ab 1988 durch die Öffnung der Grenzen nach Osteuropa.

Auf Grund der demographischen und wirtschaftlichen Entwicklung wurden in der ersten Phase ausländische Arbeitskräfte, vor allem ungelernte und angelernte junge Männer, in der Regel mit kurzer oder befristeter Aufenthaltserlaubnis, angeworben. In Deutschlang ging man davon aus, dass diese Arbeitsmigranten wieder in ihr Heimatland zuückkehren würden. So lebten bereits 1973 rund 3,9 Millionen Migranten in Deutschland.

Der Anwerbestopp, 1973 für die Nicht-EG-Länder erlassen, ging einher mit einer kontinuierlichen Zuwanderung von Familienangehörigen.

Die dritte Phase der Zuwanderung ist zum einen auf politische Verfolgung, Bürgerkriege und gesellschaftliche Umbrüche in den Herkunftsländern und auf ökonomisch motivierte Armutswanderungen vor allem aus ost- und nichteuropäischen Ländern zurückzuführen.

Seit dieser letzten Phase der Zuwanderung sind die Aufnahmebdingungen für die jeweils unterschiedlichen Zuwanderungsgruppen bezüglich aufenthalts-, sozial- und arbeitsrechtlicher Rahmenbedingungen in großem Maß ausdifferenziert worden. Dies führt entsprechend zu ungleichen Lebensbedingungen und Integrationschancen der unterschiedlichen Migrationsgruppen.

Die mittlerweile in Deutschland lebende Gruppe der Migranten ist also sehr heterogen. Trotzdem ist festzuhalten, dass die meisten in Deutschland lebenden ausländischen Einwohnerinnen aus den früheren Anwerbeländern (Türkei, ehemaliges Jugoslawien, Italien, Griechenland, Spanien, Portugal, Marokko, Tunesien) kommen. Sie sind vom Strukturwandel der Wirtschaft - Abkehr von der gewerblichen Produktion hin zum Dienstleistungsbereich - besonders betroffen.

Derzeit leben in Deutschland knapp 7,5 Millionen Menschen mit ausländischem Pass (9 Prozent), davon in Hessen Ende 1996 rund 763 000, d. h., rund 12,7 Prozent der hessischen Wohnbevölkerung hat keinen deutschen Pass. Mehr als die Hälfte der Einwanderer in Hessen lebt im Rhein-Main-Gebiet.

Aussiedlerinnen und Aussiedler

Von 1950 bis 1998 hat Deutschland insgesamt 3,9 Millionen Aussiedlerinnen und Aussiedler aufgenommen, die Hälfte von ihnen ist erst in den letzten zehn Jahren eingereist. Bis Mitte der neunziger Jahre kamen sie vor allem aus Polen, der ehemaligen Sowjetunion und Rumänien, seit 1996 zu 98 Prozent aus den GUS-Staaten. (. . .)

Seit 1992 sind in Hessen rund 98 000 Aussiedlerinnen und Aussiedler zugewandert. 39 Prozent der Zugezogenen sind unter 20 Jahre alt, etwa gleich viel zwischen 20 und 45 Jahren, nur 11 Prozent sind über 60 Jahre alt.

40 Prozent der in Übergangswohnheimen lebenden Aussiedler erhalten Leistungen nach dem Bundessozialhilfegesetz. Die Arbeitslosenquote der Aussiedlerinnen und Aussiedler liegt hessenweit bei 3,5 Prozent sehr niedrig - allerdings mit einer breiten Streuung (Arbeitsamtsbezirk Korbach: 11 Prozent), wobei eine separate statistische Erfassung nur 5 Jahre erfolgt.

Da es innerhalb Hessens keine Verteilungsverordnung gibt, sondern Aussiedlerinnen und Aussiedler auch bei Sozialhilfebezug sich ihren Wohnort frei wählen können, sind in Hessen "Aussiedlerballungsräume" entstanden, vor allem in Nordhessen (Landkreis Kassel, Landkreis Fulda, Waldeck-Frankenberg, Schwalm-Eder, Marburg-Biedenkopf), die erhebliche Sozialhilfebelastungen der dortigen Kommune zur Folge haben.

Obwohl sich die Zuwanderungszahlen erheblich reduziert haben - so kamen nach Hessen im Jahr 1995 noch 15 000 Aussiedlerinnen und Aussiedler, mittlerweile sind es noch halb so viel -, haben sich die sozialen Probleme verschärft. Die veränderten Rahmenbedingungen, wie größere Probleme auf dem Ausbildungs- und Arbeitsmarkt allgemein, Abnahme der Akzeptanz von Zuwanderung insgesamt, Wohngebiete mit hoher Aussiedlerkonzentration, punktuell sozial auffälliges Verhalten jugendlicher Aussiedler, geringere Sprachkenntnisse und zunehmend ein kultureller Abstand der Familien bedingen, dass die Probleme bei der Integration zugenommen haben.

II. Was verstehen wir unter Integration

Unabhängig von den Fragen des Staatszugehörigkeitsrechtes und anderer grundsätzlicher Haltungen, die auf Bundesebene angegangen werden müssen, haben die Länder, die Städte und die Kommunen eigenständige Integrationsbemühungen vorzunehmen. Wir können feststellen, dass unter dem Stichwort "Integration" fast von jeder Gruppierung, die sich an der Diskussion beteiligt, unterschiedliche Auffassungen existieren, wie Integration aussehen soll, welche Ziele sie verfolgen muss.

Wir, die Grünen, fordern grundsätzlich den Perspektivenwechsel in allen gesellschaftlichen Bereichen, von der Negierung des "Fremden" über das "Vorübergehende" zur Akzeptanz der Anwesenheit des "Fremden" als gesellschaftliche Normalität.

Integration ist diesem Verständnis nach mehr als ein bloßes Nebeneinander von Menschen. Ziel muss eine Kultur des Respekts und des gleichberechtigten Miteinanders sein. Es bedeutet aber auch, dass in unserer Gesellschaft für alle hier Lebenden die verbindende Grundlage die im Grundgesetz festgelegten Rechte und Pflichten sind, auf deren Basis Verschiedenheit akzeptiert werden kann. Unterschiede müssen wahrgenommen und ausgehalten werden. Diese Sicht unterscheidet uns von denjenigen, die unter Integration das Verschwinden der eigenen Herkunft und damit Identität verstehen.

Auf dem Hintergrund eines offeneren Umgangs mit Integrationswünschen und Integrationsproblemen ist in einer Öffentlichkeitskampagne mit den Ängsten der deutschen Bevölkerung vor den "Ausländern" einerseits und der Isolation der nichtdeutschen Bevölkerung andererseits offensiv umzugehen.

Die Hessische Landesregierung sollte das Amt des Aussiedlerbeauftragten in ein Amt eines Integrationsbeauftragten umwandeln, um gezielte Aufklärung, Öffentlichkeitsarbeit und Kampagnen für Integration und gegen Rassismus zu betreiben. Dazu gilt es für die verschiedensten Bereiche Programme zu entwickeln.

III. Zum Stand der Integration

Mit dem Kompromiss im Staatsbürgerschaftsrecht ist ein erster wichtiger Schritt getan, die rechtliche Situation in der Bundesrepublik zu verbessern. Es war wichtig und notwendig, im Staatsbürgerschaftsrecht den Abstammungsgrundsatz des "ius sanguinis" um Elemente des Geburtsortsprinzips (ius soli) zu ergänzen. Jedoch sind veränderte Rechtslagen allein nicht ausreichend, eine grundsätzliche Änderung in den Einstellungen und dem Verhalten der Aufnahmegesellschaft gegenüber den im Land befindlichen Minoritäten zu bewirken. Die bundesrepublikanische Gesellschaft hat bereits erste Schritte gemacht. Die jetzt zu verstärkenden Bemühungen beginnen nicht bei Null.

Tatsächlich werden mittlerweile von vielen Menschen Wanderungsbewegungen innerhalb der EU als Selbstverständlichkeit angesehen. In der öffentlichen Diskussion nimmt der Fakt, dass wir die Zuwanderer auch weiterhin brauchen, immer größeren Stellenwert ein. Die nichtdeutschen Arbeitnehmer tragen zu den sozialen Systemen Kranken- und Rentenversicherung viel bei. Auf Grund der unterschiedlichen Kulturen und Traditionen werden Zuwanderungen von Nicht-EU-Bürgern allerdings mit größerer Skepsis begegnet. Aufgrund ihrer kulturellen Herkunft ergeben sich spezifische Probleme, die es zu bewältigen gilt.

In Praxisberichten und Forschungsarbeiten wird immer wieder darauf hingewiesen, dass mangelnde Deutschkenntnisse die Integration ausländischer Schülerinnen und Schüler behindern.

Dies setzt sich in der Schwierigkeit bei der Wohnungssuche, bei der Suche nach einem Arbeitsplatz verstärkt fort. Besonders bei den Türken ist das Dienstleistungsgewerbe mittlerweile so ausgeprägt, dass fast alle Dinge des alltäglichen Lebens erledigt werden können, ohne ein Wort Deutsch sprechen zu müssen. Durch Satelliten-TV werden Nachrichten/ Unterhaltungssendungen in der Muttersprache (besonders aus der Türkei) verbreitet. Dies reduziert den Anreiz, Deutsch zu lernen, sehr stark.

Die Folgen sind bekannt: Ein sozialer Aufstieg in der deutschen Gesellschaft - in der Regel abgeleitet von höher qualifizierten Jobs - ist deutlich erschwert. Im Zuge des gesellschaftlichen und wirtschaftlichen Wandels, der sich seit den 70er Jahren in Deutschland vollzogen hat, der steigenden Arbeitslosigkeit und des sinkenden Bedarfs an an- und ungelernten Arbeitskräften sind die Anforderungen an die sprachliche Kompetenz und die berufliche Qualifikation von Migranten gestiegen.

Die "Integration" in Deutschland ist durch die Versäumnisse der Vergangenheit zumindest in den Großstädten eher in einer Entwicklung/Ausprägung zu einer "Parallelgesellschaft". Man kann sagen, dass entgegen den Erwartungen in der dritten Generation ein verstärkter Rückzug in die ethnischen Nischen stattfindet. Die türkische Kultur bildet an vielen Orten bereits eine ethnische Subkultur.

Eine Überwindung der Abschottung dieser Parallelkulturen muss ein zentrales Ziel der Integration sein.

Migrantenfamilien, Kinder und Jugendliche nichtdeutscher Herkunft, Aussiedler dürfen deshalb nicht nur unter dem Blickwinkel des Defizitären betrachtet werden, sondern die Kompetenzen, die sie mitbringen - z. B. das Leben in zwei Kulturen, die Zweisprachigkeit - müssen als Bereicherung gesehen werden. Migrantenfamilien sollten nicht nur betreut werden, sondern die Chance erhalten, sich aktiv am gesellschaftlichen Leben zu beteiligen. Dafür hat die Politik die Rahmenbedingungen zu gestalten.

Der erste Schritt für ein neues Staatsbürgerrecht ist durch das Gesetz zur Reform des Staatsangehörigkeitsrechtes bereits vollzogen. Vor allem die hier lebenden Kinder und Jugendlichen brauchen für ihre Lebensperspektive Rechtssicherheit. Als nächster Schritt muss das restriktive Ausländerrecht novelliert werden.

Auch für die in den letzten Jahren zugezogenen Aussiedlerinnen und Aussiedler ist ein wesentliches Integrationsverhinderungsmoment die mangelhafte Sprachkenntnis. Die seit 1996 verpflichtenden Sprachtests im Herkunftsland sind nur von Antragstellern zu absolvieren. Der Anteil der Aussiedlerinnen und Aussiedler, die aus abgeleitetem Recht des BVFG zuziehen und infolgedessen keine Sprachtests absolvieren, ist von 28 % im Jahr 1993 auf 66 % im Jahr 1998 gestiegen. Diese ZuwanderInnen haben in der Regel keine Vorkenntnisse in der deutschen Sprache.

Vor allem die Lebenssituation der jugendlichen Aussiedlerinnen und Aussiedler ist als extrem desintegriert zu bezeichnen: Viele Jugendliche wollten gar nicht umsiedeln, sie sprechen kein oder mangelhaftes Deutsch, untereinander nur russisch, die Dauer der Eingliederungssprachkurse, um sich hier in einem neuen Leben zurechtzufinden, ist zu kurz, und das knappe Angebot auf dem Lehrstellenmarkt führt bei vielen zu Frustration und Perspektivlosigkeit.

1. Sprachkompetenz

Für eine Integration ist es erforderlich, sich in einer Sprache gemeinsam verständigen zu können. Dies gibt die Möglichkeit, soziale Benachteiligungen zu beseitigen, schulische, berufliche und gesellschaftliche Erfolge zu erreichen.

Deshalb ist es notwendig, dass Nichtdeutsche und Spätaussiedler bei der Einwanderung, in der Schule, im Beruf die deutsche Sprache erlernen. Es muss sogar erwartet werden, dass die Bereitschaft zum Spracherwerb aufgebracht wird, bei der Einwanderung sollte der Spracherwerb verpflichtend sein. Die Bedingungen für die Möglichkeiten muss der Staat schaffen: in ausreichender Zahl und Dauer Sprachkurse anbieten bzw. finanzieren, damit die Sprache auch tatsächlich gelernt werden kann.

Als Beispiel sei hier die Niederlande genannt: Dort sind der Besuch einer Schule mit den Hauptfächern Sprachunterricht, Gesellschaftskunde und berufliche Bildungsangebote für alle zugewanderten Sozialhilfe-Empfänger bereits Pflicht. Dazu gehört ein breites Angebot von Beratungen. Die Besuchspflicht soll auf alle Zuwanderer ausgedehnt werden. Die Sprachkenntnisse der Spätaussiedler müssen ebenfalls durch Überprüfung der Qualität der angebotenen Kurse und Sicherstellung der Teilnahme verbessert werden.

2. Rechtliche Gleichstellung

Ausländer sind vom Wahlrecht auf Bundes- und Landesebene ausgeschlossen. Nicht-EU-Angehörige haben überdies kein Wahlrecht auf kommunaler Ebene. Die Wahrnehmung des Wahlrechtes als staatsbürgerliches Recht ist ein entscheidender Faktor der Integration. Deshalb muss das Wahlrecht zumindest auf kommunaler Ebene auch für Drittstaatler ermöglicht werden.

Zu überlegen ist die Aufhebung von Beschränkungen einiger Grundrechte auf Deutsche, um zu einer Rechtsangleichung zu kommen. (Art. 11 Freizügigkeit; Art. 12 Freiheit des Berufes). Oder die Erweiterung des Art. 33 Abs. 2 (Zugang zu öffentlichen Ämtern). Es gilt einen Bürgerbegriff zu entwickeln, der nicht nur die jeweiligen Staatsangehörigen, sondern auch die dauerhaft in einem Land lebenden Personen umfasst.

Das Ausländergesetz kann die Probleme des Zusammenlebens nicht lösen, ein Einwanderungsgesetz würde in vielen Fällen Klarheit schaffen und den Einwanderern Sicherheit geben. Eine klare Trennung zwischen Einwanderung und Asyl ist notwendig:

- Wir wollen ein Einwanderungsgesetz, mit klaren Zuzugsregelungen

- Notwendig ist ein eigenständiges Aufenthaltsrecht für nachgezogene Ehegatten

- Ungeachtet dessen gewährt die Bundesrepublik politisch verfolgten Menschen Asyl.

Ungleichbehandlungen finden sich auch im Bereich des Arbeits- und Sozialrechts wieder: So besagt bspw. der § 48 der Handwerksordnung, dass Mitglieder des Meisterprüfungsausschusses Deutsche sein müssen. Auch ist es beispielsweise für Nichtdeutsche nicht möglich, bestimmte Berufe wie die des Psychotherapeuten auszuüben. Ebenso ist nicht mehr vertretbar, dass in Deutschland nur Deutsche Schöffen sein können. Deshalb müssen alle diesbezüglichen Gesetze und Bestimmungen auf ihre Diskriminierungen gegenüber Nichtdeutschen durchforstet und geändert werden.

Strafgesetzliche Maßnahmen sind ein Ansatz, um Diskriminierungen zu bekämpfen. Es besteht aber Handlungsbedarf für ein Antidiskriminierungsgesetz. Dies würde eine klare, einheitliche Regelung für den Bereich der ethnischen Diskriminierung schaffen und somit die Anwendbarkeit der Normen für Justiz und Rechtspflege wesentlich erleichtern. Aus gesellschaftspolitischer Sicht könnte der Gesetzgeber mit einem Antidiskriminierungsgesetz den Beweis erbringen, dass er mit allen ihm zur Verfügung stehenden Mitteln Diskriminierung nicht nur seitens der staatlichen Gewalt, sondern auch seitens Dritter, die der Staatsgewalt unterworfen sind, zu verhindern sucht.

3. Familie

Genauso wenig, wie es die deutsche Familie gibt, gibt es die ausländische Familie. Und doch ist das Leben vieler Migrantenfamilien durch besondere Problematiken gekennzeichnet, mit denen deutsche Familien nicht oder weniger konfrontiert sind.

Ein unsicherer Rechtsstatus auch nach langjährigem Aufenthalt, das restriktive Ausländerrecht und die eingeschränkten Arbeitsmöglichkeiten vor allem für Nicht-EU-MigrantInnen haben gravierende Auswirkungen auf die betroffenen Familien. Die einschränkende Gesetzeslage bietet ihnen geringe Planungssicherheit und hat Auswirkungen auf ihre Integrationsfähigkeit. Hinzu kommt das "kalte Erwachen der Einwanderer und Migranten im Märchenland", also die Erwartungsenttäuschung, dass doch alles nicht so rosig ist, wie man es erhofft hat. Dem folgt oft das sich Einrichten in ethnischen Gruppierungen, die ersatzweise Sicherheit und Halt bieten sollen.

Viele Migrantenfamilien haben besondere generationsübergreifende Probleme, die Väter und Mütter sind häufiger von Erwerbslosigkeit betroffen, und fast dreimal so viel Migrantenfamilien liegen unterhalb bzw. an der Armutsschwelle. Jugendliche nichtdeutscher Herkunft leben und leiden oft - auch wenn sie bereits hier geboren sind - in zwei sich teils widersprechenden Kulturen. Es gilt aber auch hier, dass Generationenkonflikte, soziale Benachteiligungen, kulturelle Schranken bei der Integration vieler Familien zu Problemen führen. Generationenkonflikte sind in vielen Familien vorhanden, die mit professioneller Hilfe überwunden werden können.

a) Familienbildungsstätten und Mütterzentren sind informelle Orte, an denen Begegnungen über Nationen und Kulturen hinweg möglich sind. Dies dient vor allem dazu, Frauen aus der Isolation herauszuführen, und stärkt die Sprachkompetenz.

- Bildungsangebote sollen auf regionale und kulturelle Bedürfnisse zugeschnitten sein.

- Eine finanzielle Absicherung muss gewährleistet sein.

b) Gesundheit und Pflege

- Die Landesregierung soll Projekte unterstützen, die die gesundheitliche und medizinische Betreuung von MigrantInnen berücksichtigen. Hierbei ist besonderer Augenmerk auf die religiösen Aspekte und die kulturellen Unterschiede zu legen.

- In Kooperation mit den im Gesundheitsmarkt agierenden Institutionen und Projekten sind Konzepte zu entwickeln, die vor allem Probleme der Pflege von alten MigrantInnen aufgreifen.

c) Wohnen

Besondere Beachtung erfordert die Kumulation der Probleme in einzelnen Wohngebieten. Diese können entstehen, wenn Kindertagesstätten, Schulen, Jugendzentren überwiegend nur noch von nichtdeutschen Gruppen besucht oder genutzt werden und dadurch sehr reduziert am "deutschsprachigen Alltag" teilnehmen. In dieser Hinsicht sind bei der Zuweisung von Wohnungen im sozialen Wohnungsbau die Hindernisse für eine Integration zu berücksichtigen. Es müssen gerade im Hinblick auf den Erwerb von Sprachkompetenz und anderer Integrationsbemühungen Handlungsvorschläge erarbeitet werden, die in folgenden Bereichen greifen:

- Wohnraummodernisierung, Wohnumfeldverbesserung

- soziale Stadtteilerneuerung

- integrierter Ansatz von Angeboten der Sozial- und Jugendarbeit

- Aufbau von Selbsthilfenetzen.

- Verbesserung der Förderung sozialorientierter Maßnahmen am Wohnort, Einbeziehung von Kommunen mit hohem Aussiedleranteil in das Projekt "Soziale Stadt".

4. Kinder und Jugendliche

Untersuchungen belegen, dass sich sowohl Jugendliche nichtdeutscher Herkunft als auch jugendliche Aussiedler in unserer Gesellschaft in hohem Maße unsicher und nicht angenommen fühlen.

Sie reagieren teilweise mit einem Rückzug in eine relativ abgeschlossene Migrantenkultur, der zu Ausgrenzung führen kann. Andere reagieren mit Destruktivität gegen sich selbst oder andere. Dies reicht von Orientierungslosigkeit zu massiven Schulschwierigkeiten, Ausbildungsabbrüchen, Hinwendung zu fundamentalistischen religiösen und nationalistischen Gruppen, Sucht, Gewalttätigkeit und Kriminalität, führt aber auch zu gesundheitlichen Problemen, wie psychischen oder psychosomatischen Beschwerden.

Jugendliche aus Migrantenfamilien fühlen sich oftmals auch im Freizeitbereich ausgegrenzt, zum Beispiel weil sie aus materiellen Gründen an bestimmten Freizeitaktivitäten nicht teilnehmen können. Viele wünschen sich mehr Kontakte zu anderen.

Cliquenbildung und Rückzug in ethnische Gruppen verhindern den Kontakt zu anderen Jugendlichen. Aus diesem Grund müssen gemeinsame Orte und Aktivitäten helfen, Brücken zu bauen.

Die Landesregierung soll folgende Projekte initiieren:

- Kooperation von Jugendhilfe und Schule unter dem Blickwinkel der Förderung von interkulturellen Schülerclubs als Freizeitangebot

- Unterstützung von Maßnahmen der Jugendlichen in Stadtteilen mit besonderem Erneuerungsbedarf

- Förderung von integrationsorientierten Sportangeboten für zugewanderte Jugendliche

- Geschlechtsspezifische Freizeitangebote für jugendliche ZuwanderInnen

- Erarbeitung von Leitlinien in der Jugendhilfe, die die besonderen Lebensverhältnisse zugewanderter Jugendlicher berücksichtigt

- Erhalt der sozialpädagogischen Förderung von Kindern und Jugendlichen in Übergangswohnheimen.

Die Bereitschaft zur Anwendung von Gewalt durch einige Gruppen Jugendlicher gerade im schulischen Umfeld und die dadurch gestiegene Kriminalität (Bandenbildung) dürfen nicht verschwiegen werden. Aber wie bei deutschen Jugendbanden hat diese Tatsache denselben Ursprung/Grund: Diese Jugendlichen sind in der Regel heute ohne berufliche und gesellschaftliche Perspektive, ohne eine gesicherte Zukunft. Es wäre die Aufgabe der örtlichen Präventionsräte, sich dieses Problems gezielt anzunehmen. An die Landesregierung ist die Forderung zu stellen, das erfolgreiche "Jugendaktionsprogramm gegen Gewalt" wieder aufzulegen.

5. Kindertagesstätten

Hessische Kindergärten werden proportional von weniger ausländischen Kindern besucht als von deutschen. Im Schuljahr 1996/97 wurden über 11 Prozent der schulpflichtigen Kinder nicht eingeschult, ausländische Kinder sind hiervon überproportional betroffen. In den Lehrplänen für ErzieherInnen ist das Thema "Interkulturelle Erziehung" kein Gegenstand der Ausbildung. In den Kindergärten sind wenige ausländische Erzieherinnen, die ein positives Vorbild für eine Integration sein können, Erfahrungen weitergeben und gezielt Elternarbeit leisten können.

- Der Kita-Besuch von Kindern aus Zuwandererfamilien muss durch Motivation und Information der Eltern erhöht werden.

- Die Sprachkompetenz der Kinder in der deutschen Sprache muss gezielt bereits im Kindergartenalter gefördert werden.

- Es müssen verstärkt Anstrengungen unternommen werden, ausländische ErzieherInnen in Kindertagesstätten einzusetzen. Dies sollte u. a. durch gezielte Informationen an ausländische Jugendliche bzw. den Ausbildungsmöglichkeiten in Schulen geschehen.

- Interkulturelle Kompetenz muss Bestandteil der ErzieherInnenausbildung und der Fortbildung werden.

6. Schule

15,6 Prozent aller hessischen SchülerInnen sind Nichtdeutsche. Nur 9,7 Prozent der ausländischen Jugendlichen machen in Hessen Abitur. 41 Prozent der ausländischen Schülerinnen und Schüler machen den Hauptschulabschluss, 23,6 Prozent von ihnen verfügen über keinen Schulabschluss. Die ausländischen Schülerinnen und Schüler gehören über 150 Nationalitäten an. Prognosen (Ausbildungsreport Hessen) sagen aus, dass der Anteil von Schulanfängern nichtdeutscher Herkunft bis zum Jahr 2010 auf 28 Prozent ansteigen wird.

Die Zahl der ausländischen Schüler/innen in den verschiedenen Schulformen der allgemeinbildenden Schulen steigt unterschiedlich. Zuwächse verzeichnen die Realschulen, Gymnasien und die Integrierte Gesamtschule, an der Förderstufe stagniert die Zahl der ausländischen Schüler/innen seit 10 Jahren.

Von den ausländischen Schüler/innen der allgmeinbildenden Schulen in Hessen besuchten im Schuljahr 1996/97 76 Prozent Schulen im Regierungsbezirk Darmstadt, 13 Prozent im Regierungsbezirk Gießen und 11 Prozent im Regierungsbezirk Kassel. An Frankfurter Schulen werden allein 21 Prozent aller ausländischen Schüler/innen an allgemeinbildenden Schulen in Hessen unterrichtet.

Schülerinnen und Schüler nichtdeutscher Herkunft müssen gezielte Förderung zur Entwicklung ihrer Sprachkompetenz in Deutsch erhalten. Die gesonderte Sprachvermittlung für ausländische Schülerinnen und Schüler muss nicht nur beibehalten, sondern ausgebaut werden, auch in Form von Vorlaufkursen. (. . .)