Die Welt, 20.12.1999

Die Türken vor den Toren

Leitartikel von Michael Stürmer

Seitdem die EU-Staats- und Regierungschefs die Türkei in den Zustand des Beitrittskandidaten erhoben, verschwimmen die Grenzen Europas im wilden Kurdistan und in den Vorbergen des Kaukasus. Das ist, was immer die Maßstäbe sind, ein kühnes Unterfangen, ja ein existenzielles Wagnis. Es geht nicht nur um die Westorientierung der Türkei, die in der Zeit tiefer Re-Islamisierung eine Sache auf Biegen oder Brechen ist. Es geht auch um das Europäische an Europa, um die prekäre Balance zwischen Einheit und Verschiedenheit. Kein Club, kein Bündnis, keine Gemeinschaft kann existieren ohne organisierendes Prinzip von innen und Grenzen nach außen. Jenseits davon werden die Risse größer als die Klammern.

Was für Imperien gilt, gilt auch für Mega-Mergers, und was für diese gilt, gilt auch für Integrationssysteme wie die Europäische Union. Was schon die Osterweiterungen der kommenden Jahre unerbittlich erzwingen, ist die Entscheidung darüber, was in Zukunft noch Staat und nationale Identität in Europa bedeuten sollen und können. Die inneren und äußeren Gleichgewichte der Staaten stehen infrage, ja die Staaten selbst. Es geht um das, was sie im Innern und was ihren "Staatenverbund" zusammenhält.

Noch immer ist die EU weniger ein klares Gebilde und weit mehr ein Prozess - wenig gefestigt, definiert allein in der Wirtschafts- und Währungsunion. Diese umfasst indes nur elf der gegenwärtig 15 Mitglieder. Von der Sicherheitsunion im ernsten Sinne kann noch auf Jahre hinaus nicht ernsthaft die Rede sein. Die "dritte Säule" gar, Zusammenschluss der innenpolitisch wichtigsten Funktionen, ist in Amsterdam auf die Realität aufgelaufen, zu der nicht zuletzt die deutschen Bundesländer gehören.

Einen effizienten Managementmodus hat die Europäische Union bis heute nicht. Alle Bestrebungen zu mehr "Vertiefung" haben kaum mehr gebracht als die Erkenntnis, dass es so, wie es ist, nicht weitergehen kann: nicht mit den 15 von heute, schon gar nicht mit den 25 und mehr von morgen. Dabei war es von allem Anfang an klar, dass die gemeinsame Währung des gemeinsamen Politikrahmens bedarf, der den Sozial- und Steuerstaat in seinen Grundzügen umfasst. Jeder weiß, dass davon nur auf geduldigem Papier die Rede ist, nicht aber in der Realität.

Die Nationalstaaten haben viel aufgeben müssen. Aber Steuer- und Sozialstaat sind sie geblieben und auch Rahmen und Sitz der politischen Macht. Wer glaubt, das ließe sich durch eine irgendwie geartete Geschäftsordnung für Brüssel eskamotieren, gibt sich Träumereien hin. Die Idee gar, Europa sei reif für eine gemeinsame Verfassung, gehört in eine ferne Zukunft. Je heterogener aber Europa ist, desto ferner rückt diese Zukunft.

Alle strategischen Gründe sprechen dafür, die kemalistische, säkulare Türkei mit Europa eng und unauflöslich zu verbinden - unter der Voraussetzung indes, dass die Türkei eben diesen Staatscharakter beibehält. Der aber entstand aus den Agonien des Ersten Weltkriegs durch eine Revolution von oben, die bis heute einerseits die Modernisierung trägt, andererseits immer wieder zu sensiblen Beschwerden über raue Politiksitten Anlass gibt. Auch die seelisch-politische Rebellion der Islamisten geht auf dieses Geburtstrauma des modernen türkischen Staates zurück. Wer die Türkei zum Musterländle machen will, verkennt die historischen Kräfte, die da am Werk sind, oder er stellt Hürden auf, die die Türkei auf immer draußen halten. Solches Doppelspiel aber würde einen Preis haben: Frustration, Bitternis, Abwendung eines großen Volkes.

Es bleibt die Tatsache, die die Amerikaner besser begreifen als die Europäer, dass die Türkei 1990 wieder Zentrum des Großen Mittleren Ostens geworden ist, Bündnispartner Israels, Gegengewicht zu fundamentalistischen Kräften, Widerpart arabischer Diktaturen, Hüter des Bosporus. Die Europäer auf hohem Ross tun so, als hätten nur die Türken sich zu ändern. Sie sollten begreifen, dass sich Europa, wie es gegenwärtig ist, nur erweitern kann bei Strafe der Überlastung und des Zerfalls.

Jetzt stehen die Türken vor den Toren. Ihr Eintritt ist nur zu verkraften, wenn bis dahin Europa eine sehr variable Geometrie findet.