Süddeutsche Zeitung, 27.12.99

Hier geht die Sonne zweimal auf

Flucht und Feuer, Massaker und Mord: "Salman", ein autobiografischer Roman von Yasar Kemal

Yasar Kemal ist der bedeutendste türkische Schriftsteller der Gegenwart - und auch der produktivste. Keiner seiner Übersetzer schaffte es, Schritt zu halten mit dem großen anatolischen Barden. Bis zu zwanzig Jahren hinkt die deutsche Fassung seiner Romane oft Jahren dem Original herher. So auch bei seinem schon 1980 erschienenen autobiografischen Roman "Yagmurluk kusu" (Regenvogel), der nun unter dem Titel "Salman" auf deutsch herausgekommen ist. Zwischen "Salman" und seinem ersten großen Wurf "Ince memed/Memed mein Falke", durch den er in den Fünfzigerjahren international bekannt wurde, liegen dreißig Jahre - Jahre, in denen in rascher Folge die meisten seiner Romane entstanden sind: der Memed-Zyklus, die "Anatolische Trilogie", die "Ararat-Legende" und das "Lied der tausend Stiere" - um nur die wichtigsten zu nennen.

In all diesen Romanen hat Yasar Kemal die Cukurowa - ein Land von melancholischer Schönheit zwischen Taurus und Mittelmeer - in der ganzen Vielfalt ihrer multiethnischen "Menschenlandschaft", ihren Märchen, Mythen und Legenden aus dem Sagenkreis der Turkmenen besungen. Mit der Magie seiner Sprache hat er dieses Stück Erde (das alte Kilikien, wo der Apostel Paulus geboren und Cicero römischer Präfekt gewesen ist) zu seiner literarischen Heimat gemacht und damit eine im Wandel der Zeiten längst verschwundene archaische Welt hinübergerettet ins Universum der Weltliteratur. Im Grunde hat er sein Leben lang nur an einem einzigen großen Buch geschrieben, das diesem Reich seiner Kindheit gewidmet ist. Mit "Salman" kehrte er noch einmal dorthin zurück, diesmal, um seine eigene Geschichte zu schreiben - eine Geschichte, die eng mit der Tragödie der Menschen Anatoliens im zwanzigsten Jahrhundert verbunden ist: mit der Flucht und Vertreibung ganzer Völker aus ihrer Heimat.

Yasar Kemals Eltern stammten aus dem Kernland der Kurden, aus einem Dorf bei Van. Als die russische Armee zu Beginn des Ersten Weltkriegs Ostanatolien besetzte, flohen die Menschen vor den plündernden und mordenden Horden durch die mesopotamische Ebene nach Süden: "Hunderttausende zogen schwärmenden Heuschrecken gleich durch Dörfer und Städte . . . Weder Hungertod, noch Seuchen noch Massaker konnten diese Springflut von Menschen eindämmen. Wie entfesseltes Wildwasser schwoll dieses Heer der Nackten, die Tag für Tag mit ihren Todesklagen die Ebenen, die Berge und Schluchten erfüllten, immer weiter an. Und in ihrem Nacken Feuer und Kanonendonner . . . So irrten sie in panischer Angst, zerlumpt und hungernd, durch den weiten Südosten Mesopotamiens."

Nach ihrer einjährigen Irrfahrt wurde die Familie in der Cukurowa angesiedelt - in dem felsigen Dorf Hemite, aus dem kurz zuvor die Armenier vertrieben worden waren. Dort wurde Yasar Kemal geboren. Dort spielte sich auch - Jahre später - jene Familientragödie ab, die zur schlimmsten Erfahrung seiner Kindheit gehört: der Mord an seinem Vater, der vor den Augen des kaum Fünfjährigen in der Dorfmoschee geschah. Der Mörder war ein junger Mann namens Yusuf, den die Familie als Kind auf der Flucht aus Van dem Tode nahe am Wegesrand gefunden und später adoptiert hatte. Das Rätsel, das diesen Mord umgab, hat Yasar Kemal sein Leben lang beschäftigt. Niemand im Dorf konnte sich erklären, warum dieser geliebte und verwöhnte Adoptivsohn seinen Wohltäter ermordet hat, der ein hochangesehener, großmütiger Mann war und fast sein ganzes Vermögen an Arme und Hilfsbedürftige verschwendet hatte.

Er holt die Adler vom Himmel

Das Schicksal seiner kurdischen Familie und dieser Mord sind der biografische "Stoff", der dem Roman zu Grunde liegt. Der Anti-Held ist Salman - ein scheuer, schweigsamer Bursche mit blonden Igelhaaren, breiten Schultern und krummen Beinen, der die Adler mit seiner Flinte scharenweise vom Himmelt holt, es heimlich im Stall mit dem rotbraunen Stutfohlen treibt, den Jungvögeln die Hälse umdreht, die Dorfkinder in Todesängste versetzt und schließlich den einzigen Menschen, den er abgöttisch liebte und dem er sein Leben verdankte, aus Eifersucht erstach. Die Ehe seiner Adoptiveltern war lange Zeit kinderlos geblieben. Mit der Geburt des ersehnten eigenen Sohns - Yasars, der im Roman Mustafa heißt - bahnt sich das Drama an.

Doch bevor es - auf der letzten Seite - zu dem mysteriösen Mord kommt, verlässt der Erzähler den Boden des authentisch belegten Geschehens. Der Rest ist Fiktion - ein wildes Szenario aus Mutmaßungen, Gerüchten und absurden Geschichten, die man sich im Dorf erzählt. In dieser Melange aus dedikodu (Tratsch), Hass und verschmähter Liebe fließen Traum und Wirklichkeit zusammen, entfaltet Yasmar Kemal den ganzen Reichtum seiner überbordenden Phantasie und sein großes Einfühlungsvermögen in die Psyche seiner Protagonisten.

Der Leser erlebt bei der Lektüre so manches Déjà-vu, begegnet immer wieder den Archetypen, die man aus früheren Romanen kennt - wie etwa dem blutsaugerischen Grundbesitzer, dem Aga, der - wieder einmal - von den ausgebeuteten Tagelöhnern mit Kind und Kegel in seinem Haus verbrannt wird. Und auch das Leitmotiv des Romans, die Angst und ihre Überwindung, ist ein Thema, das Yasar Kemal seit seinem Kindheitserlebnis mit der Höhle nie wieder los ließ. Es zieht sich - seit "Ince Memed" - durch sein gesamtes Werk. Alle in Salmans Dorf haben Angst. Jeder vor Jedem. Und nicht nur die Menschen . . . nein, "auch die Bienen, die Vögel, die Schmetterlinge, die Adler dort oben, die Heuschrecken, die Ameisen - sie alle haben Angst."

Yasar Kemal ist ein Meister der Wiederholung. Doch dieser Wiederholungszwang ist nicht - wie etwa bei Thomas Bernhard - bewusst eingesetztes Stilelement. Es ist, als ginge seine obsessive Lust zu fabulieren, Geschichten zu erzählen hin und wieder mit ihm durch. Dann kommt es schon einmal vor, dass es auf ein und der selben Seite dreimal "vor Schlangen wimmelt", die Adler um die Berge kreisen . . . und kreisen . . . und kreisen und (einem ondit zufolge), selbst die Sonne zweimal am Tag aufgehen kann. Doch Yasar Kemal kann sich das leisten. Er steht in der Tradition der großen Volkssänger Anatoliens und seine epische Sprache ist von geradezu homerischer Gewalt.

Was zudem mit so manchen Überlängen des Romans durch die vielen "Geschichten in der Geschichte" immer wieder versöhnt, sind seine Naturbeschreibungen - Bilder von großer lyrischer Ausdruckskraft und Schönheit, die in der deutschen Fassung nicht verloren gegangen sind. Ärgerlich ist allerdings der häufig durchschlagende Berliner Jargon des Übersetzers, der aus anatolischen Bäuerinnen "Muttchens" macht, das rotbraune Fohlen "strullen" oder "pullern" lässt, während die Dorfjugend "Bangemachen spielt" und "sich kloppt". Ausdrücke wie "Mann o Mann" oder "du meine Fresse" passen schlecht ins türkische Ambiente - und auch im Alemannischen "tönt" das nicht. Der Verlag hätte daher gut daran getan, derlei "Berlinismen" auszumerzen. Nichtsdestoweniger, "Salman" ist eine Lektüre für lange Winterabende - und diese stehen uns ja bevor.

ERDMUTE HELLER

YASAR KEMAL: Salman. Aus dem Türkischen von Cornelius Bischoff. Unionsverlag, Zürich 1999. 500 S. 48 Mark.