taz 27.12.1999

"Ich wäre lieber gestorben"

Über einen Monat nach dem zweiten verheerenden Erdbeben in der Türkei hausen viele Überlebende in Zelten. Gegen die klirrende Kälte gibt es nur heißen Tee

Aus Düzce Jürgen Gottschlich

Der größte Feind ist die Kälte. Danach kommen der Regen, der Schlamm und der Nebel, aber am schlimmsten ist die Kälte. Sie dringt auch durch drei Pulloverschichten, kriecht in die Zelte, macht die tägliche Hygiene zur Qual und bestimmt so den gesamten Tag und die Nacht sowieso. Am schlimmsten ist es zwischen ein und vier Uhr morgens. Es ist so kalt, dass viele Leute aus ihren Zelten kriechen und versuchen, sich durch Bewegung etwas aufzuwärmen.

Mustafa ist gar nicht erst schlafen gegangen. Zusammen mit etlichen anderen frierenden Männern steht er um einen Kleinbus, der zu einer mobilen Teestation umgebaut wurde und auf dem Marktplatz von Düzce Station bezogen hat. Hier wird die gesamte Nacht über heißer Tee gereicht. Wenigstens für einen Moment wärmt der von innen etwas auf und wenn man dann noch ins Plaudern kommt, gelingt es, die ganze Misere für einen kurzen Moment lang zu verdrängen.

Der 28-jährige Mustafa hilft beim Ausschank. Dafür kann er einen Container, den die Stadt Istanbul zusammen mit dem Teewagen nach Düzce geschickt hat, mitbenutzen und sich immer mal wieder für einen Moment ins Warme setzen. Einen anderen Platz um sich aufzuwärmen gibt es für Mustafa nicht mehr. Sein Haus ist während des zweiten großen Bebens, das einen Teil der Türkei am 12. November erneut erschütterte, zusammengebrochen. Seitdem hausen er und seine Frau in einem Zelt.

Düzce war das Zentrum des zweiten Bebens. Was nach den verheerenden Erdstößen im August noch stehen geblieben war, brach im November endgültig zusammen. Seitdem ist die Stadt, in der 80.000 Menschen lebten, zu 95 Prozent zerstört. Auf jedem freien Fleck steht nun ein Zelt, in dem sich die verbliebenen 30.000 Obdachlosen, die die Stadt noch nicht verlassen haben, drängen.

Während die Männer am Teewagen stehen, gellen plötzlich Schreie aus dem Dunkel. Ein Zelt hat Feuer gefangen,

taz Nr. 6026 vom 27.12.1999 "Eine Heldin bin ich nicht" Nach Jahren der Zensur und Repressalien schreibt die türkische Journalistin Yelda ihre türkeikritischen Texte aus dem Hamburger Exil - solange man sie noch lässt

Ihr kürzester Artikel hatte nur zwei Silben auf einer weißen Zeitungsseite: Yelda. Das reichte, um den Lesern der kurdischen Yeni Politika am 29. Juli 1995 zwei Geschichten zu erzählen. Die eine Geschichte ist die von dem staatlichen Zensor, der am Vorabend kurz vor Andruck an der Rotationsmaschine stand. Und drohte, die gesamte Auflage zu konfiszieren, falls Yeldas Rezension einer Ausstellung über Nomaden gedruckt werden sollte. Ihren skeptischen Text über die Situation ethnischer Minderheiten verstand er als Hetze gegen die muslimisch-türkische Mehrheit. "Aufwiegelung zum Rassenhass" heißt der Paragraph, dem sich Zeitungsleute in der Türkei in solchen Fällen zu beugen haben. Tun sie es nicht, sehen sie den Zensor vor Gericht wieder.

So wiederum ging es Yelda mit einem Artikel in der Wochenzeitung Söz zum 40. Jahrestag der Ausschreitungen gegen Griechen in Istanbul 1955, bei der rund 500 Menschen verletzt und 75 Kirchen und Klöster zerstört wurden. Die gesamte Auflage mit Yeldas Text wurde eingestampft, die Zeitung stand vor dem Ruin, die Redakteurin vor Gericht. Yelda entging nur knapp einer Gefängnisstrafe.

Ob sie damals jemals ans Aufhören dachte? "Ich?", fragt die kleine Frau und stemmt eine Hand in die Hüfte: "Der Staat soll aufhören, mir nachzustellen. Ich kann doch nicht aufhören, ich zu sein." Das ist die andere Geschichte, die Geschichte einer Autorin, die ihre Artikel und Bücher nur mit dem Vornamen zeichnet: Yelda.

Die Nachnamen, die die 37-Jährige einmal trug, gehören anderen: "Als ich vor zehn Jahren zu veröffentlichen begann, war ich gerade in Scheidung und wollte weder unter dem Namen meines Mannes noch unter dem meines Vaters schreiben." Yelda, erklärt sie, bedeute im Hebräischen "Tochter" und im Persischen "Lange Nacht". Im Namen der Türkei wollte sie auch nie schreiben, sie, die nicht Kurdin, Armenierin oder Jüdin ist, sondern eine muslimisch erzogene Türkin wie viele andere.

Die großen Zeitungen des Landes winken ab, wenn Yelda ihre Reports über die Sorgen von Minderheiten anbietet: "Sie mögen meine spitze Feder nicht", sagt die sommersprossige Frau, "ich schreibe nicht, was die Regierung lesen will."

Sie redet sich in Rage, empört sich über das Beziehungsgeflecht von Journalisten und Politikern in der Türkei, schimpft über Hetzkampagnen in türkischen Medien und ist schließlich bei der Geschichte, wie sie von Istanbul nach Hamburg flüchtete, in diese stille Zweizimmerwohnung, in der die Journalistin und Mitarbeiterin des türkischen Menschenrechtsvereins auch jetzt neben ihrem Computer hockt und türkischen Tee anbietet.

Ende des Jahres nun wäre ihr IHD-Stipendium von der Hamburger Stiftung für politisch Verfolgte ausgelaufen, kurz vor Weihnachten wurde es von der Organisation "Journalisten helfen Journalisten" bis Ende März verlängert.

"In Deutschland fühle ich mich wohl. In Istanbul bin ich bei jedem Telefonklingeln zusammengezuckt." Wenn die zierliche Frau von sich selbst redet anstatt von Politik, wird ihre Stimme ruhiger. "Ich habe jeden Tag mehr Angst bekommen", sagt sie und erinnert an die Tage nach dem Erscheinen eines Artikels in der nationalistischen Zeitung Türkiye vom 20. Juni 1998, in dem der Name Yelda nicht in der Autorenzeile, sondern in der Überschrift auftauchte.

Da stand, es sei Yeldas Schuld, dass die französische Nationalversammlung den Völkermord der Türken an den Armeniern im Jahr 1915 anerkannt hat. Denn sie, die Buchautorin zu diesem Thema, hatte kurz vor der Parlamentsdebatte in Paris auf einer Tagung der armenischen Gemeinschaft gesprochen und die Türken aufgefordert, sich ihrer Vergangenheit zu stellen.

Türkiye zitierte sie falsch mit der Aussage, die Armenier könnten heute türkisches Territorium beanspruchen. Yeldas entsetztes Dementi aber druckte weder Türkiye noch eine andere Zeitung. "Das Bedrohliche nach diesem Artikel war, dass gar nichts passierte. Deshalb musste ich das Land verlassen", sagt Yelda, als sei das Erklärung genug.

Was hätte denn geschehen müssen, um sie zu beruhigen? "Na,der Staatsanwalt hätte mir den Prozess machen müssen", meint sie, "aber ohne Verfahren ..."

In der Türkei wurden nach Angaben von Reporter ohne Grenzen 1998 neun Journalisten gefoltert, 1996 waren es sogar 38. Schätzungsweise 80 Prozent aller Übergriffe auf Journalisten gehen von Polizisten aus.

Yelda weiß, was Folter ist. Als sie einmal eine misshandelte Frau beherbergte, zeigte deren Mann sie wegen Frauenhandels an. Und die Polizei schien dankbar für die Gelegenheit, die Journalistin verhaften und ihre Wohnung und Computer gründlich durchsuchen zu können. Auf der Wache sei sie geprügelt worden, "bis mir das Trommelfell platzte", der Täter trotz eines Prozesses noch im Dienst, sagt sie gefasst und schaut kurz zu ihrem 14-jährigen Sohn, der auf dem Sofa unter seinen Iron-Maiden-Postern sitzt.

Und wenn man sie dann fragt, wie sie das alles aushält, zuckt Yelda die Achseln: "Was kommt, das muss man ertragen. Eine Heldin bin ich deshalb nicht." Aber eine Frau, die in der Türkei immer mehr in die Isolation geriet, die Ärger mit allen hatte - mit Frauenzeitschriften wegen ihrer Sympathie für die gavurlar, die ungläubigen Türken, mit den linken und den kurdischen Blättern wegen ihres Interesses an der jüdischen Minderheit und ihrer Kritik an der PKK.

Auch in Hamburg ärgert sich Yelda über Kollegen aus der Heimat. Sie hat ein Dossier zusammengestellt über antisemitische und fremdenfeindliche Schlagzeilen in den Deutschlandausgaben der türkischen Zeitungen. Die Autorin blättert in dem unveröffentlichten Manuskript, hebt ihre Stimme und zitiert: "Hürriyet zum Beispiel titelte im April: ,Im Vergleich zu den Serben sind die Nazis Engel' - ist das nicht unglaublich?"

Yelda hat kaum Hoffnung, in der Türkei als Journalistin arbeiten zu können. Vielleicht wird sie ihr Geld wieder mit dem Tippen fremder Texte verdienen. Dem Zensor würde das die Arbeit erleichtern.

Kia Vahland